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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2019
20. Jahrgang
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Von Dr. Nicolai Kaniess[*]
Die PKH-Richtlinie EU 2016/1919 verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einhaltung von Mindestanforderungen in Haftsachen. Dem entspricht der aktuelle deutsche Rechtsstand nur eingeschränkt und der nationale Gesetzgeber hat die Umsetzungsfrist fruchtlos verstreichen lassen.[1] Insofern stellt sich für die haftrichterliche Praxis die Frage, wie bis zu einer Umsetzung mit den unionsrechtlichen Anforderungen umzugehen ist. Dieser Beitrag soll keine abschließende dogmatische Klärung der Grundlagen darstellen, sondern einen Überblick über das Problem und mögliche Lösungsansätze aufzeigen.
Da keine Umsetzung der Richtlinie EU 2016/1919 (im Folgenden: RiL) erfolgt ist, bestehen keine neuen nationalen Vorschriften, die künftig zu beachten sind. Als Rechtsquelle für die unionsrechtlich determinierten Mindestanforderungen kommen daher die RiL selbst in unmittelbarer Anwendung wie auch eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechtes in Betracht. Dies soll im Folgenden untersucht werden.
Zunächst ist zu klären, ob und ggf. inwiefern die RiL unmittelbare Rechtswirkung entfaltet. Grundsätzlich verpflichten Richtlinien gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV den Gesetzgeber des jeweiligen Mitgliedstaates zur Umsetzung. Sie können jedoch ausnahmsweise unmittelbare Wirkung entfalten[2] – und damit gem. Art. 20 Abs. 3 GG als Rechtsquelle auch andere staatliche Organe binden –, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind:
Erstens muss die Richtlinie innerhalb der Frist nicht oder nur unzureichend umgesetzt sein.[3] Da die RiL nach Art. 12 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 bis 25.05.2019 umzusetzen war, was nicht geschehen ist, ist diese Voraussetzung erfüllt.
Zweitens muss die Richtlinie individualbegünstigend sein. Soweit dieses Merkmal im Einzelnen umstritten ist,[4] kommt es hierauf nicht an; denn selbst bei engster Auffassung (sog. Schutznormtheorie) zeigen Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 RiL mit dem dort niedergelegten "Recht auf Prozesskostenhilfe", dass Individualschutz durch den Normgeber intendiert und nicht nur bloßer Rechtsreflex ist. Sonderprobleme sog. horizontaler Wirkung, d.h. der Geltung zwischen Privatrechtssubjekten, spielen im hier untersuchten Bereich des Verhältnisses zwischen dem Beschuldigten, also einem Bürger, und den Gerichten und Strafverfolgungsbehörden, also dem Staat,[5] keine Rolle.
Drittens kann eine Richtlinie nur unmittelbare Wirkung beanspruchen, wenn und soweit sie hinreichend genau und inhaltlich unbedingt konkrete Rechtssätze aufstellt.[6] Insofern muss der jeweils untersuchte Teil einer Richtlinie Adressatenkreis und Inhalt eines Rechts hinreichend genau bestimmen.[7]
a) Die Bestimmung des Adressatenkreises ist weitgehend präzise, sieht man von aufgrund der Vielfalt zuständiger Organe in den Mitgliedstaaten notwendig unbestimmten Regelungen zum Verpflichtungssubjekt (Art. 6 Abs. 1 RiL) ab; insbesondere Art. 2 RiL normiert aber mit den Verdächtigen und Beschuldigten den konkreten Kreis derjenigen, die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand (Art. 3, 4 Abs. 1 RiL) erhalten sollen.
b) Es fragt sich aber, ob der Inhalt der Garantie in der RiL hinreichend genau und inhaltlich unbedingt geregelt ist. Unbedingt ist eine Bestimmung, "wenn sie eine Verpflichtung begründet, die weder an eine Bedingung geknüpft ist noch zu ihrer Erfüllung und Wirksamkeit einer Maßnahme der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf".[8] Daran mangelt es gem. Art. 4 Abs. 1 RiL. Denn Voraussetzung der Gewährung von Prozesskostenhilfe ist deren Erforderlichkeit "im Interesse der Rechtspflege". Zur Ausfüllung dieses Kriteriums ist der Mitgliedstaat nach Art. 4 Abs. 2 RiL befugt, ein personales (Bedürftigkeitsprüfung, sog. means test) oder materielles (sog. merits test) Kriterium aufzustellen – oder beide zu kombinieren. Er ist insofern nach dem Wille des Normgebers frei,[9] so dass diese Wahl grundsätzlich nicht vorweggenommen werden darf.
Dies ist nur dann anders, wenn eine Richtlinie zwar Wahlmöglichkeiten enthält, ihr aber eine Mindestgarantie entnommen werden kann.[10] Entschieden ist dies bspw. für Fälle,[11] in denen eine Richtlinie eine konkrete Maßnahme vorsah, jedoch zudem eine separat geregelte Befugnis, die anderorts "vorgesehene Zahlungspflicht[... zu] begrenzen".[12] Dies ist aber in der RiL anders, da sie die Prozesskostenhilfe von vornherein und insgesamt unter einen Gestaltungsvorbehalt des nationalen Gesetzgebers stellt (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 RiL, vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 17 S. 1 und 2). Rechtstechnisch gesprochen betrifft dies schon die Frage der Entstehungsvoraussetzungen einer Prozesskostenhilfe, nicht aber ihrer nachträglichen Beschränkung wie in den zitierten Fällen. Im Übrigen spricht auch die Vielzahl inhaltlich stark divergierender Stellungnahmen zu den Anforderungen der RiL, die im bisherigen nationalen Gesetzgebungsverfahren abgegeben wurden,[13] empirisch gesehen gegen eine der Richtlinie klar zu entnehmende Mindestgarantie.
c) Nach alledem bleibt daher als Ergebnis festzuhalten: Die RiL erlangt mangels unbedingt und hinreichend bestimmt geregelter Voraussetzungen zum Entstehen des Anspruchs auf Prozesskostenhilfe keine unmittelbare Geltung.
Allerdings fragt sich, inwiefern die RiL trotz der fehlenden Umsetzung und der unmittelbaren Wirkung im Rahmen der Auslegung des aktuellen Rechtes Wirkung entfaltet. Eine solche Wirkung kann sich aus dem Institut der sog. richtlinienkonformen Auslegung ergeben.
Ungeachtet der Mehrzahl rechtsdogmatischer Begründungsansätze[14] verpflichtet dieses Rechtsinstitut jedenfalls alle Organe der Mitgliedstaaten, bei der Auslegung nationaler Rechtsvorschriften Unionsrechtskonformität herzustellen.[15] Grenze dieser Verpflichtung ist das Verbot der contra-legem-Auslegung,[16] welches bei Fehlen eines auslegungsfähigen nationalen Rechtssatzes bzw. Überschreitung gültiger Auslegungstopoi eingreift.[17]
Im nationalen Recht bietet zunächst § 140 Abs. 2 StPO mit seiner Generalklausel einen auslegungsfähigen Rechtssatz, der künftig weitere Fälle notwendiger Verteidigung erfassen kann (dazu a)). Für Zeitpunkt und Art der Beiordnung normieren § 141 Abs. 3 S. 1 und 4 StPO mit der dort enthaltenen Ermessensvorschrift einen auslegungsfähigen Rechtssatz (dazu b)).
a) Weitere Fälle notwendiger Verteidigung: Obschon die Umsetzung der Gewährung von Prozesskostenhilfe i.S.d. RiL nicht zwingend durch das nationale Institut der notwendigen Verteidigung erfolgen muss,[18] sieht jedenfalls Art. 4 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Art. 3 RiL eine notwendige Verteidigermitwirkung vor, wenn ein Beschuldigter dem Gericht zur Haftentscheidung vorgeführt wird oder er in Haft ist. Dies stellt ein Mehr gegenüber der nationalen Regelung dar, welche in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO lediglich den Vollzug von Untersuchungshaft als Fall notwendiger Verteidigung regelt, nicht aber die Anhörung zur Entscheidung darüber und z.B. auch nicht die Hauptverhandlungshaft des § 230 Abs. 2 StPO. Insofern ist denkbar, Art. 4 Abs. 4 S. 2 RiL im Rahmen der Auslegung der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen.[19]
aa) Das setzt zweierlei voraus: Erstens die Maßgeblichkeit einer (späteren) europäischen Regelung für die Auslegung der nicht in Umsetzung der Richtlinie ergangenen (früheren) nationalen Vorschrift und zweitens die inhaltliche Einschlägigkeit der Regelung in Art. 4 Abs. 4 S. 2 RiL. Die erste Frage wird in st. Rspr. des EuGH positiv beantwortet;[20] liegt der Grund richtlinienkonformer Auslegung im Gebot unionsfreundlicher Rechtsanwendung – und nicht etwa in einer historischen Auslegung nationalen Rechtes –, besteht die Pflicht zur Herstellung unions-
konformer Rechtszustände unabhängig vom Entstehungsgrund nationaler Normen.[21]
Es fragt sich aber, ob Art. 4 Abs. 4 S. 2 RiL inhaltlich einschlägig ist. Denn die Norm steht im Kontext zu S. 1, der ihre Geltung auf Fälle beschränkt, in denen der "Mitgliedstaat eine Prüfung der materiellen Kriterien vornimmt". Auf diese könnte er zugunsten einer reinen Bedürftigkeitsprüfung verzichten; es ließe sich überlegen, dass der deutsche Gesetzgeber in diesem Spielraum noch keine Entscheidung über die Art der Prüfung getroffen hat, so dass es am Eintritt der Bedingung fehlen könnte. Allerdings macht die Regelung des § 140 StPO in der aktuellen Fassung die Frage notwendiger Verteidigung (allein) von materiellen Kriterien abhängig und erfüllt damit faktisch die Bedingung in Art. 4 Abs. 4 S. 1 RiL.[22] Ist für eine richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts aber gerade nicht erforderlich, dass dieses in Umsetzung der Richtlinie ergangen ist,[23] kann es nicht auf einen konkreten Akt des Gesetzgebers ankommen. Entscheidend ist allein, ob die nationale Norm faktisch in den Regelungsbereich der Richtlinie fällt,[24] was bei § 140 StPO in Bezug auf Art. 4 Abs. 4 RiL der Fall ist. Die Richtigkeit dieses Befundes zeigt folgende Parallelüberlegung: Entspräche der nationale Rechtsstand bereits den Anforderungen der RiL, müsste der Gesetzgeber nicht tätig werden und insbesondere keinen (bestätigenden) Rechtsakt erlassen, vermöge dessen es bei der bisherigen materiellen Prüfung verbliebe – also, mit anderen Worten, die von der RiL als Möglichkeit eröffnete Wahl erneut treffen. Das nationale Recht wäre vielmehr als von vornherein unionsrechtskonform anzusehen. Soweit es daher im Regelungsbereich der Richtlinie Anordnungen trifft, sind diese richtlinienkonform zu interpretieren.
bb) Sind danach die Fälle des Art. 4 Abs. 4 S. 2 RiL bei der Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen, muss die dortige Generalklausel also "in jedem Fall" erfüllt sein, wenn ein Beschuldigter einem Richter zur Haftentscheidung vorgeführt wird (Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. a) RiL) oder er sich in Haft befindet (Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. b) RiL). Dabei stellt die RiL auf den Freiheitsentzug selbst ohne Mindestdauer ab[25] und nimmt lediglich solche kurzzeitigen Freiheitsentziehungen aus, die nur bei Gelegenheit sonstiger strafprozessualer Maßnahmen erfolgen (Erwägungsgrund Nr. 15). Praktisch wird § 140 Abs. 2 StPO daher künftig richtlinienkonform folgende Fälle erfassen müssen:
(1) Vorführung zur Entscheidung über einen Haft- bzw. Unterbringungsantrag nach den §§ 112, 126a, 127b StPO. Dabei wird Vorführung nicht notwendig bereits vorliegen, wenn der Beschuldigte in gerichtlichen Gewahrsam gelangt,[26] weil Art. 4 Abs. 1 RiL jede Prozesskostenhilfe unter den Vorbehalt der Erforderlichkeit für das Interesse der Rechtspflege stellt. Insofern dürfte die Verteidigung im Falle der Ablehnung des Haftantrages im Dezernatswege nicht zur Mindestvorgabe der RiL zählen;[27] denn dann ist sie weder aus Rechtsschutzgründen für den Betroffenen (Art. 2 Abs. 1, Abs. 3 RiL), noch mit Blick auf den abgeschlossenen Entscheidungsprozess sonst aus Gründen der Rechtspflege erforderlich.
(2) Vorführung zur Verkündung eines (bestehenden) Haft- oder Unterbringungsbefehls nach den §§ 115 f. StPO, selbst im Falle der Hauptverhandlungshaft[28] gem. §§ 127b, 230 Abs. 2, 329a Abs. 3 StPO. Denn da auch hierbei über die Aufrechterhaltung der Haft (§ 115 Abs. 4 S. 1 StPO) entschieden wird, liegt eine Entscheidung über eine Haft i.S.d. Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. a) RiL vor. Bei Verkündung im Falle der Überhaft ist, auch wenn die verkündete Entscheidung noch nicht vollzogen wird, jedenfalls Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. b) RiL erfüllt.[29]
(3) Den Vollzug von Untersuchungshaft bzw. einstweiliger Unterbringung (z.B. in anderer Sache auch außerhalb der in § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorgesehenen zeitlichen Grenzen[30]). Ebenso der Vollzug von bisher nicht beiordnungspflichtiger Haft, z.B. Hauptverhandlungshaft gem. §§ 127b, 230 Abs. 2, 329 Abs. 3 StPO, da Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. b) RiL nicht nach der Haftart differenziert.
(4) Die Vorführung und den Vollzug in Auslieferungssachen, auch beim Amtsgericht, da auch die Festhalteanordnung gem. §§ 21 Abs. 4 S. 1, 22 Abs. 3 S. 4 IRG eine solche über Haft i.S.d. Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. a) RiL ist. § 40 Abs. 2 Nr. 1 IRG gibt mit der Generalklausel die Möglichkeit richtlinienkonformer Beiordnung. Ausgenommen sind vom Anwendungsbereich nur zur Strafvollstreckung Gesuchte, da diese nicht Verdächtige oder Beschuldigte sind (Art. 2 Abs. 1 RiL).
(5) Die (auch: vorläufige) Festnahme aufgrund eines Europäischen Haftbefehls bzw. europäischen Fahndungsersuchens, da dieses unter Beifügung der erforderlichen Angaben als Europäischer Haftbefehl gilt[31] (Art. 5 Abs. 1 RiL). Dies umfasst gem. Art. 2 Abs. 2 RiL auch die Strafvollstreckung.
In den folgenden Fällen wird § 140 Abs. 2 StPO auch in richtlinienkonformer Auslegung weiterhin nicht einschlägig sein:
(6) Grds. bei vorläufiger Festnahme (§ 127 StPO) oder Vorführung im (besonders) beschleunigten Verfahren (§ 418 Abs. 2 S. 1 Var. 2 StPO). Denn Art. 5 Abs. 1 RiL zeigt, dass der Normgeber nur im Falle des Europäischen Haftbefehls ausdrücklich an den Zeitpunkt der "Festnahme" anknüpft. Insofern meint Art. 4 Abs. 4 S. 2 RiL aus systematischer Sicht Fälle der gerichtlichen Entscheidung über Haft oder gerichtlich angeordnete Haft. Anderes gilt nur, soweit für den Beschuldigten bereits ein sonstiger Fall des § 140 StPO einschlägig ist, vgl. dazu noch unten II. 2. b) aa) (6).
(7) Bei der mit Anklageerhebung im (besonders) beschleunigten Verfahren oftmals hilfsweise beantragten Haft gem. § 127b StPO. Denn soweit die innerprozessuale Bedingung nicht eintritt, also im normalen Verfahren (§§ 417 ff. StPO) entschieden wird, besteht keine gerichtliche Entscheidungsbefugnis über die Haft, wie Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. b) RiL sie voraussetzt. Wird aber in die Entscheidung über die Haft übergegangen, tritt die Notwendigkeit der Verteidigung ein.
(8) Eine Straferwartung bzgl. Freiheitsstrafe. Denn zwar ließe sich Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. a) RiL so lesen, dass eine Entscheidung über eine (unbedingte) Freiheitsstrafe eine solche "über eine Haft" sei. Allerdings ist hierfür, anders als in der speziellen Richtlinie für Jugendliche,[32] der Anwendungsbereich nicht eröffnet, soweit dem Angeklagten nicht schon die Freiheit entzogen ist (Art. 2 Abs. 1 lit. a) RiL) und er dann ohnehin bereits gem. §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 5, Abs. 2 StPO zu verteidigen ist.
(9) Nationale Sicherungs- bzw. Vollstreckungshaftbefehle z.B. gem. § 453c StPO, da die Richtlinie hierfür keinen Anwendungsbereich hat (Art. 2 Abs. 1 RiL, vgl. oben Fall (4) a.E.).
b) Nach § 141 Abs. 3 S. 1 StPO kann das Gericht während des Ermittlungsverfahrens nach seinem Ermessen einen Verteidiger bestellen; nach Abs. 3 S. 4 hat es dies bei einer richterlichen Vernehmung zu tun, soweit es zur Rechtewahrnehmung des Beschuldigten erforderlich ist. Die erstgenannte Norm wird grds. so verstanden, dass das Ermessen aus systematischen Gründen[33] nur bei Antrag der Staatsanwaltschaft eröffnet sei.[34] Jedenfalls § 141 Abs. 3 S. 4 i.V.m. § 128 f. StPO erlaubt wegen der Vernehmung im Hafttermin[35] bei richtlinienkonformer Auslegung eine Beiordnung auf Antrag des Beschuldigten bzw. von Amts wegen.[36] Doch auch der Wortlaut des Abs. 3 S. 1 ist offen und kann daher mit dem dortigen Ermessen unionsrechtlich durch Art. 4 Abs. 4 und 5 RiL determiniert sein.[37] Dies ist für beide Normen sowohl hinsichtlich des Zeitpunktes der Beiordnung (dazu aa)) als auch der Art der Beiordnung (dazu bb)) denkbar.
aa) Entsteht in den Fällen oben (1), (2) und (4) die Beiordnungspflicht mit der Vorführung für den Hafttermin, muss die Beiordnung erst dann erfolgen.[38] Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 4 Abs. 5 RiL, wonach Prozesskostenhilfe "unverzüglich und spätestens vor einer Befragung durch die Polizei, eine andere Strafverfolgungsbehörde oder Justizbehörde" zu gewähren ist. Denn die Norm setzt als Verfahrensvorschrift die vorige Entstehung des Beiordnungsanspruchs voraus; vor Entstehen des Anspruchs kann der Staat nicht zur Erfüllung verpflichtet sein. Die Entstehung ist aber für Haftanträge aufgrund des Wortlauts ("vorgeführt wird", nicht "werden soll") und der Systematik (Art. 4 Abs. 5 RiL nennt nicht das Gericht als Vernehmungsstelle) speziell in Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. a) RiL geregelt. Die RiL geht daher davon aus, dass bei Haftanträgen spätestens bei der Richtervorführung die Beiordnung nötig wird. Ob sie vorher erforderlich ist, kann sich nach Art. 4 Abs. 4 S. 1 RiL richten und unterliegt insofern dem Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers; er mag bestimmen, ob eine Verteidigung früher (z.B. bei einer Entscheidung der Polizei oder Staatsanwaltschaft, dass später eine Haftvorführung erfolgen soll) eingreifen soll. Ein solcher Spielraum ist im Rahmen richtlinienkonformer Auslegung aber nicht vorwegzunehmen,[39] so dass es bis zu einer Umsetzung beim spätesten Zeitpunkt verbleibt.
Zusammenfassend wird also für den Zeitpunkt der Beiordnung in den hier relevanten Fällen folgendes Ergebnis anzunehmen sein:
(1) Im Falle der Entscheidung über einen Haft- bzw. Unterbringungsantrag wird die Beiordnung spätestens zum Beginn des Termins zu erfolgen haben.
(2) Bei Verkündung eines (auswärtigen) Haft- bzw. Unterbringungsbefehls wird dies gleich zu beurteilen sein. Allerdings ist bei auswärtigen Entscheidungen eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich. Denn mit §§ 141 Abs. 4 S. 2 letzter HS i.V.m. 126 StPO besteht eine im Wortlaut eindeutige, der Auslegung nicht fähige Anordnung der Zuständigkeit desjenigen Gerichtes für die Beiordnung, das auch den Haftbefehl erlassen hat. Dem darf das verkündende Gericht ohne Verstoß gegen
seine Rechtsbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht vorgreifen.[40]
(3) Für den Vollzug von Untersuchungshaft bzw. Unterbringung dürfte das nationale Recht bereits mit § 141 Abs. 3 S. 5 StPO hinreichend regeln, wann beizuordnen ist; insofern ergeben sich richtlinienkonform keine Änderungen. Für den Vollzug der Hauptverhandlungshaft wird gem. § 141 Abs. 3 S. 1 und 4 StPO sachlich gleich zu verfahren sein.
(4) Für Auslieferungssachen ist eine richtlinienkonforme Beiordnung durch das die Festhalteanordnung treffende Amtsgericht wegen § 13 Abs. 1 IRG nicht möglich. Die Regelung statuiert eine ausschließliche Befugnis des OLG, die gem. Art. 20 Abs. 3 GG zwingend zu beachten ist.
(5) Für die Festnahme aufgrund europäischen Haftbefehls wird die Pflicht bereits mit der Festnahme begründet (Art. 5 Abs. 1 RiL), wobei auch hier dasselbe gilt wie in Fall (4); eine Korrektur des unionsrechtswidrigen Zustandes ist derzeit nicht möglich.
(6) Bei einem vorläufig Festgenommenen ist eine Beiordnung gem. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO spätestens vor polizeilicher Vernehmung erforderlich, jedoch nur, soweit ein Fall notwendiger Verteidigung gemäß der aktuellen Fassung des § 140 StPO vorliegt. Nicht erfasst sind wegen der oben beschriebenen speziellen Anordnung für Haftvorführungen Fälle, in denen sich die Verteidigungspflicht allein aus der Haftvorführung ergibt.[41] Auch sind Vernehmungen von auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten ausgenommen, da diese nicht in den Anwendungsbereich der RiL fallen (Art. 2 Abs. 1 lit. a) RiL).
cc) Zur Art der Beiordnung zeigen Art. 3 RiL und Erwägungsgrund 25, dass es der RiL um wirksame faktische Unterstützung durch einen Rechtsanwalt geht. Diese ist ohnehin erfüllt, soweit der Beschuldigte im Beistand eines Wahlverteidigers auftritt, so dass dann keine Beiordnung erforderlich ist. Im Übrigen muss eine Beiordnung so erfolgen, dass ein Verteidiger den Termin praktisch wahrnehmen kann.[42] Ein Verteidiger, der dies bis zum Ablauf der Frist des Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG nicht kann, dürfte daher grundsätzlich nicht beizuordnen sein. Da die RiL nur die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte betrifft, nicht aber eine bestimmte Ausgestaltung derselben, wird jedoch gegen telefonische Handhabungen (z.B. Telefonat zwischen dem Verteidiger und dem Beschuldigten während des Termins; Nichtteilnahme durch den Verteidiger mit der Bitte, dem Beschuldigten etwas auszurichten; etc.) unionsrechtlich nichts zu erinnern sein.[43]
Da sich eine Beiordnung in richtlinienkonformer Auslegung gem. § 141 Abs. 3 S. 1 und 4 StPO in das nationale System einfügen muss, ist sie nur erforderlich, soweit nicht schon das bestehende Recht ein richtlinienkonformes Schutzniveau gewährleistet. Dies ist für den Fall des Vollzugs der Untersuchungshaft bzw. Unterbringung gem. §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 5 StPO der Fall; hier wird ohnehin unverzüglich beigeordnet. Richtlinienkonform muss bei Haftvorführungen daher nur für den Hafttermin selbst beigeordnet werden. Dies kann dadurch geschehen, dass die Beiordnung am Terminsende aufgehoben wird; praktikabler ist aber eine Beiordnung nur für den Termin, die sich mit Ablauf selbst erledigt. Für den Fall der Anordnung einer Haft schließt sich nahtlos eine Beiordnung nach §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 5 StPO (Untersuchungshaft bzw. Unterbringung) bzw. §§ 140 Abs. 2, 141 Abs. 3 S. 1 StPO (sonstige Haft) an, für den Fall der Entlassung ist hingegen keine weitere Veranlassung geboten. Es kann daher z.B. bei Beginn des Termins beschlossen werden:
Dem Beschuldigten wird gem. § 140 Abs. 2 StPO Rechtsanwalt/Rechtsanwältin … als Verteidiger/in für diesen Hafttermin beigeordnet.
Die RiL erlangt trotz ihrer Nichtumsetzung keine unmittelbare Wirkung im Mitgliedstaat. Sie ist aber bis zu ihrer Umsetzung bei der Auslegung des bestehenden nationalen Rechtes zu berücksichtigen. Insbesondere bewirkt sie Modifikationen der §§ 140 Abs. 2, 141 Abs. 3 S. 1 und 4 StPO durch Schaffung neuer Fälle notwendiger Verteidigung sowie einer Veränderung des Zeitpunktes der Beiordnung. Einen Überblick gibt folgende Tabelle:
Neuer Fall: |
Praktische Umsetzung: |
(1) Richtervorführung bei Haft-/Unterbringungsantrag |
Beiordnung gem. § 140 Abs. 2 StPO bei Beginn des Termins nur für den Termin; telefonische Lösungen möglich. Bei Haftanordnung ohne Haftverschonung unverzügliche Beiordnung a) für U-Haft oder Unterbringung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO, b) für sonstige Haft (z.B. § 127b StPO) nach § 140 Abs. 2 StPO. |
(2) Richtervorführung zur Verkündung bestehenden Haft-/Unterbringungsbefehls |
Wie (1). Nicht bei Verkündung auswärtiger Entscheidungen; hier wg. § 141 Abs. 4 S. 2 StPO keine richtlinienkonforme Auslegung möglich. |
(3) Vollzug U-Haft oder Unterbringung innerhalb der Ausschlusszeiten § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO oder Vollzug von Hauptverhandlungshaft |
Unverzügliche Beiordnung gem. § 140 Abs. 2 StPO ab Vollzug. |
(4) Richtervorführung in Auslieferungssachen (Strafverfolgung) |
Beiordnung für das OLG zwingend, für das Amtsgericht ist wg. § 13 Abs. 1 IRG keine richtlinienkonforme Auslegung möglich. |
(5) Festnahme aufgrund Europäischen Haftbefehls |
Beiordnung für das OLG ab Festnahme zwingend, für das Amtsgericht ist wg. § 13 Abs. 1 IRG keine richtlinienkonforme Auslegung möglich. |
(6) Vernehmung vorläufig Festgenommener durch Polizei oder Staatsanwaltschaft |
Beiordnung vor der Vernehmung gem. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO, soweit ein Fall einer notwendigen Verteidigung gem. § 140 StPO bereits erkennbar ist. |
[*] Der Autor ist Richter am Amtsgericht und Inhaber einer Haftrichterabteilung am Amtsgericht Tiergarten. Dieser Beitrag enthält auch aus Diskussionen gewonnene Gedanken von RnAG Julia Meyer, RnAG Alexandra Knecht und Prof. Dr. Hoffmann-Holland.
[1] Es besteht bisher nur ein Referentenentwurf vom 11.08.2018 (im Folgenden: RefE) innerhalb des BMJV, der selbst noch keine Äußerung eines Gesetzgebungsorgans darstellt; abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/notwendige_Verteidigung.html
[2] Grundlegend EuGH, Urteil vom 19.01.1982, Rs. 8/81 – Becker, Rn. 21 = Slg 1982, 53.
[3] W. Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, AEUV Art. 288 Rn. 92 m.w.N.
[4] W. Schroeder, a.a.O. Rn. 95; zur Rspr.-Entwicklung Ruffert, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, AEUV Art. 288 Rn. 66 ff.
[5] Sog. vertikales Verhältnis, vgl. Ruffert, a.a.O. Rn. 57 ff.
[6] Ruffert, a.a.O. Rn. 53 ff.; W. Schroeder, a.a.O. Rn. 92 ff. jew. m.w.N. aus der Rspr. des EuGH.
[7] EuGH, Urteil vom 19.11.1991, C-6/90 und C-9/90, Rn. 12.
[8] St. Rspr. EuGH, vgl. nur Urteil vom 23.02.1994, C-236/92, Rn. 9; Urteil vom 01.06.1999, C-319/97 – Kortas, Rn. 21; Ruffert, a.a.O. Rn. 54 m.w.N.
[9] Erwägungsgrund Nr. 18 RiL.
[10] EuGH, Urteil vom 19.11.1991, C-6/90 und C-9/90, Rn. 20.
[11] EuGH, Urteil vom 24.03.1987, 286/85, Rn. 14; Urteil vom 09.09.1999, C-374/97 – Feyrer, Rn. 25 ff.
[12] Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Richtlinie 80/987/EWG (Gegenstand des Urteils vom 24.03.1987); ähnlich auch Richtlinie 85/73/EWG i.d.F. der Richtlinie 93/118/EG (Gegenstand des Urteils vom 09.09.1999).
[13] Vgl. nur https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/notwendige_Verteidigung.html (Abruf am 21.05.2019).
[14] Dazu im Einzelnen W. Schroeder, a.a.O. Rn. 110 und Ruffert, a.a.O. Rn. 78 f. – jew. m.w.N.
[15] Vgl. die zahllosen Nachweise bei Ruffert, a.a.O. Rn. 77.
[16] EuGH, Urteil vom 04.07.2006, C-212/04 – Adeneler, Rn. 110 f. = NJW 2006, 2465.
[17] Eingehend W. Schroeder, a.a.O. Rn. 113 m.w.N.
[18] Eingehend Schoeller, StV 2019, 190, 191 ff.; Schlothauer u.a., HRRS 2018, 55, 56.
[19] Offen gelassen von LG München I, Beschluss vom 29.01.2019, 28 Qs 5/19, juris-Rn. 13.
[20] EuGH, Urteil vom 04.07.2006, C-212/04 – Adeneler, Rn. 108 = NJW 2006, 2465; Urteil vom 15.05.2003, C-160/01 – Mau, Rn. 36, 41 = NJW 2003, 2371 ; Urteil vom 13.11.1990, C-106/89 – Marleasing, Rn. 8 = Slg 1990, I-4135-4161.
[21] Vgl. EuGH, Urteil vom 05.10.2004, C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Rn. 113 ff., bes. 115 = NJW 2004, 3547.
[22] Gedanke von Prof. Dr. Hoffmann-Holland, Diskussion vom 20.05.2019.
[23] Vgl. nur EuGH, Urteil vom 05.10.2004, C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Rn. 115 = NJW 2004, 3547; Urteil vom 25.02.1999, C-131/97 – Carbonari, Rn. 49 = Slg 1999, I- 1103 .
[24] So auch EuGH, Urteil vom 13.11.1990, C-106/89 – Marleasing, Rn. 13 = Slg 1990, I-4135-4161.
[25] Davon ausgehend auch RefE S. 20.
[26] So für nationales Recht Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019 § 115 Rn. 3.
[27] Bei richtlienkonformer Auslegung ist der Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers zu beachten, EuGH, Urteil vom 10.04.1984, Rs 14/83 – von Colson und Kamann = NJW 1984, 2021.
[28] Davon ausgehend auch RefE S. 20.
[29] Deswegen ist Änderung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO auch nach RefE S. 6, bes. 28 "zwingend".
[30] Schlothauer, StV 2018, 169, 171.
[31] Beschluss 2007/533/JI des Rates vom 12.06.2007 (ABl. L 205, S. 63); vgl. auch RefE S 53.
[32] Art. 6 Abs. 6 UAbs. 3 Richtlinie 2016/800/EU.
[33] BGH, Beschluss vom 09.09.2015, 3 BGs 134/15, juris-Rn. 11, 14 ff. = NJW 2015, 3383.
[34] Vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 141 Rn. 5 ff. m.w.N. zum Streitstand zu § 141 Abs. 3 S. 1 StPO.
[35] Grundlegend Schlothauer, StV 2017, 557, 558 f.; so auch z.B. AG Stuttgart, Beschluss vom 27.11.2017, 26 Gs 8396/17 = StraFo 2018, 114 .
[36] Für Hafttermine LG Halle (Saale), Beschluss vom 26.03.2018, 10a Qs 33/18, juris-Rn. 12 = StV 2019, 187.
[37] Gedanke von Prof. Dr. Hoffmann-Holland, Diskussion vom 20.05.2019.
[38] So wohl auch Schoeller, StV 2019, 190, 193 f.
[39] EuGH, Urteil vom 10.04.1984, Rs 14/83 – von Colson und Kamann = NJW 1984, 2021.
[40] Insofern besteht auch kein die Anwendbarkeit der Norm hinderndes Unionsrecht; denn da die RiL nicht unmittelbar gilt, ist sie nicht als Anwendungsvorrang begründende Rechtsquelle heranzuziehen.
[41] Dies würde dem Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers vorgreifen, vgl. oben II. 2. b) aa). Der Ladendieb o.f.W. muss z.B. zur Vernehmung noch nicht verteidigt werden, erst wenn er dem Haftrichter vorgeführt wird. Ist aber aus anderen Gründen gem. § 140 StPO eine Verteidigung notwendig, weil z.B. ein Verbrechen vorgeworfen wird (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO), ist vor polizeilicher Vernehmung beizuordnen und der Verteidiger von der anschließenden Haftvorführung zu benachrichtigen.
[42] Schlothauer, StV 2018, 169, 172.
[43] A.A. Schlothauer, StV 2017, 557, 559 zum nationalen Recht.