HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2025
26. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

731. BVerfG 2 BvR 829/24 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 27. März 2025 (OLG Frankfurt am Main / LG Frankfurt am Main)

Strafrechtliche Verurteilung in der Berufungshauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten und des Verteidigers (Recht auf ein faires Verfahren und auf effektive Verteidigung; Straferwartung und notwendige Verteidigung; Unterbleiben einer Pflichtverteidigerbestellung trotz Nichterscheinens des Wahlverteidigers; keine Verwerfung der Berufung des Angeklagten ohne Verteidiger bei notwendiger Verteidigung; Schuldgrundsatz; gerichtliche Pflicht zur Aufklärung der Persönlichkeit des Angeklagten bei Relevanz für Strafzumessung und Bewährung; Berufungshauptverhandlung ohne den Angeklagten; Erforderlichkeit der Anwesenheit zur Beurteilung der Persönlichkeit; Rechtsstaatsprinzip; Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz in allen von der Prozessordnung eröffneten Instanzen).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 140 Abs. 2 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 329 StPO; § 56 StGB

1. Eine Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren durch ein Berufungsgericht verletzt den Angeklagten in seinem Recht auf effektive Verteidigung als Ausprägung des Anspruchs auf ein faires Verfahren, wenn das Gericht keinen Verteidiger bestellt hatte, obwohl der Wahlverteidiger nicht zur Berufungshauptverhandlung erschienen war.

2. Das Recht auf ein faires Verfahren ist auch dann verletzt, wenn das Berufungsgericht auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft anstelle der erstinstanzlich verhängten Geldstrafe auf eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe erkennt, ohne sich einen persönlichen Eindruck von dem Angeklagten zu verschaffen, obwohl es Strafzumessungs- und Prognoseerwägungen anstellt, bei denen der Persönlichkeit des Angeklagten ein entscheidendes Gewicht zukommt.

3. Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Bestellung eines Verteidigers und dessen Mitwirkung im Strafverfahren sind Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung. Die Verkennung des Schutzgehalts einer derartigen strafprozessualen Verfahrensnorm kann das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren verletzen, wenn rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen werden oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wird.

4. Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung ist ein Fall notwendiger Verteidigung – auch im Falle einer Gesamtstrafenbildung – in der Regel ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe anzunehmen, wobei es stets einer Prüfung im Einzelfall bedarf, ob das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich die Mitwirkung eines Verteidigers gebietet.

5. Im Berufungsverfahren hindert die fehlende Ladung des Verteidigers, dessen unterbliebene Bestellung oder dessen krankheitsbedingte Verhinderung in Fällen notwendiger Verteidigung die Verwerfung der Berufung des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO.

6. Das Schuldprinzip erfordert die Ermittlung des wahren Sachverhalts. Der rechtsstaatliche Auftrag bezieht sich dabei nicht nur auf die Aufklärung des äußeren Tatgeschehens, sondern umfasst alle Merkmale, die für die Beurteilung der strafrechtlichen Schuld und für die Strafzumessung von Bedeutung sind. Hierzu gehören auch die Persönlichkeit des Tatverdächtigen, sein Vorleben und sein Verhalten nach der Tat, die zum Gegenstand strafrechtlicher Untersuchung und Erörterung gemacht werden müssen.

7. Im Interesse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege kann die Berufungshauptverhandlung auch ohne den Angeklagten durchgeführt werden, wenn seine Anwesenheit nicht erforderlich ist. Dies setzt voraus, dass die gerichtliche Aufklärungspflicht oder andere Gründe nicht entgegenstehen. Die Anwesenheit des Angeklagten ist nicht verzichtbar, wenn es auf den unmittelbaren persönlichen Eindruck des Gerichts von seiner Person ankommt, wie es regelmäßig der Fall, wenn es um die erstmalige Verhängung einer Freiheitsstrafe oder um eine Strafaussetzung zur Bewährung geht.

8. Zwar gewährleistet die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie keinen Instanzenzug; jedoch gebietet sie wirksamen Rechtsschutz in allen von der jeweiligen Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen. Das Rechtsmittelgericht darf bei der Auslegung und Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht von Voraussetzungen abhängig machen, die unerfüllbar oder unzumutbar sind oder den Zugang in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist.


Entscheidung

732. BVerfG 2 BvR 1974/22 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 9. April 2025 (BGH / LG Mannheim)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen eine Verurteilung wegen räuberischer Erpressung (Tatbestandsmerkmal des Vermögensnachteils; Bestimmtheitsgebot; Analogieverbot; Wortlautgrenze; Verschleifungsverbot; unzulässiges Aufgehen des wirtschaftlichen Nachteils im abgenötigten Verhalten; Übertragung eines Tattoostudios).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 253 StGB; § 263 StGB; § 266 StGB

1. Eine Verurteilung wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung verletzt das verfassungsrechtliche Verbot der Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen, wenn der Geschädigte dazu genötigt werden sollte, der Übertragung eines gemeinsam mit dem Angeklagten eröffneten Tattoostudios am selben Ort und unter der bisherigen Bezeichnung auf den Angeklagten zuzustimmen, ohne dass konkret erkennbar wird, wie sich dadurch das Vermögen des Geschädigten vermindert hätte und ob etwa dem Besitz an den Räumlichkeiten auf der Grundlage eines Mietvertrages, bestehenden Markenrechten, getätigten Investitionen oder – ohnehin nur ausnahmsweise dem geschützten Vermögen unterfallenden – Erwerbs- und Gewinnaussichten im Einzelfall ein Vermögenswert beizumessen ist (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 16. Januar 2025 [= HRRS 2025 Nr. 109]).

2. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie. Ausgeschlossen ist danach nicht nur eine gewohnheitsrechtliche oder rückwirkende Strafbegründung, sondern jede Rechtsanwendung, die tatbestandsausweitend über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht.

3. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Die Wortlautgrenze ist aus Sicht des Normadressaten zu bestimmen. Den Strafgerichten ist es verwehrt, eine Strafbestimmung über ihren eindeutigen, einer Auslegung nicht zugänglichen Wortlaut hinaus allein mit Blick auf den Normzweck anzuwenden. Dies gilt auch dann, wenn einzelne Fälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen wie das pönalisierte Verhalten. Ob eine Strafbarkeitslücke bestehen bleiben oder durch eine neue Regelung geschlossen werden soll, ist allein Sache des Gesetzgebers.

4. Das Bestimmtheitsgebot verbietet es den Gerichten, einzelne Tatbestandsmerkmale auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns so weit auszulegen, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verbot der Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen).

5. Die Auslegung des Nachteilsmerkmals des § 253 Abs. 1 StGB muss den gesetzgeberischen Willen beachten, das

Merkmal selbständig neben dem der Nötigung zu statuieren; sie darf das Tatbestandsmerkmal nicht in dem abgenötigten Verhalten aufgehen lassen. Ebenso wie beim Vermögensschaden bzw. -nachteil im Sinne der §§ 263, 266 StGB sind daher eigenständige Feststellungen zum Bestehen eines Nachteils geboten. Von einfach gelagerten und eindeutigen Fällen – etwa bei einem ohne Weiteres greifbaren Mindestschaden – abgesehen, haben die Strafgerichte den von ihnen angenommenen Nachteil der Höhe nach zu beziffern und dessen Ermittlung in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen darzulegen. Normative Gesichtspunkte können dabei durchaus eine Rolle spielen; sie dürfen aber, soll der Charakter der Erpressung als Vermögensdelikt und Erfolgsdelikt bewahrt bleiben, wirtschaftliche Überlegungen nicht überlagern oder verdrängen.

6. Bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung, ob die Strafgerichte diesen aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Vorgaben gerecht geworden sind, ist wegen des strengen Gesetzesvorbehalts auch eine strenge inhaltliche Kontrolle gefordert. Sowohl die Überschreitung der Grenzen des Strafgesetzes als auch die Konturierung und Präzisierung ihres Inhalts betreffen die Entscheidung über die Strafbarkeit und damit die Abgrenzung von Judikative und Legislative. Die Klärung der insoweit aufgeworfenen Fragen ist Sache des Bundesverfassungsgerichts.

7. Der Verlust einer bloßen ungesicherten Aussicht eines Geschäftsabschlusses kann grundsätzlich noch nicht als Vermögensschaden angesehen werden. Erwerbs- und Gewinnaussichten können nur ausnahmsweise Vermögensbestandteil sein, wenn sie so verdichtet sind, dass ihnen der Rechtsverkehr bereits einen wirtschaftlichen Wert beimisst, weil sie mit einiger Wahrscheinlichkeit einen Vermögenszuwachs erwarten lassen. Wie der Bundesgerichtshof bereits entschieden hat, können daher auch Erwerbs- und Gewinnaussichten, wie sie mit dem Betrieb einer Gaststätte verbunden sein können, nur ausnahmsweise als Vermögensbestandteil angesehen werden.


Entscheidung

730. BVerfG 2 BvR 280/22 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 7. Mai 2025 (OLG Nürnberg / LG Regensburg)

Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz durch Versagung einer Sachentscheidung nach Abschiebung des Untergebrachten; Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses trotz Beendigung des Eingriffs; Wiederholungsgefahr; fortwirkende Beeinträchtigung; Rehabilitationsinteresse; tiefgreifender Grundrechtseingriff; Grundrecht auf Freiheit der Person).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG; § 67d StGB; § 456a StPO

1. Ein Oberlandesgericht verletzt einen ehemals in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn es nach der Abschiebung des Betroffenen und der damit verbundenen Beendigung der Unterbringung (§ 456a Abs. 1 StPO) ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis verneint und den Betroffenen ohne Sachentscheidung über die angefochtene Fortdauerentscheidung der Strafvollstreckungskammer lediglich auf die Möglichkeit von Einwendungen im Falle einer erneuten Unterbringung bei Wiedereinreise verweist.

2. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung vom Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses abhängig zu machen. Trotz Erledigung des Verfahrensgegenstandes kann allerdings ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist.

3. Ein schutzwürdiges Rechtsschutzinteresse besteht fort, wenn das gerichtliche Verfahren dazu dienen kann, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen, sowie dann, wenn eine Maßnahme mit diskriminierendem Charakter oder ein tiefgreifender Grundrechtseingriff in Rede steht, vornehmlich ein solcher, den das Grundgesetz selbst – wie bei der Wohnungsdurchsuchung oder Freiheitsentziehung – unter Richtervorbehalt stellt.

4. Das Rechtsschutzbedürfnis für die gerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn die Fortdaueranordnung etwa wegen Beendigung des Freiheitsentzugs infolge einer Abschiebung prozessual überholt ist.