HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2021
22. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

944. BGH 3 StR 518/19 – Urteil vom 1. Juli 2021 (LG Kiel)

BGHSt; Einziehung von Taterträgen (Einziehungsbeteiligte; Wertersatz; Surrogat; Gegenstand; Verstoß gegen Handelsbeschränkungen; Genehmigungsfähigkeit; normative Betrachtung; Abzugsverbot; Versuch; Herstellungs- und Transportkosten; erlangtes Etwas; partielle Gesamtrechtsnachfolge; Auslandsgeschäfte; Verkehrswert; Zeitpunkt der Wertermittlung; Verjährung der Erwerbstat; Einwendung gegen den Schuldspruch; Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts; effektiver Rechtsschutz); Ausdrucke originär digital vorhandener Dokumente als präsente Beweismittel.

§ 245 Abs. 2 StPO; § 431 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO; § 73 Abs. 1, Abs. 3 StGB; § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 StGB; § 73c Satz 1 StGB; § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB; Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG; Art. 13 EMRK

1. Ausdrucke einer ansonsten nur digital vorhandenen E-Mail stellen präsente Beweismittel im Sinne des § 245 Abs. 2 StPO dar. (BGHSt)

2. Die Verjährung der Erwerbstaten ist eine Einwendung gegen den Schuldspruch i.S.d. § 431 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO. Sie unterliegt daher nur dann der Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts, wenn die einschränkenden Voraussetzungen des § 431 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 StPO gegeben sind. Dem stehen verfassungs- und konventionsrechtliche Belange, insbesondere Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 13 EMRK, nicht entgegen (Fortführung von BGH, Beschluss vom 10. Juli 2018 – 1 StR 628/17, juris). (BGHSt)

3. Führt der Täter Güter ohne die erforderliche Genehmigung aus, umfasst das aus der Tat Erlangte i.S.d. § 73 Abs. 1 StGB nicht nur die für das Genehmigungsverfahren ersparten Aufwendungen, sondern sämtliche aus der Tat bezogenen Vermögenswerte. Dies gilt ungeachtet der Genehmigungsfähigkeit der Ausfuhr (Aufgabe von BGH, Urteil vom 19. Januar 2012 – 3 StR 343/11, BGHSt 57, 79 Rn. 14 ff., 19). Diese wirkt sich auch nicht auf die Abzugsfähigkeit der Aufwendungen nach § 73d Abs. 1 StGB aus. (BGHSt)

4. § 73b Abs. 1 Nr. 2 StGB gilt auch für rechtsgeschäftliche Übertragungen im Wege partieller Gesamtrechtsnachfolge. Wird nicht das ursprünglich Erlangte, sondern dessen Wertersatz übertragen, ist die Haftung des Übernehmenden nach § 73b Abs. 2 StGB auf den Wert der übertragenen Vermögenswerte beschränkt und er-fordert auch nach der Gesetzesnovelle einen Bereicherungszusammenhang in dem Sinne, dass die Verschiebung mit der Zielrichtung vorgenommen wird, den Wertersatz dem Zugriff des Gläubigers zu entziehen oder die Tat zu verschleiern. (BGHSt)

5. Für die Wertbestimmung des Erlangten können grundsätzlich auch Auslandsgeschäfte in den Blick genommen werden. So finden etwa – unabhängig von dem Sitz der Drittbegünstigten – durch legale Weiterverkäufe im Ausland erzielte Erlöse Berücksichtigung (Aufgabe von BGH, Urteil vom 6. Februar 1953 – 2 StR 714/51, BGHSt 4, 13, und RG, Urteil vom 13. November 1919 – I 460/19, RGSt 54, 45). (BGHSt)

6. Das Abzugsverbot des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB gilt auch für versuchte Taten. (BGHSt)

7. Eine Wertersatzeinziehung nach § 73b Abs. 2 StGB setzt auch nach neuem Recht in subjektiver Hinsicht eine Entziehungs- oder Verschleierungsmotivation voraus. Erforderlich ist in diesen Fällen ein Bereicherungszusammenhang des Inhalts, dass aufgrund einer Gesamtschau Grund zu der Annahme besteht, mit den in Frage stehenden Transaktionen sollte das Ziel verfolgt werden, das durch die Tat unmittelbar begünstigte Vermögen des Täters oder eines weiteren Dritten dem Gläubigerzugriff zu entziehen oder die Tat zu verschleiern. (Bearbeiter)

8. Erlangt ein Anderer unter den Voraussetzungen des § 73b Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 StGB einen Gegenstand, der dem Wert des Erlangten entspricht, oder gezogene Nutzungen, so ordnet das Gericht auch deren Einziehung an (§ 73b Abs. 2 StGB). Gegenstände im Sinne des § 73b Abs. 2 StGB sind dabei nur individualisierte Sachen und Rechte; ersparte Aufwendungen werden insoweit nicht erfasst. (Bearbeiter)

9. Nach geltendem Recht ist eine Wertersatzeinziehung für Surrogate nicht zulässig. § 73c StGB bezieht sich, wie aus dessen Satz 2 folgt, allein auf die Einziehung des zunächst durch die Tat Erlangten, nicht hingegen auf die Einziehung des Werts von Surrogaten. Das Einziehungsrecht sieht insoweit ausschließlich die Einziehung des Surrogats vor und ist daher nur dann möglich, wenn dieses Surrogat im Zeitpunkt der Einziehungsentscheidung bei dem Betroffenen noch vorhanden ist. (Bearbeiter)

10. Weder Art. 19 Abs. 4 GG noch Art. 13 EMRK begründen einen Anspruch auf Anfechtbarkeit einer richterlichen Entscheidung oder gewährleisten einen Instanzenzug. Soweit der Gesetzgeber eine weitere Instanz eröffnet, garantiert Art. 19 Abs. 4 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ lassen. Auch nach Art. 13 EMRK muss ein einmal eingeräumter Rechtsbehelf wirksam, das heißt zugänglich und

geeignet sein, entweder die behauptete Verletzung oder ihre Fortdauer zu verhindern oder bereits erlittenen Verletzungen angemessen abzuhelfen. (Bearbeiter)

11. Die Rechtsprechung, wonach der Ablichtung einer Urkunde nicht die Qualität eines präsenten Beweismittels im Sinne des § 245 Abs. 2 StPO zukommt, ist nicht auf Fälle originär elektronischer Dokumente (hier: E-Mail bzw. E-Mail-Anhang) zu übertragen. Solche elektronischen Urkunden müssen dem Tatgericht nicht ebenfalls elektronisch übermittelt werden. (Bearbeiter)


Entscheidung

996. BGH 4 StR 143/21 – Beschluss vom 5. August 2021 (LG Bielefeld)

Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen des Beschuldigten (mangelnde Belehrung: Revisionsbegründung, Vortragen von rügevernichtenden Umständen nur bei konkreten Anhaltspunkten notwendig, fehlendes Auswirken auf das Aussageverhalten des Zeugen).

§ 52 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist zwar anerkannt, dass ein Beschwerdeführer auch rügevernichtende Umstände vortragen muss. Dies gilt aber nur dann, wenn sich aus dem von der Revision selbst vorgetragenen oder aus Protokoll und Akteninhalt ersichtlichen Verfahrensablauf konkrete Anhaltspunkte für einen Sachverhalt ergeben, welcher der erhobenen Rüge die Grundlage entziehen kann.


Entscheidung

922. BGH Ermittlungsrichter 2 BGs 408/20 – Beschluss vom 16. Dezember 2020

Grundsatz der Aktenwahrheit und -vollständigkeit bei Prüfung durch den Ermittlungsrichter (Richtervorbehalt; Rechtsstaatsprinzip; Staatsanwaltschaft als Herrin des Vorverfahrens; Antrag unter Beifügen einer Auswahl; konkludente Zusicherung; be- und entlastende Umstände; Unvollständigkeit; freiheitsentziehende Maßnahmen; Haft- und Unterbringung; Vermerk sämtlicher Ermittlungsmaßnahmen; Unzulässigkeit einer „vorläufigen Ermittlungsakte“; Staatsschutzsachen).

§ 147 StPO; § 161 StPO; § 162 StPO; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG

1. Durch den Richtervorbehalt wird eine vorbeugende Kontrolle der beantragten Ermittlungsmaßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz garantiert, die insbesondere dafür zu sorgen hat, dass die Interessen des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden. Um eine eigenverantwortliche und ordnungsgemäße Prüfung durch den Richter zu ermöglichen, ist es erforderlich, dass die Ermittlungsbehörden die Einhaltung des Grundsatzes der Aktenwahrheit und der Aktenvollständigkeit gewährleisten.

2. Die Staatsanwaltschaft als Herrin des Vorverfahrens hat gewissenhaft dafür Sorge zu tragen, dass der Ermittlungsrichter seine Entscheidungen auf der Grundlage aller maßgeblichen, bis zu dem jeweiligen Zeitpunkt angefallenen – be- und entlastenden – Ermittlungsergebnisse treffen kann. Schließt die Staatsanwaltschaft ihrem Antrag auf Anordnung einer gerichtlichen Untersuchungshandlung (§ 162 StPO) nur ausgewählte Teile der Ermittlungsakten bei, so erklärt sie hierdurch stets zugleich, dass diese Auswahl nach ihrer eigenverantwortlichen Prüfung dem besagten Maßstab entspricht.

3. Ist eine von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Auswahl entgegen einer konkludenten Vollständigkeitserklärung für die Entscheidung der konkreten gerichtlichen Untersuchungshandlung unvollständig, kann dies im Einzelfall den Verlust der hierdurch erlangten Beweismittel besorgen lassen. Zugleich besteht in diesen Verfahrenskonstellationen grundsätzlich kein Raum mehr, auch fortan weitere ermittlungsrichterliche Anordnungen lediglich auf der Grundlage einer staatsanwaltschaftlichen Auswahl von Ermittlungsergebnissen zu erwirken. Vielmehr ist jedenfalls von diesem Zeitpunkt an grundsätzlich die Vorlage der gesamten Ermittlungsakte zur Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen der beantragten gerichtlichen Untersuchungshandlungen erforderlich.

4. Soll im Ermittlungsverfahren ein Haft- oder Unterbringungsbefehl und damit eine freiheitsentziehende Ermittlungsmaßnahme erwirkt werden, kommt allerdings die Vorlage nur ausgewählter Aktenteile nicht in Betracht. Denn die entsprechende Dokumentation des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens als Grundlage einer eigenverantwortlichen und unabhängigen Anordnung des Ermittlungsrichters sichert gerade auch den effektiven Rechtsschutz des Beschuldigten bei beantragten Freiheitsentziehungen im strafprozessualen Ermittlungsverfahren ab und verleiht dem in Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Richtervorbehalt und seiner Sicherungsfunktion besondere Wirkmacht.

5. Es steht nicht im Belieben der Ermittlungsbehörden, ob sie strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen in den Akten vermerken. Die Akten sollen die lückenlose Information über die im Verfahren angefallenen schriftlichen Unterlagen gewährleisten. Es ist den Ermittlungsbehörden daher grundsätzlich die Vornahme einer Selektion ebenso verwehrt wie das – auch zeitweilige – Fernhalten von Erkenntnissen aus den Akten. Lediglich Einzelheiten der Durchführung und des Verlaufs konkreter Untersuchungshandlungen müssen in der Regel nicht zwingend angegeben werden.

6. Unvereinbar mit den strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Maßgaben ist eine „vorläufige Ermittlungsakte“, in der – verstanden als Provisorium – die Ermittlungshandlungen zunächst dokumentiert werden, allerdings unter dem Vorbehalt, später eine neue Aktenordnung, eine vollständig andere Sortierung oder gar einen anderen Inhalt der Akten „aufzubauen“. Dessen ungeachtet besteht freilich in Einzelfällen die Möglichkeit, Aktenteile etwa der Leitakte zu entnehmen, einem anderen (Sonder-) Band der Verfahrensakten beizuschließen und dies – etwa durch Fehlblätter – aktenkundig zu machen. Für einen jederzeit möglichen vollständigen „Aktenumbau“ besteht hingegen kein rechtlich schutzwürdiges Bedürfnis.

7. Auch in Ermittlungsverfahren wegen Staatsschutzsachen werden die „schützenden Formen“ des deutschen Strafprozesses nicht suspendiert; die Aktenführung muss auch hier eine zuverlässige Rekonstruktion des Verfahrensstandes

ermöglichen und namentlich belegen, welche Verdachtsmomente gegen einen konkreten Beschuldigten zu welchem Zeitpunkt im Verfahren vorlagen.


Entscheidung

923. BGH Ermittlungsrichter 2 BGs 751/20 – Beschluss vom 10. März 2021

Versagung von Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft im vorbereitenden Verfahren (gerichtliche Entscheidung; Gefährdung des Untersuchungszwecks; Informationsvorsprung der Staatsanwaltschaft; Begründung der Entscheidung; inhaftierter Angeklagter; nicht auf freiem Fuß; im Ausland vollstrecke Auslieferungshaft; Haftbefehl).

§ 147 Abs. 5 StPO

1. Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren gemäß § 147 Abs. 5 Satz 1 Hs. 1 StPO die Staatsanwaltschaft. Versagt diese die Akteneinsicht, so kann gemäß § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO gerichtliche Entscheidung beantragt werden, wenn die Staatsanwaltschaft den Abschluss der Ermittlungen in der Akte vermerkt hat, die Einsicht in privilegierte Unterlagen nach § 147 Abs. 3 StPO versagt worden ist oder der Beschuldigte sich nicht auf freiem Fuß befindet. Zuständig hierfür ist der Ermittlungsrichter (§ 162 Abs. 1 Satz 1, § 169 StPO). In anderen als den genannten Fällen ist diese Entscheidung der Anklagebehörde regelmäßig nicht anfechtbar.

2. Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks durch Akteneinsicht des Verteidigers liegt vor, wenn nach den Umständen des Einzelfalls zu befürchten ist, dass bei Gewährung von Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt ist. Erforderlich, aber auch hinreichend ist, dass die Ermittlungsakten dem Beschuldigten unbekannte Erkenntnisse enthalten und eine Gesamtwürdigung der Art der Tatbegehung und der Person des Beschuldigten die Besorgnis rechtfertigt, es werde bei Kenntnisnahme des Beschuldigten zu verfahrensfremden, den Erfolg der Untersuchung gefährdenden Flucht- oder Verdunkelungshandlungen kommen.

3. Akteneinsicht kann regelmäßig versagt werden, wenn die Staatsanwaltschaft strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, wie etwa die Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen, vorbereitet. Konnte ein Haftbefehl gegen den Beschuldigten noch nicht vollstreckt werden, bestehen eine Gefährdung des Untersuchungszwecks und damit auch das Interesse der Verfolgungsbehörden, dem Beschuldigten Ermittlungswissen vorzuenthalten, in der Regel bis zu dessen Verhaftung in besonderem Maße. Dagegen können vage und entfernte Gefahrenlagen oder rein technische oder praktische Schwierigkeiten, die beantragte Akteneinsicht zu gewähren, etwa die notwendige Rückforderung der bei der Polizei zwecks Durchführung der Ermittlungen befindlichen Akten, nicht zur Begründung der Gefährdung des Untersuchungszwecks herangezogen werden. 4. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Entscheidung, Akteneinsicht mit Blick auf eine Gefährdung des Untersuchungszwecks zu versagen, grundsätzlich zu begründen. Werden zum Zeitpunkt des Akteneinsichtsbegehrens noch verdeckte Maßnahmen geführt oder aber deren Vollstreckung gerade vorbereitet, so reicht der Hinweis auf laufende Ermittlungsmaßnahmen regelmäßig aus. Folgt indes im Einzelfall bereits aus einer Begründung selbst eine Gefährdung des Untersuchungszwecks, so wird diese dem Verteidiger nicht bekannt gegeben. Stets aber hat die Staatsanwaltschaft die ihre Ablehnung tragenden Erwägungen aktenkundig zu machen.

5. Der Beschuldigte befindet sich nicht auf freiem Fuß i.S.d. § 147 Abs. 5 Satz 2 Alt. 3 StPO, wenn er sich im nämlichen Ermittlungsverfahren in Untersuchungshaft (§§ 112, 127b StPO) oder in einer einstweiligen Unterbringung befindet (§ 126a StPO). Dies gilt außerdem bei im Ausland vollstreckter Auslieferungshaft, wenn die Akteneinsicht in dem dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegende Strafverfahren versagt worden ist.


Entscheidung

1013. BGH 6 StR 307/21 – Beschluss vom 27. Juli 2021 (LG Dessau-Roßlau)

Umfang der Pflichtverteidigung (Pflichtverteidigung im Adhäsionsverfahren).

§ 140 StPO; § 143 Abs. 1 StPO; § 403 StPO

Der Senat vertritt die Auffassung, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers auch die Vertretung im Adhäsionsverfahren umfasst. Ist die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig im Sinne von § 140 StPO, so erstreckt sich diese Notwendigkeit auf das gesamte Verfahren (§ 143 Abs. 1 StPO), mithin auch auf die Verteidigung gegen Adhäsionsanträge.


Entscheidung

990. BGH 2 StR 325/20 – Beschluss vom 12. August 2021 (LG Erfurt)

Darstellungsmangel bei einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung (Nachvollziehbarkeit für das Revisionsgericht: Angabe der Spurenart, Anzahl untersuchter Systeme, Übereinstimmungen, Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der festgestellten Merkmalskombination bei einer weiteren Person, Auswahl der Vergleichspopulation bei fremder Ethnie; reduzierte Darlegungsanforderungen bei DNA-Analysen bezogen auf eindeutige Einzelspuren und ohne Besonderheiten in der forensischen Fragestellung: Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der festgestellten Merkmalskombination bei einer weiteren Person, Angabe des Wahrscheinlichkeitsergebnisses in numerischer Form; Mischspuren: Geltung der für Einzelspuren entwickelten Grundsätze bei der Darstellung im Falle des Vorliegens einer eindeutigen Hauptkomponente); molekulargenetische Vergleichsuntersuchungen (Indizwirkung); Wohnungseinbruchdiebstahl; Einziehung des Wertes von Taterträgen.

§ 267 StPO; § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 73c StGB

1. Die Darstellung der Ergebnisse einer auf einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung beruhenden Wahrscheinlichkeitsberechnung ist so auszugestalten, dass diese für das Revisionsgericht nachvollziehbar ist. Deshalb muss das Tatgericht in den Urteilsgründen unter Angabe der Spurenart grundsätzlich mitteilen, wieviele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergaben, mit welcher – numerischen – Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer

weiteren Person zu erwarten ist und, sofern der Angeklagte einer fremden Ethnie angehört, inwieweit dieser Umstand bei der Auswahl der Vergleichspopulation von Bedeutung war.

2. Reduzierte Darlegungsanforderungen bestehen bei DNA-Analysen, die sich auf eindeutige Einzelspuren beziehen und keine Besonderheiten in der forensischen Fragestellung aufweisen; in diesen Fällen genügt die Mitteilung, mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten wäre. Erforderlich ist aber auch dann die Angabe des Wahrscheinlichkeitsergebnisses in numerischer Form; eine Mitteilung in verbalisierter Form – etwa „es bestünden keine begründeten Zweifel“ an der Spurenurheberschaft des Angeklagten – reicht mangels dahingehend vereinheitlichter Skala bislang jedenfalls nicht.

3. Bei Mischspuren, also Spuren, die mehr als zwei Allele in einem System aufweisen und demnach von mehr als einer einzelnen Person stammen, wird von den Tatgerichten grundsätzlich weiterhin verlangt, in den Urteilsgründen mitzuteilen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergaben und mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist. Lediglich in Fällen, in denen Mischspuren eine eindeutige Hauptkomponente aufweisen (sog. Typ B), gelten für die Darstellung der DNA-Vergleichsuntersuchung die für Einzelspuren entwickelten Grundsätze.


Entscheidung

957. BGH Ermittlungsrichter 6 BGs 4/21 – Beschluss vom 3. Februar 2021

Zurückstellung der Benachrichtigung des Betroffenen über verdeckte Maßnahmen (Gefährdung des Untersuchungszwecks; Zeitpunkt der Benachrichtigung; tragfähige Anhaltspunkte; Erkenntnisse aus Bezugsverfahren; gerichtliche Nachprüfung; Abwägung; effektive Strafverfolgung; Belange des Betroffenen; effektiver Rechtsschutz; Verhältnismäßigkeit).

§ 101 StPO; Art. 19 Abs. 4 GG

1. Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks (§ 101 Abs. 5 StPO) ist ab dem grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt nach Beendigung der verdeckt geführten Ermittlungsmaßnahme so lange gegeben, wie die begründete Erwartung besteht, dass durch die verdeckte Ermittlungsführung weitere beweiserhebliche Erkenntnisse gewonnen werden können. Werden in demselben Ermittlungsverfahren mehrere verdeckte Untersuchungshandlungen nach § 101 Abs. 1 StPO parallel oder sukzessive durchgeführt, so kann auch nach Beendigung einer Maßnahme deren Bekanntgabe zunächst unterbleiben, weil eine entsprechende Mitteilung die weitere Erforschung des Sachverhalts im Hinblick auf eine andere, noch verdeckt geführte Maßnahme gefährden könnte (§ 101 Abs. 6 Satz 4 StPO).

2. Tragfähige Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Untersuchungszwecks durch die Benachrichtigung des Beschuldigten von einer gegen ihn durchgeführten verdeckten Maßnahme können auch in Erkenntnissen eines anderen Ermittlungsverfahrens erblickt werden. Ist dort die Auswertung der Erkenntnisse noch nicht abgeschlossen und belegt die bisherige Verdachtslage die – über bloße Vermutungen hinausgehende – Annahme, dass zwischen den Beteiligten zur Tatzeit etwa persönliche Beziehungen bestanden, namentlich ein Nachrichtenaustausch auch über Nachrichtenmittler erfolgte, kann dies eine vorläufige weitere Zurückstellung zum Schutze des Untersuchungszwecks gebieten.

3. Stützt die Staatsanwaltschaft ihren Antrag auf solche Erkenntnisse aus einem Bezugsverfahren, ist der schlichte Hinweis auf noch ausstehende Auswertungen allerdings unzureichend. Erforderlich ist eine substantiierte, tatsachengestützte Darlegung der Gefährdung des Untersuchungszwecks anhand der konkreten Erkenntnis- und Verdachtslage sowie die Vorlage der vollständigen Ermittlungsakten, auch des in Bezug genommenen Verfahrens, um eine eigenverantwortliche gerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen.

4. Der Gesetzgeber fordert bei der Entscheidung über die Zurückstellung der Unterrichtung eine Abwägung zwischen den Belangen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege einerseits und den Rechtsschutzinteressen des Betroffenen anderseits. Dabei kommt der in Zeitabständen wiederkehrenden eigenverantwortlichen und nicht auf eine Plausibilitätsprüfung, etwa anhand eines Aktenvermerks nach § 101 Abs. 5 Satz 2 StPO, beschränkten gerichtlichen Kontrolle die Bedeutung zu, die Zurückstellung der an sich zu veranlassenden Benachrichtigung in zeitlicher Hinsicht auf das unbedingt Erforderliche zu begrenzen.

5. Von Bedeutung für die gebotene Abwägung ist etwa, ob mit der noch nicht bekannt gewordenen Maßnahme beweiserhebliche Erkenntnisse erlangt werden könnten, etwa durch an die Auswertung zeitlich und inhaltlich anschließenden Folgemaßnahmen. Weiterhin ist in die gebotene Abwägung die Art und Weise der Verfahrensführung einzustellen. Wird dem Ermittlungsverfahren zeitweise oder gar längerfristig ohne einen durch die Verfahrensakten dokumentierten Sachgrund nicht der notwendige zügige Fortgang eingegeben, ist auch dieser Aspekt zu bewerten.

6. Die Belange des Betroffenen gewinnen mit zunehmender Dauer der Zurückstellung an Gewicht. Die gegenteilige Annahme, das Benachrichtigungsinteresse nehme mit der Dauer des Verfahrens ab und sei am größten unmittelbar im Nachgang zur staatlichen Datenerhebung, beruht auf einem Fehlschluss und wäre überdies unvereinbar mit dem normativen Gewicht des rechtlich geschützten Anspruchs eines Grundrechtsträgers auf spätere Kenntnisnahme von staatlichen Ermittlungsmaßnahmen, die in seine Rechtsposition eingreifen oder eingegriffen haben.

7. Die Zurückstellung der Benachrichtigung wegen einer Gefährdung des Untersuchungszwecks hat schließlich auch den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit zu genügen. Hier ist neben der Dauer der Zurückstellung, der Verfahrenskomplexität und den Bemühungen um einen zügigen Verfahrensabschluss auch die Art und

Tiefe erfolgter Eingriffe in Rechtspositionen des Betroffenen einzustellen.


Entscheidung

1035. BGH 6 StR 303/21 – Beschluss vom 14. Juli 2021 (LG Dessau-Roßlau)

Urteilsgründe (lückenhafte Beweiswürdigung; Darstellung der Ergebnisse einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung: DNA-Mischspuren).

§ 267 StPO

Bei DNA-Mischspuren muss grundsätzlich mitgeteilt werden, wie viele DNA-Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen mit den DNA-Merkmalen des Angeklagten ergaben und mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist. Bei einer Mischspur, in der eine Hauptkomponente erkennbar ist, genügt ausnahmsweise die Mitteilung des Ergebnisses der biostatistischen Wahrscheinlichkeitsberechnung in numerischer Form, wenn die Peakhöhen von Hauptkomponente zu Nebenkomponente durchgängig bei allen heterozygoten DNA-Systemen im Verhältnis 4 : 1 stehen.


Entscheidung

994. BGH 2 StR 348/20 – Beschluss vom 15. April 2021 (LG Bonn)

Schuldfähigkeit (Schädigung des Gehirns: allgemeine Sachkunde des Gerichts nicht ausreichend, spezialisierter Sachverständiger, Anhaltspunkte für ein Abweichen von der Norm aus psychiatrischer Sicht, fehlendes Berufen des Angeklagten auf eine Erkrankung); Beweiswürdigung (Beweisantrag ins Blaue hinein).

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht die allgemeine Sachkunde eines Gerichts regelmäßig nicht aus, soweit es um die Beurteilung der Auswirkungen von Schädigungen des Gehirns auf die Schuldfähigkeit geht. Erforderlich ist vielmehr die Hinzuziehung eines auf Hirnverletzungen spezialisierten Sachverständigen, der mit apparativen Untersuchungen hirnorganische Ursachen und Auswirkungen einer Schädigung feststellen kann.

2. Dies kann nicht ersetzt werden durch eigene Erwägungen des Tatrichters, zu denen er aufgrund seiner „Beobachtung des Verhaltens in der Hauptverhandlung“ und aufgrund einer tatrichterlichen Bewertung von für die Beurteilung der Schuldfähigkeit bedeutsamen Umständen wie etwa seiner schulischen und beruflichen Entwicklung gekommen ist. Werden mit ärztlichem Attest Umstände unter Beweis gestellt, die auch nur möglicherweise Anhaltspunkte für ein Abweichen von der Norm aus psychiatrischer Sicht enthalten, scheidet eine auf eigene Sachkunde gestützte Ablehnung des Beweisantrags aus. Dies gilt selbst dann, wenn der Angeklagte sich selbst nicht auf diese Erkrankung beruft.


Entscheidung

939. BGH 3 StR 443/20 – Beschluss vom 20. Mai 2021 (LG Bad Kreuznach)

Prozessuale Tat als Gegenstand der Urteilsfindung (einheitlicher geschichtlicher Vorgang; einheitliches Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens; Veränderung im verfahrensverlauf; Nämlichkeit der Tat; Tatort, Tatzeit und Tatbild); rechtlicher Hinweis (Eindeutigkeit; Vermeidung von Überraschungsentscheidungen).

§ 264 StPO; § 265 StPO

1. Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Die Tat als Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet.

2. Verändert sich im Verlaufe des Verfahrens das Bild des Geschehens, wie es in der Anklageschrift und dem Eröffnungsbeschluss umschrieben ist, so ist die Prüfung der Frage, ob die Identität der prozessualen Tat trotz Veränderung des Tatbildes noch gewahrt ist, nach dem Kriterium der „Nämlichkeit“ der Tat zu beurteilen. Dies ist – ungeachtet gewisser Unterschiede – dann der Fall, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als ein einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt

3. Ein rechtlicher Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO muss eindeutig sein und den Angeklagten und seinen Verteidiger in die Lage versetzen, die Verteidigung auf den neuen rechtlichen Gesichtspunkt einzurichten. Daher muss für den Angeklagten und den Verteidiger aus dem Hinweis allein oder in Verbindung mit der zugelassenen Anklage nicht nur erkennbar sein, auf welches Strafgesetz nach Auffassung des Gerichts eine Verurteilung möglicherweise gestützt werden kann, sondern auch, durch welche Tatsachen das Gericht die gesetzlichen Merkmale des Straftatbestandes als möglicherweise erfüllt ansieht. Der Hinweis muss geeignet sein, dem Angeklagten Klarheit über die tatsächliche Grundlage des abweichenden rechtlichen Gesichtspunktes zu verschaffen und ihn vor einer Überraschungsentscheidung zu bewahren.

4. Zwar ergibt sich aus § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO nicht, dass ein Hinweis auf ein anderes in Betracht kommendes Strafgesetz nach § 265 Abs. 1 StPO in jedem Fall auch ausdrücklich die Tatsachen benennen muss, durch die nach Auffassung des Gerichts die Merkmale des neu in Betracht gezogenen Straftatbestandes erfüllt sein können. Vielmehr kann weiterhin im Einzelfall bei einem Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO die bloße Bezeichnung der neu in Betracht kommenden Gesetzesbestimmungen ausreichen; dies gilt insbesondere bei unveränderter Sachlage, aber auch, wenn die tatsächlichen Grundlagen des neu in Betracht gezogenen Straftatbestandes für den Angeklagten ohne Weiteres zweifelsfrei ersichtlich sind.

5. In aller Regel muss allerdings auch ein Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO, sofern ihm nicht lediglich eine abweichende rechtliche Beurteilung eines unverändert gebliebenen Sachverhalts zu Grunde liegt, klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, auf welche tatsächlichen Annahmen sich der neue Strafbarkeitsvorwurf stützt, um eine Überraschungsentscheidung zu verhindern und zu gewährleisten, dass sich der Angeklagte sachgerecht verteidigen kann.


Entscheidung

958. BGH 1 StR 109/21 – Beschluss vom 16. Juni 2021 (LG Konstanz)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen; Ausschluss von Scheinerinnerungen).

§ 261 StPO

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt die sichere Verneinung von Pseudoerinnerungen voraus, dass entweder suggestive Einflüsse ausgeschlossen oder weitere Beweise angeführt werden, mit denen die Richtigkeit der Zeugenaussage belegt werden kann (BGH, Urteil vom 20. Mai 2015 – 2 StR 455/14 Rn. 19).


Entscheidung

931. BGH 3 StR 156/21 – Beschluss vom 29. Juni 2021 (LG Wuppertal)

Beweiswürdigung bei Einführung von Urkunden im Wege des Vorhalts (Aussage; Erinnerung der Vernehmungsperson; Verlesung; Inbegriff der Hauptverhandlung).

§ 261 StPO; § 249 StPO

Die Einführung von Urkunden im Wege des Vorhalts ist zwar möglich, unterliegt aber Grenzen. Denn Beweisgrundlage ist in diesen Fällen nicht das vorgehaltene Schriftstück, sondern das, was die Vernehmungsperson hierzu erklärt. Nur die Aussage wird zum verwertbaren Teil des Inbegriffs der Verhandlung. Bei längeren oder komplexen Urkunden besteht die Gefahr, dass der Zeuge den Sinn der schriftlichen Erklärung auf den mündlichen Vorhalt hin nicht richtig oder nur unvollständig erfasst oder den genauen Wortlaut eines Schriftstücks nicht zuverlässig erinnert. In solchen Fällen muss die Urkunde für eine ordnungsgemäße Einführung gemäß § 249 Abs. 1 StPO verlesen werden.


Entscheidung

949. BGH 5 StR 199/21 – Beschluss vom 18. August 2021 (LG Bremen)

Keine verständigungsbezogene Mitteilungspflicht bei bloßer Erörterung der Rechtslage (abstrakte Möglichkeit der Verständigung in einer bestimmten Konstellation; minder schwerer Fall als Gegenstand der Verständigung; Verständigungsbezug; Konnex zwischen prozessualem Verhalten und Verfahrensergebnis; Rechtsgespräche über den Verfahrensstand); Subsidiarität der erweiterten Einziehung.

§ 243 Abs. 4 StPO; § 257c StPO; § 73 StGB; § 73a StGB

1. Die abstrakte Erörterung der (Vor-)Frage, ob aus Rechtsgründen überhaupt eine Verständigung in einer bestimmten Konstellation – hier: Annahme eines minder schweren Falles als Gegenstand der Verständigung – möglich ist, stellt noch keine konkrete verständigungsbezogene und deshalb mitteilungspflichtige Erörterung im Sinne von § 243 Abs. 4 StPO dar, sondern eine bloße Erörterung der Rechtslage.

2. Die Mitteilungspflicht gem. § 243 Abs. 4 StPO greift ein, sobald bei im Vorfeld oder neben der Hauptverhandlung geführten Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum stehen. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn Fragen des prozessualen Verhaltens in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht werden und damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung naheliegt. Selbst wenn Gesprächsteilnehmer verständigungsbezogene Themen aufgreifen, müssen ihre Erörterungen nicht zwingend Mitteilungspflichten auslösen, denn es ist auch in solchen Fällen vorstellbar, dass die Unterredungen lediglich als mitteilungsirrelevante Rechtsgespräche über den Verfahrensstand nach § 212 StPO einzustufen sind.


Entscheidung

932. BGH 3 StR 185/21 – Beschluss vom 14. Juli 2021 (LG Oldenburg)

Fristwahrung bei Rechtsmittel durch inhaftierten Rechtsmittelführer (Ausschöpfung bis zum letzten Tag; Berücksichtigung von organisatorischem Aufwand; Zumutbarkeit).

§ 299 StPO; § 341 StPO

1. Zwar darf eine Rechtsmittelfrist grundsätzlich bis zum letzten Tag ausgeschöpft werden. Allerdings hat der Rechtsmittelführer dabei den zeitlichen und organisatorischen Aufwand in Rechnung zu stellen, dessen es bedarf, damit die Rechtsmittelerklärung in der gesetzlich vorgeschriebenen Form innerhalb der Frist gegenüber der zuständigen Stelle abgegeben wird.

2. Ein inhaftierter Rechtsmittelführer kann wegen des jeweiligen organisatorischen Aufwands für die Justizvollzugsanstalt und das Gericht nicht darauf vertrauen, dass ihm zu jeder Zeit und innerhalb kürzester Frist auf ein Rechtsmittel bezogene Erklärungen gemäß § 299 Abs. 1 StPO zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts, in dessen Bezirk er untergebracht ist, ermöglicht werden können. Eine Beeinträchtigung der Prozessgrundrechte eines inhaftierten Rechtsmittelführers aus Art. 103 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG ist damit nicht verbunden; auch einem Inhaftierten ist es zuzumuten, die ihm möglichen Maßnahmen zur Vermeidung anstaltsbedingter Verzögerungen bei der fristgebundenen Rechtsmittelbegründung zu ergreifen.


Entscheidung

967. BGH 1 StR 157/21 – Beschluss vom 15. Juli 2021 (LG München I)

Zuständigkeitsänderung nach Aussetzung der Hauptverhandlung (Übernahmebeschluss, konkludente Übernahmeentscheidung bei Anordnung einer einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhauses durch das Landgericht); Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (erforderliche Feststellungen zur Schuldunfähigkeit aufgrund eines psychischen Defekts).

§ 225a Abs. 1 StPO; § 74 Abs. 1 Satz 2 GVG; § 126a Abs. 1 StPO; § 63 StGB; § 20 StGB; § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO

Für eine wirksame Verfahrensübernahme durch das Landgericht nach Aussetzung der Hauptverhandlung

bedarf es grundsätzlich eines Übernahmebeschlusses gemäß § 225a Abs. 1 Satz 2 StPO. Der Senat neigt jedoch dazu, in Fällen, in denen das Landgericht nach Abgabe eines Verfahrens durch das Amtsgericht einen einstweiligen Unterbringungsbeschluss erlässt, eine konkludente Übernahmeentscheidung zu bejahen. In einem solchen Fall, in dem dem empfangenden Gericht die exklusive Zuständigkeit für das Verfahren gesetzlich zugewiesen ist, liegt in einer allein in der konkreten Verfahrensart vorgesehenen Entscheidung gleichzeitig eine Manifestation der sachlichen Zuständigkeit.


Entscheidung

978. BGH 1 StR 287/20 – Urteil vom 29. Juni 2021 (LG München I)

Aufklärungsrüge (Begründungsanforderungen); Inbegriffsrüge (keine umfassende Auseinandersetzung mit allen Beweismitteln im Urteil erforderlich).

§ 244 Abs. 2 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 261 StPO; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

Für die erforderliche Begründung einer Aufklärungsrüge ist eine bestimmte Tatsache, die das Gericht zu ermitteln unterlassen hat, und das Beweismittel zu bezeichnen, dessen es sich hätte bedienen sollen. Darüber hinaus muss bestimmt behauptet und konkret angegeben werden, welche Umstände das Gericht zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen und welches Ergebnis von der unterbliebenen Beweiserhebung zu erwarten gewesen wäre. Wird ein Aufklärungsmangel aus dem Inhalt einer im Ermittlungsverfahren erfolgten Zeugenvernehmung hergeleitet, so bedarf es grundsätzlich deren vollständiger inhaltlicher Wiedergabe.


Entscheidung

921. BGH Ermittlungsrichter 1 BGs 340/21 – Beschluss vom 6. August 2021

Antrag des Untersuchungsausschusses auf Aufhebung der Geheimhaltung von Beweismitteln (Statthaftigkeit; Zulässigkeit; Fortbestehen des Untersuchungsausschusses; Abschlussbericht; Zeitpunkt der Entscheidung; Deutscher Bundestag; keine Rechtsnachfolge in die Antragsberechtigung; Erheblichkeit für die Untersuchung; öffentliches Interesse).

§ 30 PUAG; Art. 44 GG

1. Einen Antrag gem. § 30 Abs. 4 Satz 2 PUAG, mit dem die Aufhebung einer vom Untersuchungsausschuss zunächst vorgenommenen Einstufung von Beweismitteln als „geheim“ für zulässig erklärt werden soll, kann ausschließlich der Untersuchungsausschuss oder ein Viertel seiner Mitglieder stellen. Da die Zulässigkeitsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen müssen, fehlt es an der Antragsberechtigung, wenn der Untersuchungsausschuss in diesem Zeitpunkt aufgrund der Besprechung und Kenntnisnahme seines Abschlussberichts durch das Plenum aufgehört hat zu existieren. Eines Auflösungsbeschlusses des Deutschen Bundestages bedarf es insoweit nicht.

2. Der Deutsche Bundestag tritt regelmäßig nicht als Rechtsnachfolger des Untersuchungsausschusses in dessen Antragsberechtigung ein. Träger des Untersuchungsrechts aus Art. 44 GG ist zwar der Bundestag selbst. Allerdings sieht Art. 44 Abs. 1 GG vor, dass der Bundestag für die Durchführung der Untersuchung einen Untersuchungsausschuss einsetzt, der in öffentlicher Verhandlung die erforderlichen Beweise erhebt. Der Deutsche Bundestag ist hiernach zwar der Herr über das „ob“ und das „inwieweit“ einer Untersuchung, er kann sich aber nicht selbst als Untersuchungsausschuss einsetzen und auch nicht selbst als ein solcher handeln.

3. Gemäß § 30 Abs. 3 PUAG kann der Untersuchungsausschuss nach Durchsicht und Prüfung der in § 30 Abs. 1 PUAG bezeichneten Beweismittel die Aufhebung der Einstufung in den Geheimhaltungsgrad „geheim“ beschließen, soweit die Beweismittel für die Untersuchung erheblich sind. Dies ist regelmäßig ausgeschlossen, wenn der Untersuchungsausschuss seine Untersuchung im Zeitpunkt der Antragsstellung bereits beendet hat.


Entscheidung

1011. BGH 6 StR 84/21 – Urteil vom 11. August 2021 (LG Cottbus)

Verfahrensrüge (eingeschränkte Stoßrichtung: Dispositionsbefugnis des Revisionsführers); Zeugnisverweigerungsrecht (Genehmigung der Verwertung der Aussage im Ermittlungsverfahren durch den Zeugen: erforderliche qualifizierte Belehrung).

§ 252 StPO; § 352 Abs. 1 StPO

1. Der Revisionsführer kann seine Verfahrensbeanstandung in seiner Stoßrichtung einschränken. Das Revisionsgericht ist an eine solche Disposition des Revisionsführers gebunden.

2. Die Vorschrift des § 252 StPO schließt jede Verwertung der bei einer nichtrichterlichen Vernehmung gemachten Aussage aus. Zwar kann der sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht berufende Zeuge die Verwertung seiner Angaben im Ermittlungsverfahren gestatten; dies setzt aber eine qualifizierte Belehrung über die Folgen dieser Freigabe voraus.


Entscheidung

999. BGH 4 StR 200/20 – Beschluss vom 22. Juli 2021 (LG Siegen)

Ausschließung der Öffentlichkeit (Begründungspflicht: Zweck, Verstoß, Verneinung des absoluten Revisionsgrundes im Einzelfall); sexueller Missbrauch von Kindern (Alter des Opfers zum Zeitpunkt der Tat unklar).

§ 174 Abs. 1 Satz 3 GVG; § 176 Abs. 1 StGB

Die Begründung i.S.d. § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG dient neben der Selbstkontrolle des Gerichts auch der Unterrichtung der Öffentlichkeit und der Nachprüfbarkeit durch das Revisionsgericht. Nicht erforderlich ist eine ausdrückliche Aufklärung der Zuhörer über Inhalt und Bedeutung der Vorgänge in der Hauptverhandlung, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt werden sollen. Sofern für die Zuhörer im Gerichtssaal ohne weiteres erkennbar war, auf welche Prozesshandlung sich der Ausschluss beziehen sollte, und das Revisionsgericht sicher ausschließen kann, dass eine andere Entscheidung in Betracht kam, ändert dies zwar nichts daran, dass bei Fehlen oder unzureichender Begründung des Öffentlichkeitsausschlusses i.S.d. § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG ein Verstoß gegen die Begründungspflicht vorliegt. Angesichts des Zwecks der Begründungspflichten kann aber im Einzelfall ein Verstoß, der nur das Verfahren über den Ausschluss der Öffentlichkeit betrifft und nicht zu deren

unzulässiger Beschränkung führt, nicht so schwer wiegen, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO zu bejahen wäre.


Entscheidung

934. BGH 3 StR 195/21 – Beschluss vom 27. Juli 2021 (LG Krefeld)

Von der Anklage bezeichneten Taten als Gegenstand der Urteilsfindung (Umgestaltung der Strafklage; Identität; einheitlicher Vorgang; Serienstraftaten; Umgrenzungsfunktion).

§ 264 Abs. 1 StPO

1. Nur die von der Anklage bezeichneten Taten im Sinne von § 264 Abs. 1 StPO sind Gegenstand der Urteilsfindung. Zwar hat das Gericht die angeklagten Taten im verfahrensrechtlichen Sinne erschöpfend abzuurteilen; hierzu gehört das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang darstellt. In diesem Rahmen muss das Tatgericht seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden.

2. Diese Umgestaltung der Strafklage darf aber nicht dazu führen, dass die Identität der von der Anklage umfassten Tat nicht mehr gewahrt ist, weil das ihr zugrundeliegende Geschehen durch ein anderes ersetzt wird. Bei Serienstraftaten können der Ort und die Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die ihm innewohnende Richtung, also die Art und Weise der Tatverwirklichung, und das Opfer die Vielzahl der Fälle ausreichend konkretisieren, sodass nicht nur die Umgrenzungsfunktion gewahrt ist, sondern auch die Übereinstimmung von angeklagtem und ausgeurteiltem Sachverhalt überprüft werden kann.


Entscheidung

1004. BGH 6 StR 125/21 – Urteil vom 28. Juli 2021 (LG Neubrandenburg)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit: Berücksichtigung lediglich abstrakt-theoretischer, für den Angeklagten günstiger Möglichkeiten; DNA-Mischspuren: verbleibender Beweiswert).

§ 261 StPO

1. Entlastende Angaben eines Angeklagten, für deren Richtigkeit es keine zureichenden Anhaltspunkte gibt, sind nicht ohne Weiteres als unwiderlegt hinzunehmen und den Feststellungen zugrunde zu legen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Das Tatgericht hat die Angaben des Angeklagten vielmehr – ebenso wie andere Beweismittel – auf ihre Plausibilität und ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und sich aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung zu bilden.

2. Das Tatgericht darf Zweifeln keinen Raum geben, die lediglich auf einer abstrakt-theoretischen Möglichkeit gründen, denn es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat.

3. Bei DNA-Mischspuren ist grundsätzlich die Mitteilung des numerischen Ergebnisses der biostatistischen Wahrscheinlichkeitsberechnung erforderlich, wenn der Tatnachweis auf DNA-Mischspuren gestützt werden soll. Dies bedeutet aber nicht, dass den Ergebnissen der DNA-Vergleichsuntersuchung ohne biostatistische Wahrscheinlichkeitsberechnung keinerlei Beweiswert beigemessen werden kann.