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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2019
20. Jahrgang
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1. Der Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass darunter nicht die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats fallen, die der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden. (EuGH)
2. Sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, haben im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die im Unionsrecht anerkannten Grundrechte beachten. (Bearbeiter)
3. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung setzt voraus, dass nur Europäische Haftbefehle im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gemäß dessen Bestimmungen zu vollstrecken sind. Wie aus diesem Artikel hervorgeht, handelt es sich bei einem solchen Haftbefehl um eine „justizielle Entscheidung“, so dass er von einer „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ausgestellt worden sein muss. Nach dieser Vorschrift ist ausstellende Justizbehörde die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staates für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist. (Bearbeiter)
4. Zwar können die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie in ihrem nationalen Recht die für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige „Justizbehörde“ bestimmen. Gleichwohl bedarf der genannte Begriff in der gesamten Union einer autonomen und einheitlichen Auslegung, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung sowohl des Wortlauts der Vorschrift als auch des Kontexts, in den sie sich einfügt, und des mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziels zu ermitteln ist. (Bearbeiter)
5. Der Begriff „Justizbehörde“ ist nicht allein auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats beschränkt. Der Begriff „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann sich auf die Behörden eines Mitgliedstaats erstrecken, die, ohne notwendigerweise Richter oder Gerichte zu sein, in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken. (Bearbeiter)
6. Wenn ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, damit ein anderer Mitgliedstaat eine zum Zweck der Strafverfolgung gesuchte Person festnimmt und übergibt, muss diese Person in einem ersten Stadium des Verfahrens in den Genuss der Verfahrens- und Grundrechte gekommen sein, deren Schutz die Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats nach dem anzuwendenden nationalen Recht, insbesondere im Hinblick auf den Erlass eines nationalen Haftbefehls, zu gewährleisten haben. (Bearbeiter)
7. Das System des Europäischen Haftbefehls enthält einen zweistufigen Schutz der Verfahrens- und Grundrechte, in deren Genuss die gesuchte Person kommen muss, da zu dem gerichtlichen Schutz auf der ersten Stufe, beim Erlass einer nationalen Entscheidung wie eines nationalen Haftbefehls, der Schutz hinzukommt, der auf der zweiten Stufe, bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls, zu der es gegebenenfalls kurze Zeit nach dem Erlass dieser nationalen justiziellen Entscheidung kommen kann, zu gewährleisten ist. (Bearbeiter)
8. Bei einer Maßnahme, die – wie die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls – das in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf Freiheit des Betroffenen beeinträchtigen kann, impliziert dieser Schutz, dass zumindest auf einer seiner beiden Stufen eine Entscheidung erlassen wird, die den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen genügt. (Bearbeiter)
9. Wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber kein Richter oder Gericht ist, muss die nationale justizielle Entscheidung – wie ein nationaler Haftbefehl –, auf die sich der Europäische Haftbefehl stützt, ihrerseits die oben unter 8. genannten Anforderungen erfüllen. (Bearbeiter)
10. Die oben unter 8. erwähnte zweite Stufe des Schutzes der Rechte des Betroffenen impliziert, dass die nach nationalem Recht für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige Justizbehörde insbesondere überprüft, ob die für seine Ausstellung erforderlichen Voraussetzungen eingehalten wurden und ob seine Ausstellung in Anbetracht der Besonderheiten des Einzelfalls verhältnismäßig war. (Bearbeiter)
11. Die „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 muss in der Lage sein, die oben unter 10. geführte Aufgabe in objektiver Weise wahrzunehmen, unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte und ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Entscheidungsbefugnis Gegenstand externer Anordnungen oder Weisungen, insbesondere seitens der Exekutive, ist, so dass kein Zweifel daran besteht, dass die Entscheidung, den Europäischen Haftbefehl auszustellen, von dieser Behörde getroffen wurde und nicht letzten Endes von der Exekutive. (Bearbeiter)
12. Die ausstellende Justizbehörde der vollstreckenden Justizbehörde muss die Gewähr bieten können, dass sie angesichts der nach der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats bestehenden Garantien bei der Ausübung ihrer der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls innewohnenden Aufgaben unabhängig handelt. Diese Unabhängigkeit verlangt, dass es Rechts- und Organisationsvorschriften gibt, die zu gewährleisten vermögen, dass die ausstellende Justizbehörde, wenn sie die Entscheidung trifft, einen solchen Haftbefehl auszustellen, nicht der Gefahr ausgesetzt ist, etwa einer Einzelweisung seitens der Exekutive unterworfen zu werden. Außerdem müssen, wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist, in dem Mitgliedstaat die Entscheidung über die Ausstellung eines solchen Haftbefehls und insbesondere ihre Verhältnismäßigkeit in einer Wei-
se gerichtlich überprüfbar sein, die den Erfordernissen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes voll und ganz genügt. (Bearbeiter)
1. Durchsuchungen von Strafgefangenen, die mit einer Entkleidung und einer Inspektion von normalerweise verdeckten Körperöffnungen verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar und dürfen daher nur in schonender Weise und nicht routinemäßig und unabhängig von Verdachtsgründen durchgeführt werden.
2. Ermächtigt das Gesetz den Anstaltsleiter, im Wege der Allgemeinanordnung nach Außenkontakten von Gefangenen Durchsuchungen mit Entkleidung vorzuschreiben, so muss die Verfügung, um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu genügen, erkennen lassen, dass von der generellen Anordnung im Einzelfall abgewichen werden kann, wenn die Gefahr eines Missbrauchs fernliegt oder ihr mit gleich geeigneten, milderen Mitteln begegnet werden kann.
3. Die grundrechtskonforme Durchführung der mit einer Entkleidung verbundenen Durchsuchung nach einem Besuch setzt nicht voraus, dass konkrete Anhaltspunkte für einen Missbrauch bestehen. Vielmehr reicht die abstrakte Gefahr etwa des Einbringens unerlaubter Gegenstände oder von Betäubungsmitteln im Regelfall aus.
4. Eine Justizvollzugsanstalt kann ohne Verfassungsverstoß davon ausgehen, dass ein Missbrauch nicht fernliegt, wenn zur Zeit des konkreten Besuchs im Besuchsraum auch andere Strafgefangene und deren Besucher anwesend waren, bei denen nicht die sichere Gewähr bestand, dass sie keine Gegenstände einschmuggeln oder den Betroffenen hierzu nötigen würden. Dies gilt auch dann, wenn die Anstalt zusätzlich zu den Durchsuchungen begleitende Sicherheitsmaßnahmen durchführt.
5. Insbesondere bei Gefangenen, die selbst nicht im Verdacht stehen, das Besuchsrecht zu missbrauchen, hat die Justizvollzugsanstalt im Rahmen ihrer Ermessensausübung allerdings zu prüfen, ob organisatorische Möglichkeiten zur Herabsetzung der Missbrauchsgefahr und zur Erleichterung der Besuchsüberwachung in Betracht kommen, um körperliche Durchsuchungen zu vermeiden oder zumindest deren Frequenz herabzusetzen.
1. Das Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist immer nur ein Nebenverfahren in einem Verfassungsrechtsstreit, so dass ein Eilantrag nur dann zulässig ist, wenn er bereits die Angaben enthält, die zur substantiierten Begründung der – noch zu erhebenden – Verfassungsbeschwerde erforderlich sind.
2. Wendet sich der Antragsteller gegen die Durchsicht vorläufig sichergestellter Beweismittel, so kann in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffend den zugrundeliegenden – insoweit prozessual überholten – Durchsuchungsbeschluss keine einstweilige Anordnung mehr ergehen. Vielmehr wäre substantiiert darzulegen, inwieweit sich der Antragsteller durch die richterliche Bestätigung der Sicherstellung in seinen Grundrechten verletzt sieht.
Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig erklärt wird, ist einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht die Auslieferung von der Bedingung abhängig macht, dass das Strafverfahren außerhalb des Föderationskreises Nordkaukasus durchgeführt wird, obwohl eine Zusicherung über den Gerichtsstand nach der Verfassung der russischen Föderation nicht erteilt werden kann und eine mögliche Verlegung des Gerichtsstandes von weiteren Voraussetzungen abhängig ist.
1. Der Begriff der Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten im Strafvollzug ist im Lichte der Rechtsschutzgarantie auszulegen. Ob ein Handeln oder Unterlassen einer Justizvollzugsanstalt eine regelnde Maßnahme in diesem Sinne darstellt, hängt davon ab, ob die Möglichkeit besteht, dass das Handeln oder Unterlassen Rechte des Gefangenen verletzt. Nichts anderes gilt für den Vollzug der Sicherungsverwahrung.
2. Eine Strafvollstreckungskammer verletzt das Recht eines Sicherungsverwahrten auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie mit Blick auf eine automatisierte Ansage, mit der alle Sicherungsverwahrten vor jedem Telefongespräch auf die (abstrakte) Möglichkeit einer Gesprächsüberwachung hingewiesen werden, den Charakter einer Maßnahme im Sinne des § 109 StVollzG verneint, weil eine tatsächlich erfolgte Überwachung nicht dargelegt sei.
3. Verlangt das Vollzugsgesetz einen vorherigen Hinweis auf eine Überwachung (nur) dann, wenn diese tatsächlich beabsichtigt ist, so wird der Rechtsschutz von einem nicht zu erbringenden Nachweis abhängig gemacht, wenn die Darlegung einer tatsächlichen Überwachung verlangt wird; denn das generelle, anlasslose Abspielen einer derartigen Ansage macht es den Betroffenen unmöglich, zu erkennen, ob sie überwacht werden oder nicht.
4. Angesichts der Annahme einer Justizvollzugsanstalt, bereits der bei jedem Telefonat abgespielte Hinweis auf die Möglichkeit des Mithörens habe präventiven Charakter, liegt es nahe, dass die Ansage eine Maßnahme im Sinne von § 109 StVollzG darstellt, die einer Rechtsgrundlage bedarf.
5. Sieht das Rechtsbeschwerdegericht von einer Begründung seiner Entscheidung ab, so ist dies mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz bereits dann unvereinbar, wenn erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung bestehen.
6. Die Rechtsschutzgarantie verpflichtet die Gerichte, Anträge sachgerecht im Sinne einer effektiven Durchsetzung des Begehrens auszulegen und ein „Leerlaufen“ des Rechtsschutzes zu verhindern.
1. Eine Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt durch den Besitz eines Gegenstandes durch einen Strafgefangenen kann ohne Verfassungsverstoß allein wegen der grundsätzlichen Eignung des Gegenstandes für sicherheits- oder ordnungsgefährdende Verwendungen angenommen werden, sofern derartige Verwendungen nur mit einem von der Anstalt nicht erwartbaren Kontrollaufwand ausgeschlossen werden können.
2. Lässt sich der erforderliche Kontrollaufwand durch technische Vorkehrungen, wie zum Beispiel eine Verplombung, auf ein leistbares Maß reduzieren, gebietet es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem Gefangenen den Besitz des betreffenden Gegenstandes zu ermöglichen.
3. Darüber hinaus können besondere Gründe in der Person des Gefangenen seinem Interesse am Besitz eines bestimmten Gegenstandes ein erhöhtes Gewicht verschaffen, das nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit etwa bei der Bestimmung des für die Anstalt zumutbaren Kontrollaufwands zu berücksichtigen ist.
4. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn eine Strafvollstreckungskammer den Antrag eines Strafgefangenen auf Besitz eines Laptops, hilfsweise auf Nutzung der Computer der Justizvollzugsanstalt, unter Hinweis auf die Eignung dieser Geräte für sicherheits- oder ordnungsgefährdende Verwendungen zurückweist und dabei darauf abstellt, dass Textinhalte – wie etwa Erkenntnisse über Fluchtwege, verbotene Außenkontakte oder Aufstellungen über die Abgabe von Betäubungsmitteln an Mitgefangene – in den Datenspeicher des Computers eingegeben und unerlaubt und unkontrolliert ausgetauscht werden können.
5. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, wenn die Strafvollstreckungskammer im Wege einer generalisierenden Betrachtung zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Verplombung des Computers nicht ausreichend ist und dass Kontrollen durch die Justizvollzugsanstalt wegen des damit verbundenen erheblichen Zeitaufwandes nicht in Betracht kommen. Dabei darf auch darauf abgestellt werden, dass die Kontrollmaßnahmen auch bei gleicher Handhabung vergleichbarer anderer Fälle umsetzbar sein müssen.
6. Das Interesse eines Gefangenen an der Nutzung eines Computers zur Anfertigung und Speicherung von Schriftsätzen an Behörden und Gerichte zur Führung einer Vielzahl auch komplexer Verfahren wiegt nicht derart
schwer, dass er deshalb zumutbarerweise nicht auf andere Mittel, wie etwa die Nutzung einer (elektrischen) Schreibmaschine, verwiesen werden dürfte.
7. Wenngleich angesichts des prägenden Charakters der elektronischen Datenverarbeitung im modernen gesellschaftlichen Leben mit Blick auf den Angleichungsgrundsatz und auf Resozialisierungsgesichtspunkte ein erhebliches (und stetig steigendes) Interesse an einem Zugang von Strafgefangenen zu Computern besteht, begründet dies keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Zugang zu neuen Medien unter Ausklammerung legitimer Sicherheitsbedenken.
8. Abweichendes folgt auch nicht aus der Rechtsprechung des EGMR zum Internetzugang für Strafgefangene, der zwar die gesteigerte Bedeutung der neuen Medien im heutigen Alltag betont, jedoch keine Verpflichtung der Vertragsstaaten ausgesprochen hat, im Strafvollzug einen Zugang zu diesen zu ermöglichen.