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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2021
22. Jahrgang
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Von Rechtsanwalt Dr. Philipp Fölsing, Hamburg[*]
In seinem Beschluss vom 9.3.2021[1] wertete der 2. Strafsenat des OLG Frankfurt das Cum-/Ex-Leerverkaufsmodell von einer Steuerhinterziehung im besonders schweren Fall gem. § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO (Vergehen gem. § 12 Abs. 2 StGB) zu gewerbs- und bandenmäßigem Betrug gem. § 263 Abs. 5 StGB (Verbrechen gem. § 12 Abs. 1 StGB) auf. Diese Hochstufung erfolgte im Rahmen der Beschwerde gem. § 304 Abs. 1 StPO gegen einen Haftbefehl der Strafkammer gem. § 125 Abs. 2 StPO, die nur von einer Steuerhinterziehung ausgegangen war. Nicht die Staatsanwaltschaft hatte Beschwerde eingelegt, sondern der Angeklagte. Der 2. Strafsenat wollte durch die Hochstufung, wie er selbst betonte, die Auslieferung des Angeklagten aus der Schweiz gem. Art. 2 EuAlÜbk (Europäisches Auslieferungsabkommen) sicherstellen, die gem. § 3 Abs. 3 IRSG (Schweizer Gesetz über Internationale Hilfe in Strafsachen) bei Fiskaldelikten gerade nicht möglich ist. Der Beschwerdesenat zielte also ganz offensichtlich auf negative Rechtsfolgen für den Angeklagten ab. Ob eine Verböserung ("reformatio in peius") im Beschwerdeverfahren rechtlich zulässig ist und welche Folgen sie für das inländische Straf- sowie das Auslieferungsverfahren hat, wird nachfolgend untersucht.
Dem Strafverfahren liegt der Verkauf von Aktien (cum) kurz vor und deren Lieferung ohne (ex) Dividende unmittelbar nach dem Dividendenstichtag in den Jahren 2006 bis 2008 zugrunde. Die Aktien sollen dabei zwischen den Beteiligten mit dem Ziel gehandelt worden sein, eine nur einmal abgeführte Kapitalertragsteuer
doppelt erstattet zu bekommen.[2] Es handelte sich dabei ersichtlich um Gestaltungen, die auf die Ausnutzung einer steuerlichen Lücke ausgerichtet waren und darüber hinaus keinen wirtschaftlichen Wert und Nutzen hatten.[3] Diese liefen wie folgt ab: Der eine Beteiligte veräußerte an einen anderen Beteiligten vor dem Dividendenstichtag Aktien cum Dividende, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht in seinem Eigentum standen. Bei dem Verkäufer handelte es sich also um einen Leerverkäufer, bei dem Käufer um einen Leerkäufer. Geliefert werden sollten die Aktien erst nach dem Stichtag, also ex Dividende. Dadurch ergab sich eine Wertdifferenz. Hierfür erhielt der Leerkäufer vom Leerverkäufer eine Kompensationszahlung in Höhe der Netto-Dividende ohne Steuern. Der ursprüngliche rechtliche Eigentümer der Aktien am Dividendenstichtag erhielt von seiner Depotbank die Dividendengutschrift gekürzt um die Kapitalertragsteuer. Die tatsächlich abgeführte Kapitalertragsteuer konnte er sich zunächst noch rechtmäßig erstatten lassen (erste Steuererstattung).
Der ursprüngliche Eigentümer übereignete die Aktien nach dem Dividendenstichtag in Form einer Wertpapierleihe an den Leerverkäufer, damit dieser seine Verpflichtung gegenüber dem Leerkäufer erfüllen konnte. Das geliehene Aktienkapital war nach den Feststellungen des 2. Strafsenats des OLG Frankfurt nie in Gefahr, da die Bande, zu der auch der ursprüngliche Aktieninhaber gehörte, im Ergebnis – wenn auch vermeintlich mit hohem Aufwand "vertuscht" – sowohl als Leerverkäufer als auch als Leerkäufer auftrat. Auch der BGH geht in seinem aktuellen Cum-/Ex-Urteil vom 28.7.2021 davon aus, dass die Aktien zurückgegeben werden, ohne dass dem ein wirklicher "Handel" zugrunde liegt.[4] Die gesamten Geschäfte verliefen also im Ergebnis zwischen den angeblichen Bandenmitgliedern. Die Depotbank des Leerkäufers konnte die Kompensationszahlung nicht von der ursprünglichen Dividende unterscheiden. Zur Lösung dieses Problems hatte das Jahressteuergesetz 2007[5] inländische Depotbanken dazu verpflichtet, nicht nur bei Dividenden, sondern auch bei Kompensationszahlungen eines Leerverkäufers Kapitalertragsteuer einzubehalten und abzuführen. Diese Vorgabe lief jedoch bei ausländischen Banken wegen fehlender Regelungskompetenz des deutschen Gesetzgebers ins Leere. Wegen dieser Lücke wurde bei den Cum-/Ex-Geschäften auf Seiten des Leerverkäufers regelmäßig eine ausländische Depotbank eingeschaltet. Das führte dazu, dass die Depotbank des Leerkäufers eine Steuerbescheinigung für die von der Depotbank des Leerverkäufers vermeintlich einbehaltene Kapitalertragsteuer ausstellte, obwohl in Wirklichkeit ein Steuerabzug überhaupt nicht stattgefunden hatte.
Konnte der Leerkäufer nun etwa als steuerbefreiter Investmentfonds gem. § 44b Abs. 1 EStG oder im Rahmen seiner Steuerveranlagung wie im Fall des OLG Frankfurt eine Steuererstattung geltend machen (zweite Steuererstattung), kam es zu einer Doppelerstattung von Kapitalertragsteuer, die tatsächlich nur einfach einbehalten worden war.[6] Im Fall des OLG Frankfurt sollen auf diese Weise Kapitalertragsteuern in Höhe von rd. 113 Millionen € unrechtmäßig erstattet worden sein. Erst mit dem zum 26.7.2011 in Kraft getretenen OGAW-IV-Umsetzungsgesetz[7] wurde die Abzugsverpflichtung auf Dividenden von der Aktiengesellschaft auf die auszahlenden Stellen im Inland übertragen, beim Cum-/Ex-Leerverkaufsmodell also auf die Depotbank des Leerkäufers. Somit wurde die steuerbescheinigende Stelle tatsächlich auch für den Steuerabzug auf die Kompensationszahlung des Leerverkäufers verantwortlich. Von nun an stand mit der Steuerbescheinigung fest, dass die bescheinigende Stelle die Steuer auch wirklich einbehalten und abgeführt hat. Mit der Einführung des Zahlstellenprinzips war das Cum-/Ex-Leerverkaufsmodell unter Einschaltung ausländischer Depotbanken auf der Seite des Leerverkäufers, dem eigentlich schon mit dem Jahressteuergesetz 2007 der rechtliche Boden entzogen werden sollte, auch technisch nicht mehr möglich.[8]
Die Kapitalertragsteuer wird bei natürlichen Personen gem. § 36 Abs. 2 Nr. 2 lit. a EStG auf die Einkommensteuer und bei juristischen Personen gem. § 31 Abs. 1 KStG i. V. m. § 36 Abs. 2 Nr. 2 lit. a EStG auf die Körperschaftssteuer angerechnet. Ist die juristische Person steuerbefreit, etwa als Investmentfonds gem. § 44b EStG, kann sie sich die Kapitalertragsteuer vollständig erstatten lassen. Die Steueranrechnung bzw. -erstattung erfolgt regelmäßig mit der Vorlage einer Steuerbescheinigung der Depotbank, da diese nach der Rechtsprechung des BFH als Anscheinsbeweis für die einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer auf die erhaltenen Zahlungen gilt.[9] Die amtlichen Vordrucke für die Einkommen- und Körperschaftsteuererklärung setzen keine weiteren Erklärungen des Steuerpflichtigen voraus. Im Rahmen der Steuerveranlagung kann eine vertiefte Prüfung durch die Finanzbehörde also allenfalls dann erfolgen, wenn die Beteiligten die zugrunde liegenden Transaktionen von selbst offenlegen. Hierzu ist jedenfalls derjenige, der die Steuererstattung geltend gemacht hat, steuerlich verpflichtet. Diese Pflicht ist strafrechtlich sanktioniert. Denn gem. § 370 Abs. 1 S. 1 AO macht sich wegen Steuerhinterziehung strafbar, wer gegenüber der zuständigen Finanzbehörde unrichtige oder unvollständige Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen macht. Steuerlich erheblich sind Tatsachen nach der Rechtsprechung des BGH immer dann, wenn sie zur Ausfüllung eines Besteuerungstatbestands herangezogen werden müssen und damit Grund und Höhe des Steueranspruchs oder des Steuervorteils beeinflussen oder die Finanzbehörden in sonstiger Weise zur Einwirkung auf den Steueranspruch veranlassen könnten.[10]
Vorliegend hätte der Leerkauf unter Einschaltung einer ausländischen Depotbank auf Seiten des Leerverkäufers offengelegt werden müssen, da dieser für die Steueran-
rechnung von entscheidender Relevanz war. Denn bei außerbörslichen OTC-Aktiengeschäften ("over the counter") erwirbt der Aktienkäufer wirtschaftliches Eigentum noch nicht mit Abschluss des schuldrechtlichen Vertrages, sondern erst mit Einbuchung der Aktien in sein Wertpapierdepot.[11] Bei Aktienverkäufen über die Börse sorgt die Depotbank des Verkäufers nämlich durch einen Sperrvermerk dafür, dass dieser die Aktien nicht mehrfach veräußern kann. Dieser Sicherungsmechanismus fehlt jedoch gerade bei OTC-Geschäften.[12] Dort sind die Depotbanken des Käufers und Verkäufers am Zustandekommen des schuldrechtlichen Geschäfts nicht beteiligt, sondern übernehmen nur die sachenrechtliche Abwicklung des Erfüllungsgeschäfts. Deshalb kann der ursprüngliche Eigentümer erst mit der sachenrechtlichen Erfüllung, also der Einbuchung der Aktien in das Depot des Erwerbers, von weiteren Verfügungen über die Aktien ausgeschlossen werden.[13] Im Übrigen scheidet die mehrfache Erstattung einer nur einmal einbehaltenen und abgeführten Kapitalertragsteuer nach Ansicht der Finanzgerichte bereits denknotwendig aus.[14] Ohne Offenlegung der genauen Umstände wird zumindest konkludent erklärt, dass ein dem Steuerpflichtigen zurechenbarer Steuerabzug stattgefunden hat.[15]
Dabei handelt es sich um eine unrichtige oder jedenfalls unvollständige Angabe zu einer steuererheblichen Tatsache gem. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO.[16] Zwar stellten sich der Leerverkäufer und der Leerkäufer vor der gegenteiligen finanzgerichtlichen Rechtsprechung regelmäßig auf den Standpunkt, dass der Käufer bereits mit Vertragsschluss wirtschaftlicher Eigentümer gem. § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO i. V. m. § 29 Abs. 5 EStG geworden sei. Deshalb stünde ihm gem. § 36 Abs. 2, Abs. 4 EStG ein Anspruch auf Steueranrechnung oder -erstattung auf die Dividende zu.[17] Die Vorlage der Steuerbescheinigung sei insofern ausreichend. Tatsächlich ist die Steuerbescheinigung der Depotbank gem. § 36 Abs. 2 S. 2 EStG zwingende formelle Voraussetzung für die Steueranrechnung bzw. -erstattung. Jedoch reicht das Vorliegen einer ggf. falschen Steuerbescheinigung für die Anrechnung vermeintlich einbehaltener und abgeführter Kapitalertragsteuer keinesfalls aus. Vielmehr muss, wie der BGH in seinem aktuellen Cum-/Ex-Urteil vom 28.7.2021 ganz ausdrücklich betont, eine anzurechnende bzw. zu erstattende Steuer zuvor auch unbedingt erhoben worden sein.[18] Insofern dient die Steuerbescheinigung zwar als Anscheinsbeweis für den tatsächlichen Steuerabzug als materiell-rechtlicher Voraussetzung. Dieser Anscheinsbeweis lässt sich aber widerlegen, wie insbesondere das Cum-/Ex-Leerverkaufsmodell zeigt.[19]
Zwar darf sich der Steuerpflichtige gegenüber der zuständigen Finanzbehörde auf einen ihm günstigen Standpunkt selbst dann beziehen, wenn dieser falsch ist. Immer muss er jedoch über die steuerlich erheblichen Tatsachen richtig und vollständig vortragen, um der Finanzbehörde die Prüfung des Sachverhalts sowie eine ggf. abweichende Steuerfestsetzung zu ermöglichen.[20] Daran ändert auch der Umstand nichts, dass erst mit dem Gesetz zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen vom 21.12.2019[21] eine Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle eingeführt wurde. Denn diese durch den Gesetzgeber eingeführte Anzeigepflicht bezieht sich auf legale Steuergestaltungsmodelle. Die doppelte Anrechnung einer nur einfach einbehaltenen Kapitalertragsteuer stellte dagegen nach der finanz- und strafgerichtlichen Rechtsprechung auch schon vor In-Kraft-Treten des OGAW-IV-Umsetzungsgesetzes kein legales Steuergestaltungsmodell dar, sondern soll von Vornherein rechtlich unzulässig gewesen sein.[22]
Die Ausführungen oben zum Cum-/Ex-Leerverkaufsmodell zeigen, dass es mindestens sechs Beteiligte an den Wertpapiertransaktionen, typischerweise juristische Personen, gibt: Den ursprünglichen Inhaber der Aktien, den Leerverkäufer, den Leerkäufer sowie deren jeweilige Depotbanken.[23] Nur die Leitungspersonen und Mitarbeiter der beteiligten juristischen Personen können sich als natürliche Personen strafbar machen. Der in die Schweiz geflüchtete Angeklagte Dr. B. im Fall des OLG Frankfurt hatte die als Leerkäuferin auftretende GmbH gegründet und geleitet. Dr. B. soll als Rechtsanwalt und Steuerberater der Spiritus Rector, also die treibende Kraft hinter den Cum-/Ex-Geschäften in Deutschland gewesen sein. Seine GmbH hatte sich von ihrer Depotbank die inhaltlich falschen Steuerbescheinigungen ausstellen lassen, obwohl die ausländische Depotbank des Leerverkäufers tatsächlich keine Kapitalertragsteuer abgeführt haben soll. Im Rahmen ihrer Veranlagung zur Körperschaftssteuer hatte sich die GmbH die angeblich überhaupt nicht abgeführte Kapitalertragsteuer als Steuervorauszahlung anrechnen lassen, wodurch es vermeintlich zur doppelten Auszahlung der Steuer kam. Nach den Ermittlungsergebnissen hatte der Angeklagte gegenüber der zuständigen Sachbearbeiterin beim Finanzamt lediglich angegeben, dass der Geschäftszweck der GmbH darin liege, Aktien um den Dividendenstichtag zu kaufen und zu verkaufen. Dass es sich um Leerverkäufe handelte, legte er jedoch nicht offen.[24]
Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden hatte diesen Sachverhalt als Steuerhinterziehung in großem Ausmaß und damit in einem besonders schweren Fall gem. § 370 Abs.
3 Nr. 1 AO angeklagt. Das LG Wiesbaden hatte die Anklage entsprechend zugelassen und, als der Angeklagte wegen vermeintlicher gesundheitsbedingter Reiseunfähigkeit zu der Hauptverhandlung nicht erschien, Haftbefehl erlassen. In seiner Beschwerdeentscheidung vom 9.3.2021 sah das OLG Frankfurt darüber hinaus einen dringenden Tatverdacht wegen gewerbsmäßigen Betrugs gem. § 263 Abs. 5 StGB.[25] Der Beschwerdesenat sah den in die Schweiz geflüchteten Angeklagten als "Anfang und Ende des banden- und gewerbsmäßigen Betrugssystems". Alle an dem Cum-/Ex-Leerverkaufsmodell mitwirkenden natürlichen Personen auf Seiten des Leerverkäuferin, der Leerkäuferin, der ursprünglichen Inhaberin der Aktien und der Depotbanken hätten vorsätzlich als Bande gehandelt. Sie hätten die Finanzbehörden unter Vorlage erschlichener Steuerbescheinigungen irrtumsbedingt zur Auszahlung der fehlerhaft bescheinigten Kapitalertragsteuern zum Nachteil des deutschen Steuerzahlers veranlasst.
Das OLG Frankfurt machte in seinem Beschluss vom 9.3.2021 keinen Hehl daraus, dass es ihm durch die Hochstufung des Tatvorwurfs darum ging, die Auslieferung des in die Schweiz geflüchteten Angeklagten nach Deutschland gem. Art. 2 EuAlÜbk durchzusetzen. Der Beschwerdesenat verwies auf das Problem, dass eine Auslieferung wegen fiskalischer Straftaten gem. Art. 5 EuAlÜbK nur dann möglich ist, wenn einzelne Vertragsparteien dies miteinander vereinbaren. Die Schweiz hätte das diesbezügliche zweite Zusatzprotokoll vom 17.3.1978 jedoch gerade nicht unterzeichnet. Im Schweizer IRSG sei in Art. 3 Abs. 3 ausdrücklich geregelt, dass Auslieferungsersuchen wegen fiskalischer Straftaten nicht entsprochen würde. Nur im Bereich der Verbrauchsteuern, der Mehrwertsteuern und des Zolls sei die Schweiz gem. Art. 50 Abs. 1 des Schengener Durchführungs-Übereinkommens vom 14.6.1985 zur Rechtshilfe verpflichtet. Bei einem gemeinrechtlichen Betrug gem. Art. 146 Abs. 1 des schweizerischen StGB komme eine Auslieferung dagegen sehr wohl in Betracht. Hier greife § 3 Abs. 3 IRSG gerade nicht. Der 2. Strafsenat des OLG Frankfurt gab der Strafkammer und der Staatsanwaltschaft auf, die Haftbefehle und das Auslieferungsbegehren an die Schweiz neu zu fassen.
In seiner Entscheidung über die Anhörungsrüge des Angeklagten gem. § 33a StPO führte das OLG Frankfurt aus, warum seiner Meinung nach der Vorwurf der Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall gem. § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO den Vorwurf des banden- und gewerbsmäßigen Betruges gem. § 263 Abs. 5 StGB gerade nicht ausschließt. Insbesondere stellte sich der Beschwerdesenat auf den Standpunkt, dass die Steuerhinterziehung nur den einfachen Betrug verdränge, nicht dagegen den banden- und gewerbsmäßigen Betrug. Ein Verbrechenstatbestand gem. § 12 Abs. 1 StGB könne nämlich nicht durch einen einfachen Vergehenstatbestand gem. § 12 Abs. 2 StGB hintenangestellt werden.[26] Das OLG Frankfurt betonte zudem, dass der BGH den Tatbestand der Steuerhinterziehung nur im Bereich der indirekten Steuern als vorrangig ansehe, nicht aber bei den direkten Steuern.[27] Bestätigt fühlte sich das OLG Frankfurt durch § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO, der einen besonders schweren Fall der Steuerhinterziehung für banden- und gewerbsmäßiges Handeln bloß bei Umsatz- und Verbrauchssteuern sieht. Offenbar nimmt das OLG an, dass der Verbrechenstatbestand des gewerbsmäßigen Betruges nur bei Umsatz- und Verbrauchssteuern, nicht jedoch bei direkten Steuern zurücktritt.
Wie aus dem Entscheid der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts in der Schweiz vom 5.8.2021[28] hervorgeht, ersuchte bereits am 10.11.2020 und damit unmittelbar nach dem Erlass des Haftbefehls durch die Strafkammer gem. § 125 Abs. 2 StPO vom 26.10.2020 das Hessische Justizministerium das in der Schweiz zuständige Bundesamt für Justiz um die Auslieferung des Angeklagten. Den Beschluss des OLG Frankfurt vom 9.3.2021 über die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl reichte das Justizministerium offenbar nach. Der Angeklagte wurde daraufhin in der Schweiz in Auslieferungshaft genommen. Offenbar ist die Inhaftierung des Verfolgten während des gesamten Auslieferungsverfahrens in der Schweiz die Regel.[29] Die Aufhebung des Auslieferungshaftbefehls und Entlassung aus der Haft kommen nach den Ausführungen des Bundesstrafgerichts nur unter engen Voraussetzungen in Betracht. Sie sind insbesondere dann geboten, wenn das Auslieferungsersuchen offensichtlich unzulässig ist. Das ist dann der Fall, wenn ohne jeden Zweifel und ohne weitere erforderliche Abklärungen ein Ausschlussgrund deutlich ist.[30] Im Übrigen sind rechtliche Einwände gegen die Auslieferung als solche bzw. gegen die Begründetheit des Auslieferungsbegehrens nicht im Verfahren über die Beschwerde gegen die Auslieferungshaft, sondern im eigentlichen Auslieferungsverfahren selbst vorzubringen und zu prüfen.[31]
Das Bundesstrafgericht schließt in diesem Zusammenhang eine Strafbarkeit wegen Betrugs gem. § 146 sStGB nicht von Vornherein aus. Einen gemeinrechtlichen Betrug zum Nachteil des betroffenen Gemeinwesens begehe nach der Rechtsprechung des übergeordneten Bundesgerichts, "wer sich aus eigener Initiative dazu entschließt, sich durch Irreführung der Behörden unrechtmäßig zu bereichern, indem er auf raffinierte Weise fiktive Rückerstattungsansprüche existierender oder erfundener Personen geltend macht und mittels falscher Urkunden die Auszahlung erwirkt."[32] Das Bundesstrafgericht betont, dass der gemeinrechtliche Betrug die Verwendung falscher oder verfälschter Unterlagen keinesfalls zwingend voraussetzt. Es seien auch andere Fälle arglistiger Täu-
schung denkbar. Dem Auslieferungsersuchen zufolge ginge es, so das Bundesstrafgericht, nicht um eine Täuschung über den Umfang des Rückerstattungsanspruchs, sondern um an sich ungerechtfertigte Steuerrückerstattungen unter arglistiger Täuschung des Fiskus. Zwar sei auch in der Schweiz der steuerrechtliche Hinterziehungstatbestand als lex specialis gegenüber dem Betrugstatbestand vorrangig. Jedoch sei ein Fiskaldelikt nach schweizerischem Recht nicht denkbar, wenn die Verrechnungssteuer per se nicht geschuldet sei.[33] Deshalb wies das Bundesstrafgericht die Beschwerde des Angeklagten gegen den Auslieferungshaftbefehl ab und verwies ihn auf das Auslieferungsverfahren selbst.
Nach deutschem Recht sind Fälle, in denen die Existenz eines Unternehmens nur vorgetäuscht wird, für das sodann ohne Bezug auf reale Vorgänge fingierte Umsätze angemeldet und Vorsteuererstattungen begehrt werden, nicht als Betrug, sondern als Steuerhinterziehung zu ahnden.[34] § 370 AO schützt nämlich den Anspruch des Steuergläubigers auf den vollen Ertrag jeder einzelnen Steuer.[35] Die Vorsteuer ist im Verhältnis zum Umsatzsteueranspruch des Staates unselbständig. Der Steueranspruch wird deshalb nach der Rechtsprechung des BGH unabhängig davon beeinträchtigt, ob einer geltend gemachten Vergütung ein gegenüber dem Rechnungsempfänger tatsächlich bewirkter Umsatz zugrunde lag, oder ob die Vorsteuererstattung aufgrund einer Täuschung der Finanzbehörde ohne Umsatz erfolgt ist. Dem BGH zufolge kommt es deshalb für das Schutzgut des § 370 AO allgemein nicht auf den behaupteten Steuervorgang und seine Existenz an, sondern nur darauf, ob ein Steuervorteil von den Finanzbehörden zu Unrecht gewährt wird. Das ist für den BGH gerade im Umsatzsteuerrecht folgerichtig, da § 14 Abs. 3 UStG auch Scheinrechnungen der Umsatzsteuerpflicht unterwirft und insofern auch Nichtunternehmer erfassen kann. Der "Steuervorgang" sei somit nicht in der Bewirkung tatsächlicher Umsätze zu sehen, sondern in der den Ertrag des Steuergläubigers gefährdenden Handlung des Täters gegenüber der Finanzverwaltung.[36]
Entgegen der Interpretation des OLG Frankfurt stellt der BGH also nicht nur für das Umsatzsteuerrecht, sondern ganz allgemein darauf ab, ob von den Finanzbehörden zu Unrecht ein Steuervorteil erschlichen wird. Immer dann, wenn der vom Täter erstrebte Vorteil nur auf steuerrechtlichen Regelungen beruht, ist § 370 AO gegenüber § 263 StGB abschließend.[37] Im Übrigen ist der vom OLG Frankfurt entschiedene Cum-/Ex-Fall mit dem oben beschriebenen Umsatzsteuer-Fall des BGH unbedingt vergleichbar. Denn genauso wie die Vorsteuer im Verhältnis zur Umsatzsteuer steuerrechtlich unselbständig ist, ist auch die durch Abzug erhobene und auf die Einkommensteuer gem. § 36 Abs. 2 Nr. 2 lit. a EStG anzurechnende Kapitalertragsteuer gegenüber dieser unselbständig. Und genau wie im Fall des BGH die Scheinrechnungen von der Umsatzsteuerpflicht erfasst wurden, stellen auch die im Rahmen der Cum-/Ex-Geschäfte vereinnahmten Dividenden einkommensteuerpflichtige Kapitaleinkünfte gem. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG bzw. körperschaftssteuerpflichtige Einkünfte gem. § 8 KStG dar. § 370 AO ist deshalb nicht nur gegenüber dem einfachen, sondern auch gegenüber dem banden- und gewerbsmäßigen Betrug abschließend. Das ergibt sich aus dem vom BGH angenommenen Exklusivitätsverhältnis zwischen § 370 AO und § 263 StGB.[38]
Das OLG Frankfurt geht im Gegensatz dazu ersichtlich von einem Spezialitätsverhältnis aus. Doch selbst dann würde das Vergehen Steuerhinterziehung sowohl den einfachen als auch den als Verbrechen ausgestatteten banden- und gewerbsmäßigen Betrug verdrängen. Denn auch die privilegierende Spezialität schließt den Rückgriff auf das allgemeine Delikt aus, da ansonsten die Privilegierung konterkariert würde.[39] Im Jahr 2001 hatte der Gesetzgeber zudem einen eigenen Verbrechenstatbestand § 370a AO a. F. für gewerbs- und bandenmäßige Steuerhinterziehung in großem Ausmaß in die Steuerstrafrechtsvorschriften der AO aufgenommen.[40] Also ging seinerzeit offenbar der Gesetzgeber selbst davon aus, dass der banden- und gewerbsmäßige Betrug hinter die einfache Steuerhinterziehung zurücktritt. Sonst hätte er offensichtlich keinen gesonderten Verbrechenstatbestand im Steuerstrafrecht für erforderlich gehalten. Zudem hatte der Gesetzgeber, nachdem der BGH insbesondere im Hinblick auf die Gewerbsmäßigkeit verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Bestimmtheit des § 370a AO a. F. angemeldet hatte,[41] als Ersatz für den nachträglich wieder aufgehobenen Verbrechenstatbestand in § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO ein Regelbeispiel eines besonders schweren Falles der Steuerhinterziehung nur für die bandenmäßige Hinterziehung von Umsatz- und Verbrauchssteuern eingeführt.
Die bandenmäßige Hinterziehung direkter Steuern hielt der Gesetzgeber also offenbar nicht für besonders strafwürdig, solange es nicht um einen Hinterziehungsbetrag von großem Ausmaß gem. § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO geht. Das ergibt sich auch aus dem neuesten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung – Gesetz zur umfassenden Verfolgung der organisierten Steuerhinterziehung vom 13.1.2021.[42] Mit diesem noch nicht umgesetzten Gesetzentwurf soll das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO von Verbrauchs- und Umsatzsteuern auf sämtliche Steuervorteile erstreckt werden. Dies würde keinen Sinn machen, wenn direkte Steuern bereits von § 263 Abs. 5 StGB erfasst werden könnten. Gegen eine Erstreckung des Betrugstatbestands auf Sachverhalte, die durch Steuergesetze des Bundesgesetzgebers geregelt werden, spricht zudem § 4 Abs. 3 EGStGB. Nach dieser
Vorschrift bleibt der Betrugstatbestand allenfalls durch Steuervorschriften der Landesgesetzgeber unberührt.[43] Auch das Urteil des BGH zum strafrechtlichen Schutz von Nebenleistungen zeigt, dass, wenn überhaupt, nur Zahlungsansprüche des Fiskus, die nicht unter die Steuervorschriften des Bundesgesetzgebers fallen, unter den Schutz des § 263 StGB gestellt werden können.[44]
Dass im Gegensatz zu dem schweizerischen nach deutschem Recht selbst das Erschleichen ungerechtfertigter steuerlicher Vorteile und Erstattungen nicht unter den Betrugstatbestand fällt, ergibt sich zudem aus § 370 Abs. 1 S. 1 Var. 2 und Abs. 3 Nr. 5 Var. 2 AO. Danach fällt nicht nur die Steuerverkürzung, sondern auch die Inanspruchnahme ungerechtfertigter Steuervorteile unter die Steuerhinterziehung, die nach der Rechtsprechung des BGH gegenüber dem Betrugstatbestand abschließend ist.[45]
Wie sich oben aus Abschnitt IV. ergibt, lag das OLG Frankfurt materiell-rechtlich also falsch. Fraglich ist aber, ob es sich bei der Hochstufung des Tatvorwurfs auch um eine verfahrensrechtlich unzulässige Verböserung ("reformatio in peius") handelte. Jedoch erschöpft sich die Entscheidung des OLG ihrem Tenor nach darin, die Beschwerde gegen den Haftbefehl zurückzuweisen. Zwar zielte das OLG durch die Hochstufung darauf ab, die Auslieferung des Angeklagten durch die Schweiz gem. § 2 EuAlÜbk zu ermöglichen. Die rechtliche Neubewertung durch das OLG ist allerdings für das Auslieferungsverfahren in der Schweiz nicht bindend. Denn die Gerichte in der Schweiz prüfen autonom, ob der von den deutschen Behörden geschilderte Sachverhalt nach schweizerischem Recht strafbar ist und ob er den Ausschlussgrund des § 3 Abs. 3 IRSG (Fiskaldelikt) erfüllt oder nicht. Wie § 331 Abs. 2 StPO zeigt, bedeuten nachteilige strafrechtliche Nebenfolgen zudem noch keine Verböserung. Selbst wenn eine Verböserung anzunehmen sein sollte, wäre diese überdies nicht unzulässig. Für das Beschwerderecht ist ein Verböserungsverbot nämlich gerade nicht vorgesehen.
Selbst auf die Berufung oder Revision hin darf gem. §§ 331 Abs. 1, 358 Abs. 2 StPO das Urteil nur in Art und Höhe der unmittelbaren Rechtsfolge nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden, wenn nur dieser oder zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft das Rechtsmittel eingelegt hat. Der Strafvorwurf selbst darf aber abgeändert werden. Dasselbe muss erst recht für den Haftbefehl gelten. Denn dieser stellt "nur" vorläufig einen, wenn auch dringenden, Tatverdacht fest. Das eigentliche Urteil durch die Strafkammer auf der Grundlage der Hauptverhandlung mit der Beweiserhebung steht noch aus. Der Beschwerdesenat hätte dem Angeklagten jedoch rechtliches Gehör gewähren und einen rechtlichen Hinweis geben müssen.[46] Dabei ist § 33 Abs. 3 StPO nicht allein ausschlaggebend. Denn natürlich hatte der Angeklagte, wie in § 33 Abs. 3 StPO vorgesehen, Gelegenheit, zu den in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft enthaltenen Tatsachenfeststellungen, vorläufigen Beweisergebnissen und rechtlichen Würdigungen Stellung zu nehmen. Jedoch brauchte er trotzdem nicht damit zu rechnen, dass das Beschwerdegericht den Strafvorwurf von einem Vergehen zu einem Verbrechen hochstuft. Die prozesstaktischen Erwägungen der Staatsanwaltschaft, auf die das OLG Frankfurt abstellte, sind einem Angeklagten nämlich regelmäßig nicht bekannt, sofern sie nicht in der Ermittlungsakte festgehalten sind. Da der Angeklagte "Herr" über das Beschwerdeverfahren war, hätte ihm das Beschwerdegericht durch einen rechtlichen Hinweis Gelegenheit dazu geben müssen, seine Beschwerde zurückzunehmen und einer für ihn möglicherweise präjudiziellen Entscheidung somit von Vornherein die Grundlage zu entziehen.
Schließlich zeigt auch § 265 Abs. 1 StPO, dass das Gericht den Angeklagten regelmäßig auf die Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunktes gegenüber der zugelassenen Anklage hinzuweisen hat. Durch den unterbliebenen rechtlichen Hinweis, den scheinbar vorverurteilenden Ton sowie die möglicherweise unangebrachten Strafzumessungserwägungen in seinen Beschlüssen über die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl hat sich der 2. Strafsenat des OLG Frankfurt möglicherweise gem. § 24 Abs. 1 StPO der Besorgnis der Befangenheit ausgesetzt. Für künftige Beschwerden des Angeklagten sollte er deshalb aus Sicht des Verfassers nicht mehr zuständig sein.
In seinem Beschluss vom 9.3.2021 ordnete das der 2. Strafsenat des OLG Frankfurt zwar an, dass die Strafkammer den Tatvorwurf in dem Haftbefehl entsprechend seiner Entscheidung hochstufen sollte. Zudem sollte die Staatsanwaltschaft nunmehr wegen des Vorwurfs aus dem Kernstrafrecht das Auslieferungsverfahren gem. Art. 2 EuAlÜbK betreiben. Hierbei handelte es sich jedoch offensichtlich bloß um unverbindliche Anregungen bzw. "Segelanweisungen" und gerade nicht um Weisungen mit dem Anspruch auf Rechtsverbindlichkeit und Befolgung. Das Beschwerdegericht kann die Strafkammer nämlich überhaupt nicht anweisen, in der Auslegung einer Strafnorm auch nur vorläufig zu einem bestimmten Ergebnis zu kommen. Die Entscheidung ist nach dem System der StPO dem erkennenden Tatrichter, hier also der Strafkammer, vorbehalten, solange nicht das zuständige Revisionsgericht die Rechtsfrage gem. § 358 Abs. 1 StPO in einem bestimmten Sinne klärt. Auch § 120 Abs. 1 S. 2 StPO zeigt, dass das Beschwerdegericht gerade nicht aufgrund einer abweichenden Rechtsauslegung, die das erkennende Gericht nicht vertritt, Haft anordnen kann.[47]
Schließlich ergibt sich auch aus § 265 Abs. 1 StPO, dass nur die Strafkammer aufgrund der Hauptverhandlung mit ihrer Beweiserhebung und erst nach einem rechtlichen Hinweis auf geänderte rechtliche Gesichtspunkte von der zugelassenen Anklage abweichen darf.
Das OLG Frankfurt konnte auch nicht rechtsverbindlich anordnen, dass die Staatsanwaltschaft wegen des hochgestuften Tatvorwurfs aus dem Kernstrafrecht nunmehr das Auslieferungsverfahren gem. Art. 2 EuAlÜbK betreibt. Das ergibt sich schon daraus, dass die Staatsanwaltschaft für ein Auslieferungsersuchen überhaupt nicht zuständig ist. Hierzu ist vielmehr gem. Nr. 88 Abs. 1 RiVaSt allein die oberste Landesjustizbehörde, also das Landesjustizministerium, berufen. Die Staatsanwaltschaft kann die Stellung eines Auslieferungsersuchens allenfalls beim Landesjustizministerium anregen.
Wie sich aus dem Entscheid des Bundesstrafgerichts in der Schweiz vom 5.8.2021 ergibt, hatte das Hessische Justizministerium bereits lange vor der Beschwerdeentscheidung des OLG Frankfurt vom 9.3.2021, in der dieses den Tatvorwurf zu einem Verbrechen aus dem Kernstrafrecht hochstufte, den Auslieferungsantrag beim Bundesamt für Justiz in der Schweiz gestellt. Den Beschluss des OLG reichte es dann offenbar nach. Wegen des Betrugsvorwurfs ordnete das Bundesamt für Justiz, bestätigt durch das Bundesstrafgericht, Auslieferungshaft an. Dabei könnte es sich jedoch um ein Eigentor der deutschen Strafverfolgungsbehörden gehandelt haben. Denn gem. § 3 Abs. 3 IRSG dürfen die Schweizer Behörden, wie oben ausgeführt, nicht aufgrund von Fiskaldelikten ausliefern. Selbst wenn sich die schweizerische Justiz davon überzeugen lassen sollte, den Angeklagten wegen eines gemeinrechtlichen Betruges gem. § 146 sStGB nach Deutschland auszuliefern, was noch nicht abschließend[48] feststeht, kann die Auslieferung gem. § 38 S. 1 lit. a IRSG nur unter der Bedingung erfolgen, dass Deutschland ihn nicht wegen einer vor der Auslieferung begangenen Handlung, für welche die Auslieferung nicht bewilligt wurde, verfolgt (Grundsatz der Spezialität).
Wie das OLG Frankfurt in seinem Beschluss vom 6.5.2021 zurecht ausführte, haben der Betrug und die Steuerhinterziehung unterschiedliche Zielrichtungen. Das Unrecht der Steuerhinterziehung besteht darin, dass der Täter seine steuerlichen Offenbarungs- und Wahrheitspflichten verletzt und dadurch Steuern verkürzt. Auch der Betrug zielt auf einen rechtswidrigen Vermögensvorteil ab. Voraussetzung für einen Betrug ist jedoch, dass der Täter über Tatsachen täuscht. Dadurch muss das Betrugsopfer zu einer Vermögensverfügung verleitet werden. Der Betrugstatbestand setzt also voraus, dass die Täuschung des Täters den Irrtum des Getäuschten hervorruft, der Irrtum zu einer Vermögensverfügung und diese dann zu einem Vermögensschaden führt.[49] Bei der Steuerhinterziehung dagegen bedarf es nicht einmal einer Täuschung des zuständigen Finanzbeamten.[50] Bei Betrug auf der einen und Steuerhinterziehung auf der anderen Seite könnte es sich somit um unterschiedliche Handlungen bzw. Lebenssachverhalte i. S. d. § 38 S. 1 lit. a IRSG handeln. Dann wäre aber bei einer wegen gemeinrechtlichen Betruges erfolgten Auslieferung eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung nicht mehr möglich.
Bedingungen, die der ausländische Staat an die Auslieferung knüpft, sind nämlich gem. § 72 IRG (Deutsches Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen) zwingend zu beachten. Aus ihnen kann sich in Deutschland ein Verfahrenshindernis ergeben.[51] Ist eine Verurteilung des Angeklagten in Deutschland wegen Betruges aufgrund der entgegenstehenden Rechtsprechung des BGH nicht möglich, kann er aufgrund des Spezialitätsgrundsatzes womöglich auch nicht mehr wegen Steuerhinterziehung belangt werden. Dann ginge der Angeklagte trotz der materiell-rechtlich möglicherweise gegebenen Steuerhinterziehung straffrei aus. Das Strafverfahren gegen ihn in Deutschland wäre aufgrund des Verfahrenshindernisses der Spezialität von der Strafkammer gem. § 206a Abs. 1 StPO einzustellen.
Aus Sicht des Verfassers ist eine Auslieferung des Angeklagten aus der Schweiz nach Deutschland unwahrscheinlich. Denn auch der schweizerischen Justiz sollte im weiteren Fortgang des Auslieferungsverfahrens auffallen, dass eine Verurteilung des Angeklagten in Deutschland wegen Betruges aufgrund entgegenstehender BGH-Rechtsprechung nicht in Betracht kommt und dann aber auch eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung aufgrund des Spezialitätsgrundsatzes ausscheiden würde. Wenn eine Verurteilung im ersuchenden Staat von Vornherein aus Rechtsgründen scheitert, dürfte nach Schweizer Recht ein zwingend gegen die Auslieferung sprechender Ausschlussgrund greifen. Die Hochstufung des Tatvorwurfs durch das OLG Frankfurt könnte somit vergebens gewesen und die Schweiz für den Angeklagten weiterhin ein geeignetes Refugium sein.
[*] Der Verfasser Dr. Philipp Fölsing ist Rechtsanwalt in Hamburg.
[1] OLG Frankfurt 2 Ws 132/20, Beschluss v. 9.3.2021.
[2] Vgl. Rübenstahl WiJ 2020, 90.
[3] Vgl. BGH 1 StR 519/20, Urteil v. 28.7.2021, Rn. 8.
[4] Vgl. BGH 1 StR 519/20, Urteil v. 28.7.2021, Rn. 7.
[6] Vgl. Rübenstahl WiJ 2020, 90, 91.
[8] Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des 4. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes (Cum-/Ex-Untersuchungsausschuss), BT-Drucks. 18/12700, S. 220.
[9] Vgl. BFH BStBl. II 2009, 842; BFH/NV 2008, 845.
[10] Vgl. BGH NStZ-RR 2003, 20, Rn. 20.
[11] Vgl. FG Hessen 4 V 723/20, Beschluss v. 6.4.2021, Rn. 254.
[12] Vgl. FG Hessen EFG 2017, 656, Rn. 95.
[13] Vgl. FG Hessen WM 2016, 829, Rn. 78.
[14] Vgl. FG Köln ZIP 2020, 217, Rn. 361, Revision wird beim BFH unter dem Aktenzeichen I R 22/20 geführt.
[15] Vgl. LG Bonn 62 KLs – 213 Js 41/19 – 1/19, Urteil v. 18.3.2020, Rn. 1577.
[16] Vgl. BGH 1 StR 519/20, Urteil v. 28.7.2021, Rn. 41.
[17] Grözinger jurisPR-StrafR 15/2021, Anm. 1.
[18] Vgl. BGH 1 StR 519/20, Urteil v. 28.7.2021, Rn. 55.
[19] Vgl. FG Hessen EFG 2017, 656, Rn. 120.
[20] Vgl. LG Wiesbaden 6 KLs 1111 Js 27125/12, Beschluss v. 10.12.2020.
[22] Vgl. BGH Pressemitteilung Nr. 146/2021 v. 28.7.2021.
[23] Vgl. Rübenstahl WiJ 2020, 90, 91.
[24] LG Wiesbaden 6 KLs 1111 Js 27125/12, Beschluss v. 10.12.2020.
[25] OLG Frankfurt 2 Ws 132/20, Beschluss v. 9.3.2021.
[26] OLG Frankfurt 2 Ws 132/20, Beschluss v. 6.5.2021, Rn. 11.
[27] OLG Frankfurt 2 Ws 132/20, Beschluss v. 6.5.2021, Rn. 22 unter Verweis auf BGHSt 40, 109.
[28] Bundesstrafgericht RH.2021.8, Entscheid v. 5.8.2021, Abschnitt A..
[29] Vgl. BGE 136 IV 20 E. 2.2; 130 II 306, E. 2.2.
[30] Vgl. BGE 111 IV 108 E. 3a.
[31] Vgl. Bundesstrafgericht RH.2021.8, Entscheid v. 5.8.2021 Abschnitt Q. 3..
[32] Vgl. BGer 1A297/2005, Urteil v. 13.1.2016, E. 3.3; BGE 110 IV 24; Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, WD 7 – 3000 – 139/20, S. 10/11.
[33] Bundesstrafgericht RH.2021.8, Entscheid v. 5.8.2021, Abschnitt Q. 4.2.
[34] Vgl. BGHSt 40, 109, Rn. 5.
[35] Vgl. BGHSt 36, 100, Rn. 8.
[36] Vgl. BGHSt 40, 109, Rn. 9.
[37] Vgl. Herbertz HRRS 2012, 318, 322.
[38] Vgl. BGHSt 40, 109, Rn. 10/1.
[39] Vgl. BGHSt 49, 34 = HRRS 2004 Nr. 88, Rn. 14; Grözinger jurisPR-StrafR 15/2021, Anm. 1.
[41] Vgl. BGH NJW 2004, 2990 = HRRS 2004 Nr. 714.
[43] Vgl. BGH NStZ 2009, 157 = HRRS 2008 Nr. 572, Rn. 20.
[44] Vgl. BGHSt 43, 381, Rn. 89.
[45] Vgl. BGHSt 36, 100, Rn. 6.
[46] Vgl. OLG München 1 Ws 305/21, Beschluss vom 31.5.2021, Rn. 15.
[47] Vgl. BGH StV 2004, 143.
[48] Das Bundesamt für Justiz als in der Schweiz zuständige Verwaltungsbehörde hat dem Auslieferungsersuchen am 20.8.2021 zwar stattgegeben. Gegen diese Entscheidung sind jedoch Rechtsmittel vor dem schweizerischen Bundesstrafgericht und in letzter Instanz vor dem schweizerischen Bundesgericht möglich.
[49] Vgl. OLG Frankfurt 2 Ws 132/20, Beschluss v. 6.5.2021, Rn. 14/5.
[50] Vgl. BGH NJW 2011, 1299 = HRRS 2011 Nr. 334, Rn. 29.
[51] Vgl. BGHSt 57, 138 = HRRS 2012 Nr. 309, Rn. 19.