HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2020
21. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

549. BVerfG 2 BvL 5/17 (Zweiter Senat) – Beschluss vom 11. März 2020 (LG Stade)

Verfassungsmäßigkeit einer Strafnorm des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs (konkrete Normenkontrolle; Richtervorlage; Besetzung des vorlegenden Gerichts; verfassungsgerichtliche Kontrolle unionsrechtlich determinierter Vorschriften bei Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten; Bestimmtheitsgebot; kompetenzsichernde und freiheitsgewährende Funktion; Zulässigkeit gesetzlicher Verweisungen; hinreichende Bestimmtheit der Verweisungsnorm; Verweisung auf Rechtsverordnungen; Verweisung auf Unionsrecht; Zulässigkeit von Blankettstrafnormen mit Entsprechungs- und Rückverweisungsklausel; Erkennbarkeit des gesetzlichen Regelungsgehalts; Leitbild eines sach- und fachkundigen Normadressaten; Bestimmtheit von Verordnungsermächtigungen; Entscheidung des Gesetzgebers über Inhalt und Programm der Ermächtigung).

Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 100 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; Art. 4 Abs. 3 AEUV; § 13 Abs. 1 Nr. 1 LFGB; § 13 Abs. 1 Nr. 2 LFGB; § 58 Abs. 1 Nr. 18 LFGB; § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB; § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB; § 3 Abs. 1 Nr. 2 LMRStV; Verordnung (EG) Nr. 853/2004; § 76 Abs. 1 Satz 1 GVG

1. Zur Vereinbarkeit einer Blankettstrafnorm mit Rückverweisungs- und Entsprechungsklausel mit den Bestimmtheitsanforderungen nach Art. 103 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG sowie nach Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. (BVerfG)

2. Der Vorlagebeschluss nach Art. 100 Abs. 1 GG ist in der Besetzung zu fassen, die für die Entscheidung vorgeschrieben ist, bei der es auf die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes ankommt. Gehören dem Spruchkörper Laienrichter an, müssen diese die Vorlage mit beschließen. Hat eine Strafkammer die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht in der Besetzung mit den Schöffen beschlossen und dabei bereits ihre Auffassung von der Verfassungswidrigkeit der Strafnorm zum Ausdruck gebracht, so kann sie die nähere Begründung in einem nur durch die Berufsrichter gefassten Beschluss nachholen oder ergänzen. (Bearbeiter)

3. Die zur Ausfüllung von Unionsrecht erlassenen nationalen Rechtsakte sind einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich, soweit für die Mitgliedsstaaten ein Gestaltungsspielraum besteht. Gleiches gilt, wenn eine innerstaatliche Rechtsvorschrift nicht der Umsetzung, sondern der Ergänzung und Durchführung zwingenden Unionsrechts dient. (Bearbeiter)

4. Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verlangt, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass der Normadressat im Regelfall bereits anhand des Gesetzeswortlauts voraussehen kann, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht. (Bearbeiter)

5. Allerdings sind Blankettstrafgesetze, bei denen der Gesetzgeber die Beschreibung des Straftatbestandes durch eine Verweisung auf andere Normen ersetzt, verfassungsrechtlich unbedenklich, sofern das verweisende Gesetz den Bezugspunkt der Verweisung hinreichend klar erkennen lässt. Dies gilt auch für Blankettstrafgesetze, die Zuwiderhandlungen gegen unmittelbar anwendbare Rechtsakte der Europäischen Union mit Strafe bewehren und zu diesem Zweck auf das Unionsrecht verweisen. (Bearbeiter)

6. Legt eine Blankettstrafnorm das strafbare Verhalten nicht vollständig selbst oder durch Bezugnahme auf ein anderes Gesetz fest, sondern erst durch Verweis auf eine Rechtsverordnung, so müssen die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger schon aufgrund des Gesetzes, nicht erst aufgrund der hierauf gestützten Verordnung erkennbar sein. Die Grundentscheidung über die Strafbarkeit muss der Gesetzgeber selbst treffen. Diese Anforderungen betreffen auch den Fall, dass ein Blankettstrafgesetz auf das Unionsrecht verweist. (Bearbeiter)

7. Bei § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB handelt es sich um eine Blankettstrafnorm, die das verbotene Verhalten in seinem Kern als Zuwiderhandlung gegen unmittelbar geltende Vorschriften des Unionsrechts über die industrielle Herstellung von Lebensmitteln beschreibt. Die Regelungstechnik, eine solche Zuwiderhandlung nur dann unter Strafe zu stellen, wenn die Unionsnorm einem Ge- oder Verbot im Sinne des § 58 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 17 LFGB entspricht und wenn eine nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB zu erlassende Rechtsverordnung für einen bestimmten Tatbestand einen entsprechenden Rückverweis enthält (sog. Entsprechungs- und Rückverweisungsklausel), trägt der kompetenzsichernden Funktion des Bestimmtheitsgebots noch hinreichend Rechnung. Denn dem unionsrechtlich zum Tätigwerden verpflichteten Verordnungsgeber verbleibt dabei kein substantieller Ausgestaltungsspielraum, sondern ihm obliegt nur die Konkretisierung technischer Details sowie die Prüfung, ob er die Norm des Unionsrechts als (nationale) Verordnung hätte erlassen dürfen. (Bearbeiter)

8. Jedenfalls soweit die Vorschrift des § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB über § 58 Abs. 1 Nr. 18 LFGB auf § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB verweist, genügt sie auch den Anforderungen der freiheitssichernden Komponente des Bestimmtheitsgebotes. Wenngleich der Normadressat gehalten ist, den gesetzlichen Verweisungen zu folgen und diese gedanklich zu einer Gesamtnorm zusammensetzen, führt der deutlich erhöhte Aufwand bei der Normlektüre noch nicht dazu, dass der gesetzliche Regelungsgehalt nicht mehr erkennbar wäre. Denn es ist das Leitbild eines sach- und fachkundigen Normadressaten zugrunde zu legen, von dem gerade im Bereich der industriellen Lebensmittelverarbeitung typischerweise besondere Sach- und Fachkenntnisse zu erwarten sind. (Bearbeiter)

9. Gesetze, die zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigen, müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen. Welche Anforderungen dabei an das Maß der Bestimmtheit zu stellen sind, hängt zum einen von der Intensität der Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen ab; zum anderen darf der Gesetzgeber berücksichtigen, ob – wie typischerweise bei der Umsetzung supranationaler Vorgaben – ein Bedürfnis besteht, Regelungen rasch und allgemeinverbindlich zu treffen. (Bearbeiter)

10. Zur näheren Bestimmung von Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Verordnungsermächtigung kann der Gesetzgeber auch Rechtsakte anderer Normgeber heranziehen und auch auf Normen und Begriffe des Rechts der Europäischen Union verweisen. Im Falle dynamischer Verweisungen sind der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit durch die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Bundesstaatlichkeit allerdings enge Grenzen gezogen. (Bearbeiter)

11. Die Verordnungsermächtigung des § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB genügt den Bestimmtheitsanforderungen, soweit sie zur Bezeichnung der Tatbestände ermächtigt, die über § 58 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 1 Nr. 18 und § 13 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LFGB als Straftaten zu ahnden sind. Mit der in § 58 Abs. 3 Nr. LFGB enthaltenen Entsprechungsklausel hat der Gesetzgeber selbst über Inhalt und Programm der Ermächtigung entschieden und dem Verordnungsgeber hinreichend vorgegeben, welche Ge- oder Verbote mit Strafe zu bewehren sind. (Bearbeiter)


Entscheidung

553. BVerfG 2 BvR 1615/16 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 23. März 2020 (Hanseatisches OLG)

Klageerzwingungsverfahren (erfolgreiche erneute Verfassungsbeschwerde gegen die Einstellung von Ermittlungen wegen des Todes eines Kindes nach einer Operation; Organisationsverantwortlichkeit des Praxisinhabers; allgemeiner Gleichheitssatz; Willkürverbot; grob lückenhafte Beweiswürdigung; Übergehen wesentlicher Aussagen eines Sachverständigengutachtens).

Art. 3 Abs. 1 GG; § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO; § 223 Abs. 1 StGB; § 227 Abs. 1 StGB

1. Die Verwerfung eines Klageerzwingungsantrags in einem Ermittlungsverfahren gegen den Inhaber einer HNO-Praxis wegen des Todes eines Kindes nach einer Operation verletzt das Willkürverbot, wenn die Beweiswürdigung wesentliche Aspekte der zur Verfügung stehenden Beweismittel unberücksichtigt lässt, ohne dass hierfür ein vernünftiger Grund erkennbar ist (Folgeverfahren zu BVerfG, Beschluss vom 21. Oktober 2015 – 2 BvR 912/15 – [= HRRS 2015 Nr. 1106]).

2. Die Annahme, die postoperative Überwachung eines Patienten falle ohne anderweitige Absprache allein in den Verantwortungsbereich der zuständigen Anästhesistin, ist objektiv willkürlich, wenn sie sich lediglich auf einzelne, ausschnitthaft herausgegriffene Passagen eines medizinischen Sachverständigengutachtens stützt und übergeht, dass sich aus anderen Abschnitten des Gutachtens auch eine Organisationsverantwortlichkeit des Praxisinhabers ergibt.

3. Das durch grundrechtliche Wertungen geprägte Selbstbestimmungsrecht und die Würde des Patienten (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verbieten es, ihn im Rahmen der Behandlung zum bloßen Objekt zu degradieren (vgl. BVerfGK 4, 203, 208). Damit schiene es kaum vereinbar, wenn der Praxisbetreiber als der wesentliche wirtschaftliche Profiteur der mangelhaften Praxisorganisation den Patienten über das für ihn hierdurch entstehende Risiko nicht aufklären müsste, obwohl er dieses wissentlich selbst geschaffen hat.


Entscheidung

556. BVerfG 2 BvR 1935/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 7. April 2020 (OLG Celle / LG Hannover)

Rechtsschutz gegen Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug (Geltung des Schuldgrundsatzes; Recht auf effektiven Rechtsschutz; gerichtliche Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung; unzureichende „summarische“ Prüfung bei streitigem Sachverhalt; Ausschöpfung vorhandener Beweismittel; Beiziehung der Akten eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens); Absehen von der Begründung einer Rechtsbeschwerdeentscheidung (kein Leerlaufen des Rechtsmittels; erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit Grundrechten; Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 103 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG; § 119 Abs. 3 StVollzG; § 120 Abs. 1 Satz 2 StVollzG; § 244 Abs. 2 StPO; § 185 StGB; § 94 Abs. 1 NStVollzG; § 75 NStVollzG

1. Eine Strafvollstreckungskammer verletzt einen Strafgefangenen in dessen Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme wegen einer herabwürdigenden Äußerung gegenüber einem Vollzugsbediensteten auf der Grundlage einer lediglich summarischen Prüfung des von der Justizvollzugsanstalt mitgeteilten Geschehens als rechtmäßig bestätigt, ohne die Akten des wegen desselben Vorfalls geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens beizuziehen und ohne auf die substantiierten Einwände des Gefangenen einzugehen, der den Sachverhalt abweichend geschildert und sich zum Beleg auf die Angaben eines namentlich benannten Mitgefangenen berufen hat.

2. Bei Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug handelt es sich um strafähnliche Sanktionen, für die der Schuldgrundsatz gilt. Sie dürfen daher nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass dem Gefangenen ein schuldhafter Pflichtenverstoß zur Last liegt. Die Frage des Pflichtenverstoßes ist im Rahmen des Disziplinarverfahrens – ungeachtet eines darüberhinausgehenden Straftatverdachts – fachgerichtlich voll überprüfbar. Darin liegt auch keine unzulässige Doppelbestrafung, weil die Disziplinarmaßnahme kein strafrechtliches Unwerturteil enthält.

3. Bestreitet der Gefangene die Sachverhaltsdarstellung der Justizvollzugsanstalt, so darf das Gericht seiner Entscheidung nicht ohne Weiteres die Ausführungen der Anstalt zugrunde legen. Zwar können auch in einem solchen Fall weitere tatsächliche Ermittlungen entbehrlich sein; dies bedarf jedoch konkreter, auf die Umstände des Falles bezogener Gründe.

4. Sieht das Rechtsbeschwerdegericht nach § 119 Abs. 3 StVollzG von einer Begründung seiner Entscheidung ab, so ist dies mit Art. 19 Abs. 4 GG nur vereinbar, wenn dadurch das Rechtsmittel nicht leerläuft. Letzteres ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidung mit Grundrechten bestehen, etwa weil die Entscheidung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – hier: zur gerichtlichen Aufklärungspflicht bei streitigem Sachverhalt – abweicht.


Entscheidung

548. BVerfG 1 BvR 2392/19 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 31. März 2020 (OLG Celle / AG Osterholz-Scharmbeck)

Bestellung eines Ergänzungspflegers zur Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts des Kindes eines Beschuldigten (Zulässigkeit der Ergänzungspflegerbestellung ohne vorherige Ermittlung der Aussagebereitschaft des Kindes; nur geringfügiger Eingriff in das Elternrecht des Beschuldigten; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; unmittelbare Handlungsfähigkeit des Ergänzungspflegers im Interesse des Kindeswohls).

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG; § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO; § 52 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB; § 225 StGB

1. Die fachgerichtliche Auffassung, die Bestellung eines Ergänzungspflegers zur Entscheidung über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts eines minderjährigen Kindes in einem gegen seinen gesetzlichen Vertreter gerichteten Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Misshandlung von Schutzbefohlenen sei auch ohne vorherige Feststellung der Aussagebereitschaft des Kindes möglich, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

2. Das Elternrecht des Beschuldigten führt zu keiner abweichenden Bewertung. Zwar ist die Ausübung des

Zeugnisverweigerungsrechts ein wesentlicher Teil des elterlichen Sorgerechts. In dieses greift die Ergänzungspflegerbestellung als solche jedoch nur geringfügig ein; denn sie beendet lediglich den vertretungslosen Zustand, der bereits kraft Gesetzes mit dem Ausschluss der selbst beschuldigten Eltern von der Entscheidung eintritt.

3. Eine Ergänzungspflegerbestellung vor Klärung der Aussagebereitschaft ist auch nicht unverhältnismäßig. Weil sich die Aussagebereitschaft auch kindlicher Zeugen im Verlauf des dynamischen Strafprozesses verändern kann, wird es regelmäßig dem Kindeswohl entsprechen, wenn bei sich einstellender Aussagebereitschaft eine unmittelbare Handlungsfähigkeit des Ergänzungspflegers gewährleistet ist.


Entscheidung

550. BVerfG 2 BvQ 21/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 21. April 2020 (OLG München)

Auslieferungshaft (erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung; Auslieferungsersuchen der USA; Recht auf den gesetzlichen Richter und Pflicht zur Vorlage an den EuGH; fehlende Auseinandersetzung mit neueren Entwicklungen in der EuGH-Rechtsprechung; Beschleunigungsgebot und Klärung schwieriger Rechtsfragen; Folgenabwägung; Funktionsfähigkeit des Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehrs; ausnahmsweise Zulässigkeit einer Vorwegnahme der Hauptsache).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 104 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; Art. 267 Abs. 3 AEUV; § 15 Abs. 2 IRG; Art. 54 SDÜ; Art. 50 GRCh

1. Nimmt ein Oberlandesgericht bei der Anordnung der Auslieferungshaft lediglich auf seine bisherige Rechtsauffassung zur Auslegung und Anwendung des Art. 54 SDÜ und des Art. 50 GRCh Bezug, obwohl mit Blick auf neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union Anlass bestanden hätte, diese zu hinterfragen und die Sache gegebenenfalls dem Gerichtshof vorzulegen, so kann dies den Verfolgten in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter verletzen.

2. Die Auslieferungshaft hat trotz des mit ihr verbundenen gewichtigen Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht fortzudauern, wenn im Verfahren über die Zulässigkeit der Auslieferung schwierige Rechtsfragen zu klären sind und dem Gebot der Beschleunigung Genüge getan ist. Bei der Folgenabwägung sind auch die Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehrs, die von den beteiligten Staaten unternommenen Anstrengungen zur Klärung der offenen Fragen und die Höhe der dem Verfolgten drohenden Strafe zu berücksichtigen.

3. Eine Vorwegnahme der Hauptsache steht der Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ausnahmsweise dann nicht entgegen, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache möglicherweise zu spät käme, dem Antragsteller in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden könnte oder ihm ein schwerer, nicht wiedergutzumachender Nachteil entstünde.


Entscheidung

551. BVerfG 2 BvR 162/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 20. April 2020 (LG Rostock)

Strafvollzug (Eilantrag auf Durchführung einer augenärztlichen Untersuchung; Verletzung der Rechtsschutzgarantie durch Abwarten eines von der Justizvollzugsanstalt angekündigten Untersuchungstermins und massive Verzögerung der Entscheidung).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 114 Abs. 2 StVollzG

Die Rechtsschutzgarantie verpflichtet die Gerichte, im Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung vollendeter Tatsachen zuvorzukommen. Dem wird es nicht gerecht, wenn eine Strafvollstreckungskammer auf den Eilantrag eines Strafgefangenen auf Durchführung einer augenärztlichen Untersuchung den von der Justizvollzugsanstalt daraufhin angekündigten, vier Monate in der Zukunft liegenden Untersuchungstermin abwartet und erst weitere sechs Monate später über den Eilantrag entscheidet.


Entscheidung

552. BVerfG 2 BvR 672/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 29. April 2020 (OLG Oldenburg)

Auslieferungshaft (Sicherung des Auslieferungsverfahrens; Ausreichen einer lediglich summarischen Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; § 15 Abs. 2 IRG

Die Auslieferungshaft dient dem Zweck, das Auslieferungsverfahren zu sichern und die Durchführung der Auslieferung zu ermöglichen. Sie kann von Verfassungs wegen bereits dann angeordnet werden, wenn die Auslieferung nicht von vornherein unzulässig ist. Insoweit genügt eine vertretbare summarische Prüfung durch das Oberlandesgericht; eine gründliche und abschließende Prüfung bleibt hingegen der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung vorbehalten.


Entscheidung

554. BVerfG 2 BvR 1635/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 1. April 2020 (LG Koblenz)

Strafvollzugsrecht (Recht auf effektiven Rechtsschutz; zu enge Auslegung des Antrags eines Strafgefangenen).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 109 StVollzG

Die Auslegung des Antrags eines Strafgefangenen allein als – erledigter – Vornahmeantrag erschwert den Zugang zum Gericht in unzumutbarer Weise und ist daher mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht vereinbar, wenn dem Gefangenen so jede fachgerichtliche Überprüfung eines Bescheides der Justizvollzugsanstalt verwehrt wird.


Entscheidung

555. BVerfG 2 BvR 1855/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 14. April 2020 (LG Berlin)

Strafvollzug (Eilantrag gegen sofort vollzogene Disziplinarmaßnahme; Verletzung der Rechtsschutzgarantie durch Bemessung einer Stellungnahmefrist bis nach dem Ende der Maßnahme; nicht hinnehmbare Postlaufzeit von drei Tagen innerhalb des Gerichts).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 114 Abs. 2 StVollzG

Die Rechtsschutzgarantie verpflichtet die Gerichte zu situationsgerechtem Handeln ohne weiteres Zögern. Dem wird es nicht gerecht, wenn eine Strafvollstreckungskammer auf den Eilantrag eines Strafgefangenen gegen eine sofort vollzogene Disziplinarmaßnahme der Justizvollzugsanstalt eine Stellungnahmefrist setzt, die erst nach Beendigung des Vollzugs der Maßnahme abläuft, und wenn es zu Postlaufzeiten innerhalb des Gerichts von drei Tagen kommt.