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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2022
23. Jahrgang
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1. Ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO gebietet für sich genommen nicht eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO. (BGHR)
2. Für die Frage, ob die sofortige Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst nicht verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen. (BGHR)
3. Eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung hat nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge. (BGHR)
4. Im Rahmen der zur Prüfung der individuellen Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten vorzunehmenden Gesamtwürdigung kann zwar zu berücksichtigen sein, ob er die deutsche Sprache beherrscht. Allerdings begründen fehlende Sprachkenntnisse für sich genommen nicht die Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung, weil ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Beschuldigter gemäß § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann. (Bearbeiter)
5. Ebenso wenig ergibt sich aus der Bedeutung einer Beschuldigtenvernehmung für das weitere Verfahren im Allgemeinen die Unfähigkeit zur eigenen Verteidigung. Aus dem Gesetzeswortlaut und der Systematik des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO folgt, dass die Beschuldigtenvernehmung als solche nicht bereits Anlass für eine vorherige Bestellung eines Pflichtverteidigers ist, sondern nur, wenn der Beschuldigte sich ersichtlich nicht selbst verteidigen kann. Hierbei handelt es sich sowohl nach dem Zusammenhang als auch nach der dem Gesetz zugrundeliegenden Intention um einen Ausnahmefall. (Bearbeiter)
6. Die Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (ABl. EU 2016 Nr. L 197 S. 1; PKH-Richtlinie) verlangt die Bestellung eines Pflichtverteidigers ohne Antrag ebenfalls nicht. Zwar haben die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 5 PKH-Richtlinie sicherzustellen, dass Prozesskostenhilfe unverzüglich und spätestens vor einer Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde sowie vor bestimmten weiteren Maßnahmen bewilligt wird. Hieraus ergibt sich aber nicht, ob diese Bewilligung von Amts wegen oder auf Antrag zu geschehen hat. (Bearbeiter)
7. Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips
in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar. Der Beschuldigte darf nicht nur Objekt des Verfahrens sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Diese Gelegenheit erhält er, da er nach entsprechender Belehrung die Bestellung eines Verteidigers beantragen kann. (Bearbeiter)
8. Prinzipiell kennt das Strafverfahrensrecht keinen allgemein geltenden Grundsatz, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht. Bei einem Beweisverwertungsverbot handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung vielmehr um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen geboten sein, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind. Diese Maßstäbe sind auch bei einem etwaigen Verstoß gegen das Gebot zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu beachten. (Bearbeiter)
1. Richter und Schöffen sind verpflichtet, Ausschließungs- und Befangenheitsgründe anzuzeigen, die bei ihnen selbst möglicherweise vorliegen. Die Pflicht zur Selbstanzeige ergibt sich aus der – gemäß § 31 Abs. 1 StPO entsprechend anwendbaren – Vorschrift des § 30 StPO. Diese Verpflichtung ist zwar nicht ohne Weiteres dem Gesetzeswortlaut zu entnehmen. Jedoch ergibt sie sich aus dem Sinn und Zweck der Norm sowie deren Funktion im Zusammenhang mit dem Gebot des Art. 103 Abs. 1 GG. Eine pflichtwidrig unterlassene Selbstanzeige kann ihrerseits, für sich allein oder in der Zusammenschau mit weiteren Umständen, grundsätzlich ein Ablehnungsgesuch rechtfertigen.
2. Darüber hinaus besteht für Richter und Schöffen die Pflicht, auch Ausschließungs- und Befangenheitsgründe anzuzeigen, die andere am Verfahren mitwirkende Mitglieder des Spruchkörpers betreffen. Diese Verpflichtung zur „Fremdanzeige“ findet zwar keine ausdrückliche Stütze im Gesetz; auch sie wurzelt indes in dem verfassungsrechtlich begründeten Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf ein Gericht, das ihnen gegenüber die gebotene Neutralität einnimmt.
3. Verfahrensverstöße von Richtern oder Schöffen, die auf Irrtum oder auf unrichtiger oder sogar unhaltbarer Rechtsansicht beruhen, stellen grundsätzlich noch keinen Ablehnungsgrund dar. Etwas anderes gilt lediglich dann, wenn Entscheidungen oder Prozesshandlungen rechtlich völlig abwegig sind oder den Anschein der Willkür erwecken.
4. Zwar kann das Revisionsgericht in den Fällen des § 30 StPO die Entscheidung, durch welche die Selbstanzeige eines Richters oder Schöffen wegen eines Verhältnisses, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte, für begründet oder für nicht begründet erklärt wird, für sich gesehen grundsätzlich nicht überprüfen. Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO betrifft lediglich den Fall der Ablehnung nach § 24 StPO, nicht den der Selbstanzeige nach § 30 StPO. Anderes gilt aber dann, wenn sich ein Ablehnungsberechtigter das Vorbringen des Selbstanzeigenden in dessen dienstlicher Erklärung zu eigen macht und ihn deswegen ablehnt; dies eröffnet das Verfahren der §§ 25 bis 28 StPO.
5. Eine Hilfeleistung im Sinne des § 27 Abs. 1 StGB kommt auch in der Form psychischer Beihilfe in Betracht, indem der Haupttäter ausdrücklich oder konkludent in seinem Willen zur Tatbegehung, sei es schon in seinem Tatentschluss, bestärkt wird. Die psychische Beihilfe setzt voraus, dass die Tatbegehung objektiv gefördert oder erleichtert wird und dies dem Gehilfen bewusst ist. Eine solche Förderung der Haupttat kann unter Umständen darin gesehen werden, dass der Hilfeleistende seine Anwesenheit am Tatort einbringt, um den Haupttäter in seinem Tatentschluss zu bestärken und ihm das Gefühl erhöhter Sicherheit zu geben. Die Annahme allein psychischer Beihilfe bedarf genauer Feststellungen, insbesondere zur objektiv fördernden Funktion sowie zur entsprechenden Willensrichtung des Gehilfen sowie gegebenenfalls zu einer – konkludenten – Verständigung zwischen ihm und dem Haupttäter.
1. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK erwächst einem Straftäter kein Anspruch darauf, dass die Ermittlungsbehörden rechtzeitig gegen ihn einschreiten. Der Straftäter hat überdies keinen subjektiven Anspruch aus dem Grundgesetz oder der Menschenrechtskonvention gegen den Staat darauf, dass dieser die von ihm geplante Straftat (hier: ein Tötungsdelikt) durch gegen ihn oder das Opfer der beabsichtigten Tat gerichtete präventive Maßnahmen verhindert. Allenfalls das präsumtive Opfer eines Tötungsdelikts einen solchen subjektiven Anspruch auf Schutz seines Lebens haben kann.
2. Das Tatgericht ist von Rechts wegen nicht gehindert, einem Zeugen teilweise zu glauben und teilweise nicht. Denn es existiert kein Erfahrungssatz des Inhalts, dass einem Zeugen nur entweder insgesamt geglaubt oder insgesamt nicht geglaubt werden darf; für die Angaben eines Mitangeklagten gilt nichts anderes. Eine solche Beweiswürdigung bedarf jedoch besonders eingehender Begründung.
3. Aus einer Telekommunikationsüberwachung gewonnene Erkenntnisse dürfen nicht als Beweismittel verwendet werden, falls wesentliche sachliche Voraussetzungen für die Anordnung der Überwachungsmaßnahme fehlen. Die Nachprüfung durch das Revisionsgericht, ob die Anordnung rechtmäßig war und die Ergebnisse der Überwachung verwertbar sind, ist auf den Maßstab der Vertretbarkeit beschränkt. Der für die Anordnung erforderliche Tatverdacht muss dabei weder dringend noch hinreichend sein. Er muss allerdings auf bestimmten Tatsachen beruhen. Dem Gericht steht insoweit ein Beurteilungsspielraum zu
4. Bei der Sperrung von Beweismitteln durch die Exekutive kommt ein Verfahrenshindernis allenfalls dann in Betracht, wenn dadurch die Beweisgrundlage derart verkürzt würde, dass auch unter Beachtung der Grundsätze vorsichtiger Beweiswürdigung und der Anwendung des Zweifelssatzes eine gerichtlich verantwortbare Überzeugungsbildung nicht mehr gewährleistet ist, die rechtsstaatlichen Anforderungen sowie der verfassungsrechtlich verbürgten Aufgabe der Strafgerichte genügt, den wahren Sachverhalt unbeeinflusst von Einflussnahmen der vollziehenden Gewalt zu ermitteln. Dies ist regelmäßig nicht der Fall bei Angaben einer Vertrauensperson, die insgesamt vage, ohne besondere Tatnähe und ohne die Möglichkeit sind, sie einem der Tatbeteiligten zuzuordnen.
5. Ob sich bei mehreren Tatbeteiligten das Handeln als Mittäterschaft darstellt, ist vom Tatgericht aufgrund einer wertenden Gesamtbetrachtung aller festgestellten Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Dabei sind die maßgeblichen Kriterien der Grad des eigenen Interesses an der Tat, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille dazu, so dass die Durchführung und der Ausgang der Tat maßgeblich auch vom Willen des Betroffenen abhängen müssen. Nicht immer dann, wenn eines der Kriterien schwach oder gar nicht ausgeprägt ist, scheidet Mittäterschaft aus; vielmehr können Defizite in diesem Bereich – wie es im Wesen einer Gesamtbetrachtung liegt – ausgeglichen werden, wenn andere der in die Prüfung einzustellenden Kriterien stärker ausgeprägt sind.
6. Die Frage, ob Beweggründe zur Tat „niedrig“ i.S.d. § 211 StGB sind, also nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, mithin in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag als verwerflich und deshalb als besonders verachtenswert erscheinen, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren, für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren zu beurteilen. Diese Voraussetzungen sind erfüllt bei einer Tötung zur Durchsetzung von Macht- und Gebietsansprüchen eines „Rockerclubs“ im kriminellen Milieu, aus Rache für Beleidigungen, Provokationen, Bedrohungen und Angriffe gegen den Club sowie zur Wiederherstellung der „Clubehre“ und eines bedrohlichen Eindrucks als Grundlage weiterhin ungefährdeter wirtschaftlicher Betätigung der Clubangehörigen.
7. Bei der Ausübung des gerichtlichen Ermessens gem. § 46b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB sind Art und Umfang der offenbarten Tatsachen und deren Bedeutung für die Tataufklärung, der Zeitpunkt der Offenbarung, das Ausmaß der Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden sowie die Schwere der Tat, auf die sich die Angaben beziehen, zu berücksichtigen und sodann in einem wertenden Akt in Bezug zu setzen zur Schwere der vom Täter begangenen Tat und seiner Schuld (§ 46b Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB). Dabei darf das Tatgericht nicht nur aufklärungsspezifische Kriterien in den Blick nehmen, sondern hat alle strafzumessungsrelevanten Umstände des Einzelfalls einzubeziehen.
1. Einem gemäß § 22 StPO ausgeschlossenen Richter ist jede weitere richterliche Tätigkeit in der betroffenen Sache verwehrt; der Ausschluss nach § 22 StPO wird kraft Gesetzes in dem Zeitpunkt wirksam, in dem der Ausschlussgrund entsteht und wirkt für die Zukunft.
2. Nach Eintritt des Ausschlussgrundes ist dem Richter eine – rechtskonforme – Herstellung der Urteilsgründe ebenso wenig möglich wie die Teilnahme an einer Fassungsberatung oder die Urteilsunterzeichnung. Gleichwohl getätigte Amtshandlungen sind fehlerhaft; dies wird regelmäßig zu bedenken sein, wenn die Gerichtsverwaltung um eine Aussagegenehmigung für einen noch mit der Absetzung der Urteilsgründe in derselben Sache befassten Richter ersucht wird.
3. Grundsätzlich hat der Bauherr als Veranlasser eines Bauvorhabens für die von diesem ausgehenden Gefahren einzustehen hat, die hieraus folgende Verantwortlichkeit – nämlich die nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Vorkehrungen zum Schutze anderer Personen zu treffen. Er kann diese jedoch auf einen Bauunternehmer übertragen (vgl. zu den den Bauherrn im Falle der Übertragung noch treffenden Pflichten: BGHSt 19, 286, 288 f.). Bei der Frage, ob eine Bauleitung vollständig übertragen wurde, sind nicht nur der Inhalt der zwischen den Beteiligten geschlossenen Verträge, sondern sind auch die tatsächlichen Umstände auf der Baustelle maßgeblich.
§ 112 Abs. 3 StPO ist wegen eines sonst darin geregelten offensichtlichen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungskonform dahin auszulegen, dass der Erlass eines Haftbefehls nur zulässig ist, wenn Umstände vorliegen, welche die Gefahr begründen, dass ohne die Verhaftung des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Genügen kann bereits die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falls doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsgefahr, ferner die ernstliche Befürchtung, der Täter werde weitere Taten ähnlicher Art begehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist die Feststellung, dass eine verhältnismäßig geringe oder entfernte Gefahr dieser Art besteht. Wenn allerdings nach den Umständen des Einzelfalls gewichtige Gründe gegen jede Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) sprechen, ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von einem Haftbefehl nach § 112 Abs. 3 StPO abzusehen.
1. Beweisanzeichen können wegen ihrer Häufung und gegenseitigen Durchdringung die Überzeugung von der Richtigkeit eines Vorwurfs begründen. Der Beweiswert einzelner Indizien ergibt sich zudem regelmäßig erst aus dem Zusammenhang mit anderen Indizien, weshalb ihre Inbezugsetzung zueinander im Rahmen der Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommt.
2. Dem Wiedererkennen eines Täters auf einer Einzellichtbildvorlage kommt wegen der damit verbundenen suggestiven Wirkung nur ein geringer Beweiswert zu. Bei einer erneuten Identifizierung im Rahmen der Hauptverhandlung besteht eine verstärkte Suggestibilität der Identifizierungssituation. In welchem Umfang im konkreten Fall dem Wiedererkennen Beweiswert zukommt, hat das Tatgericht jedoch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.
Eine Absprache setzt regelmäßig voraus, dass das Gericht vor Unterbreitung eines eigenen Verständigungsvorschlags den Fall umfassend rechtlich geprüft hat.
1. Das Zusammentreffen mehrerer Tatbestände berührt den Lauf der Verjährung für die einzelnen Delikte nicht; bei Tateinheit läuft die Frist für jedes Delikt selbständig.
2. Auch verjährte Taten können strafschärfend berücksichtigt werden, wenngleich mit minderem Gewicht.