HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2022
23. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

569. BVerfG 1 BvR 2650/19 (2. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 21. März 2022 (OLG Frankfurt am Main / LG Darmstadt)

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen Beleidigung (ehrbeeinträchtigende Äußerungen über kommunale Amtsträger im Onlineforum einer Regionalzeitung; grundsätzliches Erfordernis einer Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht; kein genereller Vorrang der Meinungsfreiheit; Absehen von einer Abwägung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen; Schmähung nur bei grundlosem Verächtlichmachen ohne Sachbezug; Privatfehde oder Verunglimpfung im Schutze der Anonymität des Internets; Formalbeleidigung als Verwendung einer absolut missbilligten und tabuisierten Begrifflichkeit; besonderes Schutzbedürfnis der Machtkritik; Schutz von Amtsträgern vor Verächtlichmachung und Herabwürdigung; Würdigung von Anlass, Form, Begleitumständen und Wirkung der Äußerung; Verbreitung im Internet).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 10 Abs. 2 EMRK; § 185 StGB; § 193 StGB

1. Eine Verurteilung wegen Beleidigung aufgrund einer Gleichsetzung kommunaler Amtsträger mit Schwerbehinderten im Onlineforum einer Regionalzeitung ist verfassungsrechtlich nicht haltbar, wenn die Strafgerichte die gebotene Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht nicht vornehmen, weil sie verkennen, dass die fragliche Äußerung wegen ihres Bezugs zu einer Kritik des Beschuldigten an einer Straßenführung und an der personellen Besetzung der Stadtverwaltung nicht als Schmähkritik einzustufen ist.

2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch die Strafvorschrift des § 185 StGB gehört. Bei dessen Anwendung ist grundsätzlich eine die konkreten Umstände des Falles berücksichtigende Abwägung zwischen der Beeinträchtigung erforderlich, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht. Bei der Abwägungsentscheidung kommt der Meinungsfreiheit kein genereller Vorrang gegenüber dem Persönlichkeitsschutz zu.

3. Eine Verurteilung wegen Beleidigung kann ausnahmsweise auch ohne Abwägung gerechtfertigt sein, wenn sich die Äußerung als Schmähung oder Schmähkritik, als Formalbeleidigung oder als Angriff auf die Menschenwürde darstellt. Den Charakter einer Schmähung nimmt eine Äußerung erst dann an, wenn sie keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht, etwa in Fällen der Privatfehde oder der grundlosen Verunglimpfung und Verächtlichmachung im Schutze der Anonymität des Internets. Um eine Formalbeleidigung handelt es sich nur bei Verwendung kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligter und tabuisierter Begrifflichkeiten.

4. Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht.

5. Bei der Gewichtung der grundrechtlichen Interessen ist dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik Rechnung zu tragen. Hierzu gehört die Freiheit der Bürger, Amtsträger ohne Furcht vor Strafe grundsätzlich auch in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen zu können. Die Grenzen zulässiger Kritik an mit eigenen Wortmeldungen bewusst in die Öffentlichkeit getretenen Politikern sind daher weiter zu ziehen als bei Privatpersonen. Welche Äußerungen sich Personen des öffentlichen Lebens gefallen lassen müssen, hängt dabei auch davon ab, welche Position sie innehaben und welche öffentliche Aufmerksamkeit sie für sich beanspruchen.

6. Auch gegenüber Amtsträgern oder Politikern erlaubt die Verfassung allerdings nicht jede ins Persönliche gehende Beschimpfung oder Verächtlichmachung, sondern erfordert eine Abwägung dahingehend, ob eine Äußerung zum öffentlichen Meinungskampf beiträgt oder ob die Herabwürdigung der betreffenden Personen im Vordergrund steht. Insbesondere bei der Verbreitung von Informationen über das Internet liegt ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern und Politikern auch im öffentlichen Interesse, um die Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft aufrecht zu erhalten.

7. Bezüglich der Form und der Begleitumstände einer Äußerung kann von Bedeutung sein, ob sie ad hoc in einer hitzigen Situation oder mit Vorbedacht gefallen ist. Bei schriftlichen Äußerungen kann im Allgemeinen ein höheres Maß an Bedacht und Zurückhaltung erwartet werden; dies gilt grundsätzlich auch für textliche Äußerungen im Internet. Relevant ist auch, ob für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand.

8. Bei der Abwägung ist außerdem die konkrete Verbreitung und Wirkung einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung in Rechnung zu stellen. Maßgeblich ist, welcher Kreis von Personen von der Äußerung Kenntnis erhält, ob die Äußerung perpetuiert wird und ob sie in wiederholender und anprangernder Weise, etwa unter Nutzung von Bildnissen der Betroffenen, oder besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium wie dem Internet getätigt wird.


Entscheidung

571. BVerfG 2 BvR 1713/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 20. April 2022 (OLG Düsseldorf)

Auslieferung nach Schweden aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zum Zwecke der Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Maßregel (unionsgrundrechtliches Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit; Gefahr für die psychische Gesundheit des an einer paranoiden Schizophrenie leidenden Verfolgten; Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof; Recht auf den gesetzlichen Richter; Verfassungsverstoß bei grundsätzlicher Verkennung der Vorlagepflicht; Erfordernis einer Begründung der Entscheidung über die Vorlagepflicht; Unvollständigkeit der Rechtsprechung; willkürliche Annahme eines „acte clair“ oder eines „acte éclairé“).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 267 Abs. 3 AEUV; Art. 3 Abs. 1 GRCh; Art. 1 Abs. 3 RbEuHb; § 73 IRG

1. Ein Oberlandesgericht verletzt das Recht auf den gesetzlichen Richter, wenn es eine Auslieferung nach Schweden aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Maßregel („rechtspsychiatrische Fürsorge“) unter Verneinung eines Auslieferungshindernisses ohne Vorlage an den EuGH für zulässig erklärt, obwohl dem an einer paranoiden Schizophrenie leidenden Verfolgten durch die Überstellung eine erhebliche Gefährdung seiner psychischen Gesundheit droht (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 11. Oktober 2021 (OLG Düsseldorf) [= HRRS 2021 Nr. 1071]).

2. In der Rechtsprechung des EuGH ist nicht geklärt, ob sich aus dem unionsgrundrechtlichen Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit (Art. 3 Abs. 1 GRCh) eigene Aufklärungs- und Prüfungspflichten des mit einem Auslieferungsersuchen befassten Gerichts ergeben und ob dieses die Überstellung ablehnen darf, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dem an einer psychischen Krankheit leidenden Verfolgten durch die Überstellung die konkrete Gefahr einer (weiteren) schweren Gesundheitsschädigung droht.

3. Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Ein nationales letztinstanzliches Gericht hat eine entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts dem EuGH vorzulegen, sofern nicht die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war oder die richtige Anwendung des Unionsrechts offenkundig ist.

4. Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob ein Fachgericht die unionsrechtliche Vorlagepflicht offensichtlich unhaltbar gehandhabt hat. Dies ist der Fall, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht trotz Zweifeln an der Rechtsauslegung eine Vorlage nicht in Betracht zieht (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht) oder wenn es ohne Vorlagebereitschaft bewusst von der Rechtsprechung des EuGH abweicht.

5. Von einer grundsätzlichen Verkennung der Vorlagepflicht ist erst recht auszugehen, wenn sich das Gericht hinsichtlich des (materiellen) Unionsrechts nicht hinreichend kundig macht oder wenn es offenkundig einschlägige Rechtsprechung des EuGH nicht auswertet. Um eine Kontrolle am Maßstab des Rechts auf den gesetzlichen Richter zu ermöglichen, hat das Gericht die Gründe für seine Entscheidung über die Vorlagepflicht anzugeben.

6. In den Fällen der Unvollständigkeit der Rechtsprechung des EuGH verletzt das letztinstanzliche Hauptsachegericht mit einer Nichtvorlage das Recht auf den gesetzlichen Richter, wenn es seinen Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet, indem es willkürlich davon ausgeht, die Rechtslage sei entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“).


Entscheidung

572. BVerfG 2 BvR 1880/21 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 26. April 2022 (OLG Rostock)

Recht auf rechtliches Gehör (Hinweis auf fernliegenden rechtlichen Gesichtspunkt; schutzwürdiges Interesse nachträglicher Überprüfung freiheitsentziehender Maßnahmen); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Rechtswegerschöpfung; Erfordernis einer Anhörungsrüge).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 33a StPO

1. Ein Gericht verletzt das Recht auf rechtliches Gehör, wenn es ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte. Dies ist der Fall, wenn ein Beschwerdegericht nach Aufhebung des angefochtenen Haftbefehls ein schutzwürdiges Interesse an der nachträglichen Überprüfung der Untersuchungshaft entgegen der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verneint.

2. Zu dem vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg gehört auch eine nicht offensichtlich aussichtslose Anhörungsrüge, wenn der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör geltend macht. Unterlässt er es, eine solche einzulegen, so ist die Verfassungsbeschwerde auch hinsichtlich weiterer gerügter Grundrechtsverletzungen unzulässig, soweit diese denselben Streitgegenstand betreffen.


Entscheidung

570. BVerfG 2 BvR 1705/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 25. April 2022 (BGH / LG Karlsruhe)

Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Darlegungen zur Einhaltung der Monatsfrist zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde; Vortrag zu allen Zugangszeitpunkten der strafgerichtlichen Entscheidung in Zweifelsfällen).

§ 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG

1. Die allgemeine Begründungslast des § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG verlangt von einem Beschwerdeführer im Zweifelsfall die schlüssige Darlegung, dass die gesetzliche Monatsfrist zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde eingehalten ist.

2. In Strafsachen werden Entscheidungen regelmäßig sowohl dem Verteidiger als auch dem Beschuldigten bekanntgegeben. Daher ist substantiierter Vortrag zu allen Zugangszeitpunkten – oder die Klarstellung, dass der Beschluss nur einem der Beteiligten bekanntgegeben wurde – jedenfalls dann erforderlich, wenn sich die Einhaltung der Monatsfrist nicht ohne weiteres aus den vorgelegten Unterlagen ergibt.