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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2020
21. Jahrgang
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1. Ein Strafgericht wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Inhalt einer Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht gerecht, wenn sich dem in der Hauptverhandlung verlesenen Vermerk über ein Verständigungsgespräch nicht hinreichend sicher entnehmen lässt, auf wessen Initiative das Gespräch geführt wurde, wer dabei die Möglichkeit einer Verständigung ins Spiel brachte, welches konkrete Angebot die Staatsanwaltschaft unterbreitete und welchen Standpunkt das Gericht demgegenüber vertrat (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 13. August 2019 [= HRRS 2019 Nr. 904]). Mitteilungspflichtig ist es insoweit auch, wenn das Gericht zu dem Vorschlag noch keinen Standpunkt eingenommen hat.
2. Eine Revisionsentscheidung verkennt Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren für die Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die
Verständigung im Strafprozess, wenn sie das Beruhen eines Urteils auf einem Verstoß gegen § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO allein unter dem Gesichtspunkt einer Einwirkung auf das Aussageverhalten des Angeklagten prüft und die von dem Verstoß in erster Linie betroffene, auch dem Schutz des Angeklagten dienende Kontrollmöglichkeit der Öffentlichkeit außer Acht lässt.
3. Bei der Schaffung der Bestimmungen zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren kam es dem Gesetzgeber maßgeblich darauf an, die Transparenz der strafgerichtlichen Hauptverhandlung und die Unterrichtung der Öffentlichkeit sicherzustellen. Die gesetzlichen Transparenz- und Dokumentationspflichten dienen dem Zweck, eine effektive Kontrolle des Verständigungsgeschehens durch die Öffentlichkeit, die Staatsanwaltschaft und das Rechtsmittelgericht zu ermöglichen und die Grundrechte des Angeklagten vor einem sich im Geheimen vollziehenden „Schulterschluss“ zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung zu schützen.
4. Mitzuteilen sind alle wesentlichen Elemente einer Verständigung, zu denen auch außerhalb der Hauptverhandlung geführte Vorgespräche zählen. Dies gilt auch dann, wenn eine Verständigung letztlich nicht zustande gekommen ist. Zum mitteilungsbedürftigen Inhalt von Verständigungsgesprächen gehört, welche Standpunkte die einzelnen Gesprächsteilnehmer vertreten haben, welche Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen hat und ob sie bei anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist.
5. Bei einem Verstoß gegen die Mitteilungspflicht wird sich regelmäßig nicht ausschließen lassen, dass das Urteil hierauf beruht. Abweichendes kann ausnahmsweise nach einer Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalls gelten, wobei insbesondere die Schwere des Verstoßes, die Art der in der Hauptverhandlung nicht mitgeteilten Gesprächsinhalte und eine etwaige Unterrichtung des Angeklagten über den Inhalt der Verständigungsgespräche von Bedeutung sein können. Allerdings vermag die Unterrichtung durch den Verteidiger die Mitteilung durch das Gericht grundsätzlich nicht zu ersetzen.
1. Weist eine Justizvollzugsanstalt das Begehren eines Strafgefangenen auf Zuteilung eines ehrenamtlichen Besuchers unter Bezugnahme auf mangelnde Kapazitäten zurück, so verletzt die von dem Gefangenen angerufene Strafvollstreckungskammer dessen Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie die Mitteilung der Anstalt nicht als Maßnahme mit Regelungscharakter, sondern lediglich als Hinweis bewertet und dem Gefangenen damit faktisch jede Möglichkeit nimmt, das von ihm beanstandete Vergabeverfahren im Hinblick auf Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG fachgerichtlich überprüfen zu lassen.
2. Macht ein Gefangener geltend, er sei bei der Vermittlung eines ehrenamtlichen Besuchers gegenüber später Inhaftierten gleichheitswidrig übergangen worden, so überspannt die Strafvollstreckungskammer die Darlegungsanforderungen, wenn sie unter Verkennung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht nicht die eingeschränkten Nachweismöglichkeiten des Gefangenen berücksichtigt, der keinen Zugriff auf etwaige Gefangenenlisten mit Einlieferungs- und Antragstellungsdaten sowie Wartelisten und Zuteilungskriterien hat.
3. Der grundrechtliche Anspruch auf Gleichbehandlung verbietet es staatlichen Stellen, das Verfahren oder die Kriterien einer Vergabe willkürlich zu bestimmen. Die tatsächliche Vergabepraxis kann außerdem zu einer Selbstbindung der Verwaltung führen, von der diese nicht ohne Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG abweichen kann.
4. Das subjektive Recht auf Gleichbehandlung ist im Rahmen des Justizgewährungsanspruchs gerichtlich verfolgbar und Teil der Garantie effektiven Rechtsschutzes.
5. Ein Gericht verletzt das Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn es durch unzumutbare Anforderungen an das prozesserhebliche Verhalten des Rechtsuchenden den Zugang zum Gericht unangemessen erschwert oder für den geltend gemachten Verfahrensgegenstand einen an sich eröffneten Rechtsweg für nicht gegeben hält und dabei verkennt, dass der Rechtsuchende ein Verhalten der öffentlichen Gewalt zum Verfahrensgegenstand macht, bei dem auf der Grundlage des entscheidungserheblichen Sachverhalts nicht ausgeschlossen werden kann, dass es ihn in Grundrechten verletzt.
6. Sieht das Rechtsbeschwerdegericht von einer Begründung seiner Entscheidung ab, so ist dies mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz bereits dann nicht vereinbar, wenn die angegriffene Entscheidung offenkundig von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweicht, so dass erhebliche Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten bestehen.
1. Hält ein Jugendschöffengericht in einem Strafverfahren gegen einen Heranwachsenden wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln die Vorschrift des § 2 Abs. 2 JGG für verfassungswidrig, weil es sich danach gezwungen sieht, die Einziehungsvorschriften des allgemeinen Strafrechts unter Verstoß gegen den Erziehungsgedanken auch im Jugendstrafrecht anzuwenden, so fehlt es an der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage, wenn zunächst erst noch über die Eröffnung des Hauptverfahrens zu befinden ist, weil es dabei auf die Frage der Einziehung nicht ankommt.
2. Außerdem ist die Verfassungswidrigkeit zur Prüfung gestellten Norm nicht ausreichend dargelegt, wenn sich das Jugendschöffengericht nicht damit auseinandersetzt, dass die Frage, ob die Einziehung von Taterträgen und des Wertes der Taterträge im Jugendstrafrecht zwingend anzuordnen ist oder im Ermessen des Tatgerichts steht, in Rechtsprechung und Literatur umstritten ist (Bezugnahme auf des Anfragebeschluss des 1. Strafsenats des BGH vom 11. Juli 2019 – 1 StR 467/18 – [= HRRS 2019 Nr. 773]).
3. Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nur zulässig, wenn das Fachgericht nachvollziehbar darlegt, dass es bei seiner anstehenden Entscheidung auf die Gültigkeit der Norm ankommt und aus welchen Gründen es von der Unvereinbarkeit der Norm mit der Verfassung überzeugt ist.
4. Zur Begründung der Entscheidungserheblichkeit muss das Gericht darlegen, dass und aus welchen Gründen es im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis käme als im Falle der Ungültigkeit.
5. Die Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm ist nur hinreichend dargetan, wenn das Gericht sich unter Berücksichtigung der in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen sowohl mit der einfachrechtlichen als auch mit der verfassungsrechtlichen Rechtslage auseinandersetzt und dabei insbesondere auf die maßgebliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingeht.
1. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Verwerfung einer Revision durch den Bundesgerichtshof genügt den gesetzlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn die mit Gründen versehene Antragsschrift des Generalbundesanwalts innerhalb der Monatsfrist weder vorgelegt noch ihrem Inhalt nach so dargestellt wird, dass eine verantwortbare verfassungsrechtliche Beurteilung möglich ist.
2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nicht in Betracht, wenn der Beschwerdeführer lediglich mitteilen lässt, die Vorlage der erforderlichen Unterlagen könne „allenfalls aufgrund eines Büroversehens“ unterblieben sein, ohne sich zu einem möglichen Organisationsverschulden seines Verfahrensbevollmächtigten zu äußern, das ihm zuzurechnen wäre.
Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Rechtsschutzgarantie dürfte es nicht genügen, wenn die einzige Möglichkeit für Strafgefangene, in Vollzugssachen eine den formellen Anforderungen genügende Rechtsbeschwerde einzulegen, ohne einen Rechtsanwalt einzuschalten, von der Zahlung einer Fahrtkostenpauschale abhängig gemacht wird, die geeignet ist, von der Inanspruchnahme des Rechtsschutzes abzuschrecken.
1. Das Resozialisierungsgrundrecht eines Strafgefangenen ist verletzt, wenn ihm trotz seiner kurz bevorstehenden Entlassung unter Ausblendung der für ihn sprechenden Gesichtspunkte jede Vollzugslockerung mit pauschalem Hinweis auf seine fortdauernde Therapiebedürftigkeit versagt wird.
2. Eine Vollmacht zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde muss ausdrücklich für das verfassungsgerichtliche Verfahren erteilt sein und darf sich nicht lediglich auf das fachgerichtliche Verfahren beziehen.
1. Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 u. a. (= HRRS 2020 Nr. 190) – das in § 217 StGB normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung mit Gesetzeskraft für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt hat, besteht für weitere gegen die Strafnorm gerichtete Verfassungsbeschwerden kein Rechtsschutzbedürfnis mehr.
2. Den weiteren Beschwerdeführern sind jedoch unter Billigkeitsgesichtspunkten die notwendigen Auslagen für ihre mit Aussicht auf Erfolg erhobenen Verfassungsbeschwerden zu erstatten. Angesichts der Konfrontation mit einer Strafandrohung waren die Beschwerdeführer nicht gehalten, darauf zu vertrauen, dass andere Normadressaten die Strafvorschrift in einer den gesetzlichen Begründungsanforderungen genügenden Weise zur verfassungsrechtlichen Prüfung stellen.