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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2025
26. Jahrgang
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1. Der Versuch der Ermittlungsbehörden, Zugang zu den auf einem Mobiltelefon eines Beschuldigten gespeicherten Daten durch zwangsweises Auflegen von dessen Finger auf den Fingerabdrucksensor zu erlangen, ist von § 81b Abs. 1 StPO in Verbindung mit §§ 94 ff. StPO als Ermächtigungsgrundlage jedenfalls dann gedeckt, wenn eine zuvor nach §§ 102, 105 Abs. 1 StPO richterlich angeordnete Durchsuchung gerade auch dem Auffinden von Mobiltelefonen dient und der beabsichtigte Datenzugriff trotz seiner Eingriffsintensität verhältnismäßig ist. (BGHSt)
2. Dient das zwangsweise Entsperren eines Mobiltelefons den Strafverfolgungsbehörden dazu, für die Zwecke strafrechtlicher Ermittlungen Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zu erlangen, ist der Anwendungsbereich der RL 2016/680/EU eröffnet. (Bearbeiter)
3. Die RL 2016/680/EU steht indes dem einwilligungslosen Entsperren eines Mobiltelefons mittels Fingerabdruck nicht generell entgegen. Die nach der RL 2016/680/EU zulässigen Einschränkungen des in Art. 8 GRC vorgesehenen Rechts auf Schutz personenbezogener Daten und des durch Art. 7 GRC geschützten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens sind im Einklang mit den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 GRC auszulegen. Bei einer Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen polizeilicher Ermittlungen zur Ahndung einer Straftat – wie einem Versuch, auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen – ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie einer anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GRC tatsächlich entspricht. (Bearbeiter)
4. Das zwangsweise Führen des Fingers auf den Fingerabdrucksensor eines Mobiltelefons, um Zugriff auf die darauf befindlichen Daten zu erlangen, ist eine Maßnahme von besonderer Eingriffsintensität. Dies folgt allerdings nicht schon aus dem Vorgang selbst; die Maßnahme geht nach ihrem äußeren Erscheinungsbild und dem damit verbundenen Eingriff in die körperliche Sphäre des Beschuldigten für sich genommen nicht mit erheblichen Belastungen einher. (Bearbeiter)
5. Dass der Körper des Beschuldigten dadurch, dass sein Finger als „Schlüssel“ zur Entsperrung des Mobiltelefons verwendet wird, zum Mittel der Überführung werden kann, verletzt nicht die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten. (Bearbeiter)
6. Der einwilligungslose Zugriff auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten stellt einen schwerwiegenden oder sogar besonders schwerwiegenden Eingriff in das Recht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sowie in die auch von Art. 7 und 8 GRC verbürgten Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens beziehungsweise auf Schutz personenbezogener Daten dar. (Bearbeiter)
7. Bei allen Maßnahmen, die mit einem Eingriff in höchstpersönliche Lebensbereiche verbunden sein können, kann und muss bei Vornahme der Ermittlungsmaßnahme – etwa bei der Durchsicht der auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten – die Gewinnung überschießender und vertraulicher, für das Verfahren aber bedeutungsloser Informationen im Rahmen des Vertretbaren vermieden werden, sofern nicht die Ermittlungen die umfassende Ausforschung der allgemeinen Lebensführung des Beschuldigten erfordern und sich eine solche Maßnahme unter Berücksichtigung der Schwere des Tatvorwurfs als angemessen erweist. Insoweit begrenzt die Beweiserheblichkeit im jeweiligen Einzelfall den zulässigen Umfang von
Ermittlungsmaßnahmen; die grundsätzliche Zulässigkeit einer Maßnahme, um sich Zugriff auf beweiserhebliche Daten zu verschaffen, wird dadurch nicht in Frage gestellt. (Bearbeiter)
8. Gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die zwangsweise Entsperrung eines biometrisch gesperrten Mobiltelefons mit dem Finger der beschuldigten Person ist § 81b Abs. 1 StPO in Verbindung mit §§ 94 ff. StPO. (Bearbeiter)
9. § 81b Abs. 1 StPO ist nicht auf bestimmte erkennungsdienstliche Maßnahmen beschränkt, sondern umfasst auch solche Maßnahmen, die allgemein zum Beweis der Schuld oder Unschuld des Beschuldigten dienen. Die Vorschrift will durch die Aufnahme der „ähnlichen Maßnahmen“ in den Gesetzeswortlaut dem Gesetzesanwender einen weitreichenden, dem jeweiligen Stand der Technik im Rahmen neuer Entwicklungen angepassten Handlungsspielraum mit Blick auf die zulässigen Ermittlungsmöglichkeiten einräumen. (Bearbeiter)
10. Der Zulässigkeit der zwangsweisen Entsperrung eines biometrisch gesperrten Mobiltelefons mit dem Finger der beschuldigten Person steht nicht entgegen, dass § 81b Abs. 1 StPO den durch den Fingerabdruck ermöglichten Zugriff auf die Daten des Mobiltelefons erfasst, sondern nur zur Vornahme des eigentlichen Entsperrvorgangs des Mobiltelefons ermächtigt. Das Auslesen des Mobiltelefons als Ziel der Entsperrung ist eine dem Entsperren nachfolgende Maßnahme, die selbstständig an den für sie geltenden Regeln gemessen werden kann. Insoweit wird § 81b Abs. 1 StPO flankiert durch § 110 Abs. 1 und 3, § 94 Abs. 1 und 2 StPO, die – wie bei nicht mit PIN oder Fingerabdrucksensor gesicherten Daten – ergänzende Rechtsgrundlage für die Auslesung des Mobiltelefons und die anschließende Sicherung der Daten sind. (Bearbeiter)
11. Die auf Mobiltelefonen gespeicherten Daten sind gemäß § 94 Abs. 1 StPO beschlagnahmefähig. Die regelhaft vor der Beschlagnahme erfolgende Durchsicht der auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten kann im Einklang damit auf § 110 StPO gestützt werden. §§ 94 ff. StPO und §§ 102 ff. StPO genügen auch den verfassungsrechtlichen und den sich aus der RL 2016/680/EU ergebenden Anforderungen hinsichtlich der Sicherstellung und Beschlagnahme von Datenträgern und den hierauf gespeicherten Daten. Die strafprozessualen Beschlagnahmeregelungen genügen der insbesondere für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geltenden Vorgabe, wonach der Gesetzgeber den Verwendungszweck der erhobenen Daten bereichsspezifisch und präzise bestimmen muss. (Bearbeiter)
12. Darüber hinaus ist der auf §§ 94 ff., §§ 102 ff. StPO gestützte staatliche Zugriff auf Datenträger durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt. Bei der Abwägung sind einerseits das staatliche Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung (die Sicherung des Rechtsfriedens durch Strafrecht, die Aufklärung von Straftaten, die Ermittlung des Täters, die Feststellung seiner Schuld und seine Bestrafung wie auch der Freispruch des Unschuldigen sind seit jeher staatliche Kernaufgaben), andererseits die geschützten Rechtsgüter der von der Maßnahme Betroffenen gegenüberzustellen. Hierbei ist der besonderen Eingriffsintensität beim Zugriff auf ein Mobiltelefon Rechnung zu tragen. Die Schwere der Straftat, die Gegenstand der Ermittlungen ist, stellt dabei einen zentralen Parameter dar. Maßgebend ist, wie sich das Gewicht der Straftat im Einzelfall darstellt. Bestimmende Gesichtspunkte sind daneben der Grad des Tatverdachtes und die potentielle Beweisbedeutung der auf dem Mobiltelefon vermuteten Daten. In Betracht zu ziehen ist auch, ob die in Rede stehenden Straftaten mittels eines Mobiltelefons begangen oder angebahnt wurden. Steht die zu ermittelnde Straftat in keinem Bezug zum Mobiltelefon und/oder den darauf zu vermutenden Daten oder ist der mittels zwangsweise herbeigeführtem Fingerabdruck erlangte Datenzugriff aus anderen Gründen unter Berücksichtigung der Schwere der Straftat und der Erfordernisse der Untersuchung nicht gerechtfertigt, ist er nach der Strafprozessordnung unzulässig. (Bearbeiter)
13. Der Zulässigkeit der zwangsweisen Entsperrung eines biometrisch gesperrten Mobiltelefons mit dem Finger der beschuldigten Person steht nicht entgegen, dass § 81b Abs. 1 StPO nicht auf bestimmte (schwere) Straftaten beschränkt ist. RL 2016/680/EU fordert nicht, dass der Zugang zu auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten nur zur Bekämpfung bestimmter, schwerer Kriminalität zugelassen wird. (Bearbeiter)
13. Eine im Lichte der RL 2016/680/EU gebotene gesetzliche Eingriffsermächtigung (Gesetzesvorbehalt) wird den an sie zu stellenden Erfordernissen auch dann gerecht, wenn sie – wie die §§ 81b Abs. 1, 94 ff., 102 ff. StPO – die Begrenzung der Eingriffsbefugnisse einer aufgrund objektiv nachvollziehbarer Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden, gesetzlich verankerten Zweckbindung und Verhältnismäßigkeitsprüfung und deren gerichtlicher Überprüfung überantwortet. (Bearbeiter)
14. Im Lichte der RL 2016/680/EU und mit Blick auf die besondere Eingriffsintensität erfordert der Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten personenbezogenen Daten – außer in hinreichend begründeten Eilfällen – eine vorherige Kontrolle durch ein Gericht, um zu gewährleisten, dass der den Datenzugriff begrenzende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall durch eine Gewichtung aller relevanten Gesichtspunkte gewahrt wird. Dies wird durch eine nach §§ 102, 105 Abs. 1 StPO – bei hinreichendem Tatverdacht und unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit – richterlich angeordnete Durchsuchung gewährleistet, die gerade auch dem Auffinden von Mobiltelefonen dient. (Bearbeiter)
15. Dem Strafverfahrensrecht ist ein allgemein geltender Grundsatz, dass jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich ziehe, fremd. Vielmehr ist die Frage jeweils nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des Verbots und des Gewichts des Verstoßes, unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf Wahrheitserforschung um jeden Preis gerichtet ist, schränkt ein Beweisverwertungsverbot eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts ein, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Daran gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot
eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. (Bearbeiter)
16. Mehrere Verstöße gegen das Berufsverbot stellen nur eine Tat im materiellrechtlichen Sinne dar. Dem Tatbestandsmerkmal des „Ausübens“ ist ein Dauerelement immanent, welches dazu führt, dass jedes Ausüben einer Tätigkeit im Rahmen der Berufsausübung Teil der Tatbestandserfüllung ist und die Tat erst beendet ist, wenn die verbotene Berufsausübung eingestellt wird. Das ist der Fall, wenn die verbotene Berufsausübung aufgegeben oder für eine Zeitspanne unterbrochen wird, die sich von gewöhnlichen Unterbrechungen wesentlich unterscheidet. (Bearbeiter)
17. Die Möglichkeit einer Tateinheit durch Verklammerung besteht nur dann, wenn die Ausführungshandlungen zweier oder mehrerer an sich getrennt verwirklichter Delikte zwar nicht miteinander, wohl aber mit der Ausführungshandlung eines dritten Tatbestandes (teil-)identisch sind. (Bearbeiter)
18. Alleine aus dem Umstand, dass bei Gelegenheit einer Betreuungshandlung kinderpornographische Lichtbilder hergestellt wurden (§ 184b Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F.), folgt nicht, dass letzterer Tat ein eigenständiges Gewicht zukommt und von Tatmehrheit auszugehen ist. Vielmehr sind hier die allgemeinen Grundsätze der Tateinheit nach § 52 StGB anzuwenden. Verklammerungsgrundsätze sind demgegenüber nicht anzuwenden, wenn neben dem Verstoß gegen das Berufsverbot nur eine weitere Straftat begangen wurde. (Bearbeiter)
19. Eine unnatürlich geschlechtsbetonte Körperhaltung des Kindes im Sinne des § 184b Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b StGB erfordert eine Darstellung, die offenkundig ein altersunangemessenes und sexuell anbietendes Verhalten zeigt. Maßgeblich ist die Zielsetzung, die für einen objektiven Betrachter ohne eigene pädophile Neigung erkennbar sein muss. Durch die Art der Körperhaltung – unter Umständen verbunden mit aufreizender Bekleidung und Accessoires – muss die unnatürliche Geschlechtsbezogenheit auch für einen solchen Betrachter eindeutig zum Ausdruck kommen. (Bearbeiter)
1. Ein Untersuchungshaftbefehl erledigt sich mit Rechtskraft der Verurteilung auch dann, wenn er zuletzt gemäß § 116 Abs. 1 StPO außer Vollzug gesetzt war. (BGHR)
2. Die sich hieran anschließende Rechtsfrage, ob – und wenn ja, auf welcher Rechtsgrundlage – gemäß § 116 Abs. 1 StPO angeordnete Maßnahmen bei Rechtskraft einer Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe fortgelten und Anweisungen vom in Freiheit befindlichen Verurteilten weiterhin zu erfüllen sind beziehungsweise eine Sicherheitsleistung nach § 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 StPO gegebenenfalls noch für verfallen erklärt werden kann, ist umstritten. Denn die Strafprozessordnung verhält sich hierzu jedenfalls nicht in der angesichts der Grundrechtsrelevanz von Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO gebotenen Klarheit. (Bearbeiter)
3. Überwiegend wird in der obergerichtlichen Judikatur und im Schrifttum die Rechtsauffassung vertreten, zwar erledige sich jeder Untersuchungshaftbefehl mit Urteilsrechtskraft. Aus § 123 Abs. 1 Nr. 2 StPO ergebe sich jedoch, dass im Falle eines zuletzt außer Vollzug gesetzten Haftbefehls Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO bei Rechtskraft der Verurteilung isoliert fortgölten und Anweisungen vom Verurteilten weiterhin zu erfüllen seien, um die Strafvollstreckung zu sichern. Dieser Rechtsansicht steht allerdings entgegen, dass § 123 Abs. 1 Nr. 2 StPO keine explizite Weitergeltungsanordnung enthält und deshalb zumindest zweifelhaft erscheint, ob der mit Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO verbundene Grundrechtseingriff hierdurch nach Urteilsrechtskraft eine hinreichende gesetzliche Fundierung erfährt. (Bearbeiter)
4. Als lückenhaft erweist sich das Regelungsgefüge der Strafprozessordnung in diesem Zusammenhang zudem deshalb, weil unklar bleibt, welcher Richter für eine konstitutiv wirkende Aufhebung von Anordnungen nach § 116 Abs. 1 StPO bei Beginn des Strafvollzugs beziehungsweise für die Entscheidung über ein Rechtsmittel gegen eine solche Anordnung in der Zeit zwischen Rechtskraft des Urteils und der Aufnahme des Verurteilten in den Strafvollzug zuständig sein soll. Für die Annahme, trotz Urteilsrechtskraft sei hierzu das nach § 126 StPO zuständige Gericht der letzten Tatsacheninstanz berufen, fehlt es an einer gesetzlichen Basis. (Bearbeiter)
1. Die Jugendkammer kann ihre sachliche Zuständigkeit nur nach Vorlage durch das Jugendschöffengericht mit dem besonderen Umfang der Sache begründen, nicht aber im Falle einer bei ihr erhobenen Anklage. (BGHR)
2. Nach § 269 StPO in Verbindung mit § 2 Abs. 2 JGG schließt die weitergehende sachliche Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung die dahinter zurückbleibende des Gerichts niederer Ordnung mit ein, so dass die angenommene sachliche Zuständigkeit der großen Jugendkammer anstatt derjenigen des Jugendschöffengerichts grundsätzlich im Revisionsverfahren unbeachtlich ist. Dies erfährt jedoch vor dem Hintergrund des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG eine Einschränkung, wenn die Rechtsanwendung auf objektiver Willkür beruht. (Bearbeiter)
3. Allein die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes macht eine Gerichtsentscheidung jedoch noch nicht willkürlich. Das ist vielmehr erst dann der Fall, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird. Eine gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung darf sich deshalb bei Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen nicht so weit von dem Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernen, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen ist. Dies ist nicht gegeben, wenn sich das Gericht mit der Rechtslage eingehend auseinandergesetzt hat und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt. Unter diesen Umständen genügt selbst eine objektiv falsche Anwendung von Zuständigkeitsnormen regelmäßig nicht für eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. (Bearbeiter)
4. Angesichts des eindeutigen Wortlauts von § 41 Abs. 1 Nr. 2 JGG ist es erforderlich, dass die Sache wegen ihres besonderen Umfangs im Zwischenverfahren gemäß § 40 Abs. 2 JGG der Jugendkammer vom Vorsitzenden des Jugendschöffengerichts zur Übernahme vorgelegt wird. (Bearbeiter)
5. Für eine analoge Anwendung von § 41 Abs. 1 Nr. 2 JGG im Fall einer unmittelbaren Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft bei einer großen Jugendkammer besteht wegen des Gesetzeswortlauts und der -genese kein Raum. Die einfachgesetzlichen Regelungen zur erstinstanzlichen sachlichen Zuständigkeit werden maßgeblich durch die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bestimmt und sind im Jugendgerichtsgesetz für die Jugendkammer abschließend in § 41 Abs. 1, § 108 Abs. 1, 3 Satz 2 JGG geregelt. Diese gesetzlichen Vorgaben würden umgangen, wenn das im Zeitpunkt der Eröffnung für die Entscheidung zuständige Tatgericht durch eine analoge Anwendung dieser Normen Ausnahmen hiervon schaffen könnte. (Bearbeiter)
1. Dem Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung, das ihm aufgrund seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und angemessene Verteidigung in Art. 103 Abs. 1 GG sowie durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantiert wird, kommt eine hohe Bedeutung zu. Es kann daher nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, in denen andere gewichtige Belange entgegenstehen und eine Einschränkung seiner grundsätzlich zu gewährleistenden Anwesenheit verlangen, eingeschränkt werden.
2. Für die Ausnahme des § 247 Satz 2 StPO ist grundsätzlich mit Blick auf die Bedeutung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten eine restriktive Auslegung geboten. Der mit einem Ausschluss zwangsläufig verbundene Eingriff in die Autonomie des Angeklagten ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auf solche Verfahrenshandlungen zu beschränken, bei denen der Schutzzweck den Ausschluss unbedingt erfordert.
3. Der Zeugen- und Opferschutz im Fall des § 247 Satz 2 StPO kann es jedoch gebieten, den Vernehmungsbegriff auf die Inaugenscheinnahme des äußeren Erscheinungsbildes des Zeugen zu erstrecken. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn bei einem Zeugen im Fall einer Konfrontation mit dem Angeklagten ein hohes Risiko für eine Retraumatisierung besteht. In diesen Fällen ist es zur Vermeidung jedweden Zusammentreffens von Angeklagtem und zu schützendem Zeugen regelmäßig unabdingbar, den Angeklagten auch von der Augenscheinseinnahme des Zeugen auszuschließen.
4. Das Betrachten der äußeren Erscheinung im Sinne der sich offen darbietenden Körperbeschaffenheit eines Zeugen während seiner Befragung gehört zur Vernehmung. Eines förmlichen Augenscheins bedarf es dazu nicht. Für die Frage, ob der Ausschluss des Angeklagten von der gesamten Zeugenvernehmung einschließlich Inaugenscheinnahme rechtmäßig war, kann deshalb dahinstehen, ob im jeweiligen Einzelfall eine eigenständige Inaugenscheinnahme stattgefunden hat.
1. Zur Verweigerung des Zeugnisses nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO oder der Gutachtenerstattung nach § 76 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO ist ein Arzt hinsichtlich solcher Tatsachen nicht berechtigt, die er im amtlichen Auftrag anlässlich einer strafprozessual angeordneten Untersuchung (vgl. etwa § 81, § 81a StPO) wahrgenommen oder ermittelt hat, zu deren Duldung der Untersuchte verpflichtet war.
2. Eine die erforderliche Zustimmung zur Preisgabe von Geheimnissen nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB, § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO ersetzende Duldungspflicht enthält auch die Anordnung der einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 126a Abs. 1 StPO, denn sie dient zugleich der Beobachtung zur Vorbereitung eines Gutachtens und macht deshalb eine zusätzliche Anordnung nach § 81 StPO überflüssig. Dies gilt nicht nur in den Fällen, in denen der Behandler im Erkenntnisverfahren zum Sachverständigen bestellt wird, sondern auch, wenn ein externer Sachverständiger bestellt und der Behandler lediglich als Zeuge vernommen wird.
Nach § 25 Abs. 2 Nr. 2 StPO sind während laufender Hauptverhandlung eintretende Befangenheitsgründe unverzüglich geltend zu machen. An die Auslegung des Begriffs „unverzüglich“ ist im Interesse einer zügigen Durchführung des Verfahrens ein strenger Maßstab anzulegen. Die Ablehnung muss zwar nicht sofort, aber ohne schuldhaftes Zögern, mithin ohne unnötige, nicht durch die Sachlage begründete Verzögerungen geltend gemacht werden.
In einem Beweisantrag ist der Zeuge als Beweismittel grundsätzlich mit vollständigem Namen und genauer Anschrift zu benennen. Nur wenn der Antragsteller dazu nicht in der Lage ist, genügt es, im Einzelnen den Weg zu beschreiben, auf dem die Person des Zeugen zuverlässig ermittelt werden kann. Die Vorlage eines Lichtbildes der Beweisperson genügt insofern nicht.
Allein der Umstand, dass dem Angeklagten im Rahmen der Unterrichtung über die Zustellung gemäß § 145a Abs. 3 Satz 1 StPO keine Rechtsmittelbelehrung erteilt worden ist, führt nicht ohne weiteres dazu, dass ihn an der Versäumung der Frist kein Verschulden trifft. Bei einer Unterrichtung über eine Zustellung an den Verteidiger gemäß § 145a Abs. 3 StPO ist eine Belehrung des Angeklagten grundsätzlich nicht erforderlich.
1. Das Rechtsmittelgericht überprüft auf einen Besetzungseinwand nicht, ob die tatsächlichen Umstände zutreffen, auf welche die Feststellung des Verhinderungsfalls gestützt worden ist. Es ist vielmehr ausgehend von den der Entscheidung über das Vorliegen eines Vertretungsfalls zu Grunde gelegten tatsächlichen Umständen auf die Kontrolle beschränkt, ob der Rechtsbegriff der Verhinderung verkannt worden ist. Geprüft wird mithin, ob rechtlich ein Verhinderungsfall vorgelegen hat, nicht aber, ob die Verhinderung tatsächlich bestanden hat.
2. Der Umfang der Kontrolle ist weiter begrenzt auf eine Vertretbarkeits- beziehungsweise Willkürprüfung; das Rechtsmittelgericht nimmt eine Willkürkontrolle, nicht jedoch eine umfassende Richtigkeitskontrolle vor. Der Überprüfung unterliegt allein, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Vertretungsfalls unter Berücksichtigung der Bedeutung und Tragweite der Gewährleistung des in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Rechts auf den gesetzlichen Richter grundlegend verkannt worden sind und die Entscheidung objektiv willkürlich erscheint.
3. Zuständig für die Feststellung der Verhinderung ist der Präsident oder sein nach § 21h GVG bestimmter Vertreter, wenn ein Richter aus einem anderen Spruchkörper heranzuziehen ist.
4. Hinsichtlich der Vertretbarkeit und Willkürfreiheit der Entscheidung kann es im Einzelfall keinen Bedenken begegnen, wenn der Präsident eine Verhinderung eines in Vollzeit tätigen Richters feststellt, weil dieser aus gesundheitlichen Gründen nicht an einer Hauptverhandlung teilnehmen kann. Denn andere richterliche Tätigkeiten als die Mitwirkung an einer besonders zeitintensiven Hauptverhandlung lassen sich naheliegend auch mit gesundheitlichen Einschränkungen wahrnehmen, etwa indem regelmäßig mit körperlicher Bewegung verbundene Arbeitspausen eingelegt werden.
Ein erster Pflichtverteidiger hat es nicht in der Hand, durch die Annahme weiterer Mandate die Bestellung eines zweiten zu erzwingen.
1. Die unzulässige Wiederherstellung der zuvor ausgeschlossenen Öffentlichkeit zwischen Schlussanträgen und der Gewährung des letzten Wortes begründet keinen absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 338 Nr. 6 StPO.
2. Die Verurteilung kann jedoch auf dem Rechtsfehler beruhen, soweit das Gericht seine Überzeugung ausschließlich auf die Aussage des Zeugen gestützt hat, dessen Vernehmung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, soweit nicht auszuschließen ist, dass der sich zuvor schweigend verteidigende Angeklagte bei seinem letzten Wort in öffentlicher Sitzung ihn begünstigende Umstände zur Sache vorgebracht hätte, die Einfluss auf die Beweiswürdigung und damit den Schuldspruch gehabt hätten, und soweit möglich erscheint, dass der Angeklagte aufgrund der wiederhergestellten Öffentlichkeit gehemmt
war, sich zu Umständen zu äußern, die auch seinen persönlichen Lebensbereich betrafen.
1. Auch in einem Bußgeldverfahren ist gem. § 12 Abs. 2 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG die Übertragung eines Verfahrens auf ein anderes Gericht erst zulässig, wenn die auf rechtzeitigen Einspruch anberaumte Hauptverhandlung begonnen hat. Solange die Staatsanwaltschaft nach Vorlage der Akten an das Gericht gemäß § 71 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 411 Abs. 3 Satz 1 und 2 StPO die Klage bis zum Beginn der Hauptverhandlung ohne Zustimmung des Betroffenen (vgl. § 303 Satz 1 StPO) zurücknehmen und damit das Verfahren auf die Ebene der Staatsanwaltschaft zurückbringen kann, besteht keine Übertragungsmöglichkeit nach § 12 Abs. 2 StPO.
2. Dies gilt auch für die Abgabe des Verfahrens im Jugendstrafverfahren gemäß § 42 Abs. 3 JGG.
1. In einem freisprechenden Urteil sind regelmäßig in einer geschlossenen Darstellung die als erwiesen angesehenen Tatsachen festzustellen, bevor in der Beweiswürdigung darzulegen ist, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden können. Denn es ist Aufgabe der Urteilsgründe, dem Revisionsgericht auf diese Weise eine umfassende Nachprüfung der freisprechenden Entscheidung zu ermöglichen.
2. Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten sind in erster Linie bei verurteilenden Erkenntnissen notwendig, um nachvollziehen zu können, ob das Tatgericht die wesentlichen Anknüpfungstatsachen für die Strafzumessung (§ 46 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 StGB) ermittelt und berücksichtigt hat. Sie sind jedoch auch bei freisprechenden Urteilen erforderlich, wenn diese Verhältnisse für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können. Das kann beim Vorwurf des Betäubungsmittelhandels etwa dann der Fall sein, wenn Erkenntnisse zu den Lebens- und Einkommensverhältnissen des Angeklagten Hinweise auf eine etwaige Verstrickung in ein dem Drogenhandel nahestehendes Milieu ergeben können.
Eine Begründung des die Revision verwerfenden Beschlusses ist nicht erforderlich; sie ist auch verfassungsrechtlich nicht geboten. Dies gilt auch dann, wenn der Beschwerdeführer in einer Gegenerklärung zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts weitere Ausführungen macht.
Die Überleitung eines Strafverfahrens in ein Sicherungsverfahren im Sinne der §§ 413 ff. StPO ist nach Eröffnung des Hauptverfahrens nicht zulässig. Der Eröffnung des Hauptverfahrens steht es gleich, wenn aufgrund eines Antrags auf Erlass eines Strafbefehls Termin zur Hauptverhandlung bestimmt wird.
Nach Nr. 4142 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG (VV) fällt eine besondere Verfahrensgebühr als Wertgebühr an, wenn der Rechtsanwalt eine auf die Einziehung und verwandte Maßnahmen bezogene Tätigkeit für den Beschuldigten ausübt; sie steht ihm für jeden Rechtszug zu. Erfasst werden sämtliche Tätigkeiten, die der Rechtsanwalt im Hinblick auf die Einziehung erbringt und die zumindest auch einen Bezug zur Einziehung haben. Das ist bereits bei Erhebung der allgemeinen Sachrüge der Fall, die dem Revisionsgericht das gesamte Urteil einschließlich der Einziehungsentscheidung zur Überprüfung unterbreitet. Der nach § 33 Abs. 1, § 2 Abs. 1 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die Tätigkeit des Verteidigers im Revisionsverfahren bemisst sich nach dem wirtschaftlichen Interesse an der Abwehr der Einziehung.
Zur formgerechten Anbringung eines Wiedereinsetzungsantrags gehört, dass der Antragsteller innerhalb der Wochenfrist mitteilt und glaubhaft macht, wann das Hindernis weggefallen ist, das der Fristwahrung entgegenstand, wobei es auf die Person des Angeklagten ankommt.
Die qualifizierte elektronische Signatur der verantwortenden Person tritt an die Stelle ihrer eigenhändigen Unterschrift und muss daher von derjenigen Person stammen, welche die formbedürftige Erklärung abgibt.
1. Wird in einer teilaufhebenden Revisionsentscheidung der Schuldspruch bestätigt, jedoch der Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben, so ist der neue Tatrichter nur an den Schuldspruch selbst und diejenigen Feststellungen gebunden, die ausschließlich oder – als sogenannte doppelrelevante Tatsachen – auch den nunmehr rechtskräftigen Schuldspruch betreffen.
2. Dagegen ist der Strafausspruch mit den ausschließlich ihn betreffenden Feststellungen aufgehoben und nicht mehr existent. Dazu gehört nicht nur die Strafzumessung im engeren Sinn, vielmehr hat der neue Tatrichter auch die Voraussetzungen und die Anwendbarkeit des § 21 StGB – ohne jede Bindung an das insoweit nicht mehr existente erste Urteil – zu prüfen.
Die Revision eines Nebenklägers bedarf wegen § 400 Abs. 1 StPO eines Antrags oder einer Begründung, die deutlich macht, dass er eine Änderung des Schuldspruchs hinsichtlich eines Nebenklagedelikts und damit ein zulässiges Ziel verfolgt. Daran fehlt es, wenn der Nebenkläger ausweislich der Revisionsbegründung die Annahme eines weiteren Mordmerkmals neben dem vom Tatgericht bejahten Mordmerkmal und damit lediglich auf die Feststellung eines erweiterten Schuldumfangs anstrebt.
In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, ist eine besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller Umstände durch das Tatgericht vorzunehmen. Erforderlich sind vor allem eine gründliche Inhaltsanalyse, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben. Weiter müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat, die die Entscheidung zu Gunsten oder zu Lasten des Angeklagten beeinflussen können.
Nach § 345 Abs. 2 Alt. 1 StPO ist es für die Zulässigkeit einer Revisionsbegründung erforderlich, dass der Verteidiger an ihr gestaltend mitwirkt und für ihren gesamten Inhalt die Verantwortung übernimmt. Das schließt aus, dass sich der Verteidiger von dem rechtsunkundigen Angeklagten offensichtlich aussichtslose Rügen vorschreiben lässt oder lediglich auf dessen Wunsch erhebt.
Entlastende Angaben eines Angeklagten, für deren Richtigkeit es keine zureichenden Anhaltspunkte gibt, sind nicht ohne Weiteres als unwiderlegt hinzunehmen und den Feststellungen zugrunde zu legen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Das Tatgericht hat die Angaben des Angeklagten vielmehr – ebenso wie andere Beweismittel – kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Plausibilität zu überprüfen, dabei auch gegenläufige Indizien in den Blick zu nehmen und sich aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung zu bilden.