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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
März 2023
24. Jahrgang
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1. Hat eine zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft allein zum Strafausspruch Erfolg, gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens, abweichend von § 353 Abs. 1 StPO auch den Schuldspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben, wenn dieser auf einem im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO abgelegten Geständnis des Angeklagten beruht. (BGHSt)
2. Die Bindungswirkung einer Verständigung gilt nach § 257c StPO nur für das Gericht, das die der Verständigung zugrunde liegende Prognose abgegeben hat. Das nach einer etwaigen Zurückverweisung durch das Revisionsgericht zuständige (neue) Tatgericht ist nach dem Willen des Gesetzgebers demgegenüber nicht an die Verständigung gebunden. Dies findet seine Rechtfertigung darin, dass andernfalls Richter, die an einer Verständigung nicht beteiligt waren und eine solche mit dem Inhalt auch nicht getroffen hätten, bei ihrem Urteilsspruch gebunden werden könnten. (Bearbeiter)
3. Die Geltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens beschränkt sich im Zusammenhang mit Verständigungen im Sinne des § 257c StPO nicht auf die der Regelung des § 257c Abs. 4 StPO zugrunde liegende Konstellation. Vielmehr stellt dieser Grundsatz ein dem gesamten Strafverfahren und mithin auch dem gesamten Verständigungsverfahren übergeordnetes Leitprinzip dar. Mit diesem Prinzip ist es grundsätzlich nicht zu vereinbaren, wenn ein im Hinblick auf eine zustande gekommene Verständigung abgegebenes Geständnis verwertet würde, obwohl die Verständigung keinen Bestand hat. (Bearbeiter)
Zur Unerreichbarkeit eines Zeugen im Falle mehrmonatiger ergebnisloser Fahndung auf Grund eines (internationalen) Haftbefehls.
1. Dass eine selbständige Einziehungsanordnung (§ 76a StGB) ausschließlich in einem selbständigen Einziehungsverfahren nach § 435 StPO, nicht aber in einem noch anhängigen subjektiven Verfahren gegen eine bestimmte
Person zulässig ist, folgt nicht aus dem Wortlaut von § 76a StGB und § 435 StPO. Gesetzessystematik, -entstehung und -zweck ergeben dies ebenso wenig.
2. Die Zulässigkeit einer Divergenzvorlage ist nicht von der noch ausstehenden Antwort eines Strafsenats abhängig, wenn ein für das Anfrageverfahren erforderliches negatives Ergebnis aufgrund des Beschlusses eines anderen Strafsenats bereits feststeht.
1. Trifft das Tatgericht eine Kompensationsentscheidung wegen einer Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung, so hat es den Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Angeklagten von dem gegen ihn geführten Strafverfahren festzustellen; dies folgt mittelbar aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK (i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).
2. Ist von einer Beschaffungstat auszugehen, liegen ein Hang und der für § 64 StGB erforderliche symptomatische Zusammenhang zumindest nahe, es bedarf dann jedenfalls ausdrücklicher Erörterung der einzelnen Voraussetzungen des § 64 StGB im Urteil.
3. Für einen symptomatischen Zusammenhang genügt es, wenn der Hang zum Missbrauch von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln allein oder zusammen mit anderen Umständen dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige Tat begangen hat und dies bei unverändertem Verhalten auch für die Zukunft zu erwarten ist. Hat er mehrere Taten begangen, reicht es aus, wenn ein Teil von ihnen auf den Hang zurückzuführen ist.
1. Das Gericht ist dazu verpflichtet, angemessene Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Verfahrensbeteiligten einen Schlussvortrag in der Weise halten können, wie sie ihn für sachdienlich erachten. Was dazu erforderlich ist, lässt sich nicht abstrakt, sondern nur im Einzelfall bestimmen. Danach kann es je nach Umfang und Dauer der Hauptverhandlung sowie dem konkreten Prozessverlauf notwendig sein, zur Ausarbeitung der Schlussvorträge eine angemessene Vorbereitungszeit einzuräumen.
2. Ebenso wie im Fall der Verletzung des Rechts des Angeklagten auf das letzte Wort ist es weder erforderlich, dass die Revision den Inhalt des Schlussvortrages darlegt, der nach Gewährung einer Vorbereitungszeit gehalten worden wäre, noch, aus welchen Gründen dieser konkrete Vortrag einer längeren Vorbereitungszeit bedurfte.
3. Gegen die Annahme eines normativ geprägten Vorstellungsbildes für den Irrtum i.S. des § 263 StGB ist auf Grundlage von Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufgrund von massenhaften und gleichgelagerten Ausführungshandlungen grundsätzlich nichts zu erinnern.
Bei einer Übermittlung über das besondere elektronische Anwaltspostfach (§ 32a Abs. 3 Var. 2 StPO i.V.m. § 31a BRAO) muss das Dokument über das Postfach desjenigen Verteidigers oder Rechtsanwalts übertragen werden, dessen Name als Signatur in der Schrift als verantwortende Person aufgeführt ist. Erfolgt die Übermittlung nach § 32a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 StPO gleichsam durch einen Boten, wird die Authentizität des elektronischen Dokuments nicht gewährleistet.
Einer staatsanwaltschaftlichen Zusicherung, nach § 154 StPO eingestellte Strafverfahren nicht wiederaufzunehmen, kommt von vornherein nicht die Bindungswirkung einer gerichtlichen Verständigung (§ 257c StPO) zu (vgl. BVerfGE 133, 168 Rn. 79). Durch das „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2353) ist das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18. April 1990 – 3 StR 254/88 (BGHSt 37, 10, 13 f.), wonach die staatsanwaltschaftliche Zusage, das Verfahren bezüglich einer Straftat einzustellen bzw. diese nicht zu verfolgen, einen Vertrauenstatbestand als gewichtigen Strafmilderungsgrund begründen könne, insoweit überholt.
Rechtsverstöße eines erstinstanzlich entscheidenden Landgerichts gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör können nach dem Willen des Gesetzes allein mit der Revision gegen das landgerichtliche Urteil, nicht aber (auch) mit einer Anhörungsrüge gegen die Revisionsentscheidung beanstandet werden.
1. Die Verbindung eines beim Landgericht anhängigen Berufungsverfahrens zu einem dort anhängigen erstinstanzlichen Verfahren analog § 4 Abs. 1 StPO führt zur Verschmelzung beider Verfahren mit der Folge, dass insgesamt erstinstanzlich zu verhandeln ist (vgl. BGHSt 38, 300, 301). Obwohl die für das erstinstanzliche Verfahren vorgesehenen Regelungen gelten, können sich Besonderheiten daraus ergeben, dass in demselben Verfahren bereits eine Hauptverhandlung stattgefunden hat und eine zu Gunsten des Angeklagten wirksame Entscheidung mit ‛beschränkter Rechtskraft’ ergangen ist.
2. Das Verschlechterungsverbot gemäß § 331 Abs. 1 StPO ist in einem Verfahren bei allen späteren Entscheidungen zu beachten. Es gilt daher auch nach einer Verfahrensverbindung analog § 4 Abs. 1 StPO.
1. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen bzw. Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat. Erweist sich eine Annahme ausschließlich als spekulativ, kann sie auch nicht als Folge des Zweifelssatzes zu Gunsten des Angeklagten den Urteilsfeststellungen zu Grunde gelegt werden.
2. Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers können auch dann gegeben sein, wenn der Täter ihm feindselig gegenübertritt, das Tatopfer die drohende Gefahr aber erst im letzten Augenblick erkennt, so dass ihm keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen.
3. Für ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinn erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen.
Die Nichtbeachtung des auslieferungsrechtlichen Spezialitätsgrundsatzes bewirkt ein Vollstreckungshindernis mit der Folge, dass eine wegen dieses Hindernisses nicht vollstreckbare Strafe nicht in eine Gesamtstrafe einbezogen werden darf.
Ist eine Vielzahl einzelner Erkenntnisse angefallen, so ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Erst sie entscheidet letztlich darüber, ob das Tatgericht die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten und den sie tragenden Feststellungen gewinnt. Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtschau dem Tatgericht die entsprechende Überzeugung vermitteln. Denn Beweisanzeichen können in einer Gesamtschau wegen ihrer Häufung und gegenseitigen Durchdringung die Überzeugung von der Richtigkeit eines Vorwurfs begründen. Der Beweiswert einzelner Indizien ergibt sich zudem regelmäßig erst aus dem Zusammenhang mit anderen Beweisanzeichen, weshalb der Inbezugsetzung derselben zueinander im Rahmen der Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommt. Dabei dürfen einzelne Beweisergebnisse nicht mit der isolierten Anwendung des Zweifelssatzes entwertet werden; denn der Grundsatz in dubio pro reo ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel (st. Rspr.).
Der Angeklagte kann sich mit Hinblick auf eine unzulässige, da nicht ausreichend begründete Verfahrensrüge nicht darauf berufen, er habe nicht rechtzeitig Akteneinsicht erhalten. Ein Anspruch auf Übersendung der in Papierform geführten Akte, erst recht innerhalb einer kürzeren Frist als der des § 345 Abs. 1 StPO, sieht § 32f Abs. 2 StPO nicht vor. Das gesetzlichen Leitbild ist zudem die Einsicht in die Verfahrensakten in den Diensträumen.
Bei der Beurteilung der Frage, ob sich ein Zeuge als Verlobter einer Angeklagten auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen kann, steht dem Vorsitzenden und nach deren Anrufung gemäß § 238 Abs. 2 StPO der Strafkammer ein Beurteilungsspielraum zu. Dieser ist auch zu beachten, wenn die Revision einen Verstoß gegen § 252 StPO geltend macht.
1. Zwar bestimmt § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO keinen Zeitpunkt, zu der die erforderlichen Angaben in der Hauptverhandlung mitzuteilen sind. Gleichwohl gebieten Sinn und Zweck der Regelung eine möglichst umgehende Mitteilung.
2. Die Pflicht, den Inhalt eines Verständigungsgesprächs mitzuteilen, entfällt nicht dadurch, dass es nachfolgend zu einer Änderung der Besetzung des Gerichts kommt und insbesondere der spätere Vorsitzende nicht an der Erörterung teilgenommen hat.
1. Der straf- und der – infolge eines Adhäsionsantrags ergangene – zivilrechtliche Teil eines Strafurteils bilden unterschiedliche Prozessgegenstände. Mit Ausnahme der in § 406a Abs. 3 StPO geregelten Konstellation beeinflusst eine Revision der Staatsanwaltschaft den zivilrechtlichen Teil des Urteils nicht.
2. Sieht das Gericht nach § 406 Abs. 1 Satz 3 StPO von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag ab, tritt zu Ungunsten des Adhäsionsklägers keine Rechtskraft ein. In solchen Fällen kann der Verletzte den Anspruch vielmehr gemäß § 406 Abs. 3 Satz 3 StPO „anderweit“ geltend machen. Hierfür ist er nicht auf einen dem Strafprozess nachfolgenden Zivilprozess verwiesen, sondern kann seine Forderung ebenso im Verfahren nach der Zurückverweisung durch das Revisionsgericht erneut zur strafgerichtlichen Entscheidung stellen.