HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2018
19. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

399. BGH 1 StR 415/17 - Beschluss vom 21. März 2018 (LG München II)

Recht auf Verteidigerbeistand (faires Verfahren bei er Terminierung der Hauptverhandlung: Verfügbarkeit des Wahlverteidigers).

Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) MRK; § 137 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Grundsätzlich hat ein Angeklagter das Recht, sich in einem Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen. Daraus folgt allerdings nicht, dass bei jeder Verhinderung des gewählten Verteidigers eine Hauptverhandlung gegen den Angeklagten nicht durchgeführt werden könnte.

2. Die Terminierung ist grundsätzlich Sache des Vorsitzenden und steht in dessen pflichtgemäßem Ermessen (§ 213 StPO). Der Vorsitzende muss sich jedoch ernsthaft bemühen, dem Recht des Angeklagten, sich von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen, soweit wie möglich Geltung zu verschaffen und einem nachvollziehbaren Begehren dieses Verteidigers bezüglich der Terminierung im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten der Strafkammer und anderer Verfahrensbeteiligter sowie des Gebots der Verfahrensbeschleunigung Rechnung zu tragen.

3. Eine dem widersprechende Verfahrensweise verletzt den Angeklagten in seinem Recht auf Verteidigung durch den gewählten Verteidiger aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. c)

EMRK, § 137 Abs. 1 Satz 1 StPO und verstößt gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens.


Entscheidung

435. BGH 3 StR 272/17 - Beschluss vom 28. November 2017 (LG Oldenburg)

Zulässigkeit der Verlesung einer Vernehmungsniederschrift bei nicht erreichbarem Auslandszeugen (Bewirken einer Ladung; Ladung mit einfachem Brief; förmliche Zustellung; Umfang der gebotenen Bemühungen; Abwägung von Bedeutung der Zeugenaussage und Beschleunigungsgebot; Unmöglichkeit der Vernehmung auf absehbare Zeit; polizeiliche Vermerke als Vernehmungsniederschrift); Zulässigkeit der Ersetzung von benannten Beweismitteln und Aufklärungspflicht; Anforderungen an den Gehilfenvorsatz (keine Kenntnis der Einzelheiten der Tat; Mindestmaß an Konkretisierung; zentrale Merkmale der Haupttat; abweichende rechtliche Beurteilung von verwirklichter und vorgestellter Haupttat; Betrug und Untreue); Strafrahmenwahl bei Zusammentreffen von gesetzlich vertypten Milderungsgründen (Beihilfe; Fehlen eines besonderen persönlichen Merkmals).

§ 244 StPO; § 251 StPO; Art. 5 EURhÜbk; § 15 StGB; § 27 StGB; § 28 StGB; § 49 StGB; § 263 StGB; § 266 StGB

1. Wohnt ein Zeuge im Ausland, so gilt, dass das Erfordernis, dort eine Ladung zu bewirken, für sich gesehen nicht die Verlesung einer Vernehmungsniederschrift nach § 251 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 StPO aF ermöglicht. Vielmehr muss das Gericht regelmäßig versuchen, ihn zu laden und zu einem Erscheinen in der Hauptverhandlung zu veranlassen.

2. Für den Umfang der bei der Ladung eines Auslandszeugen gebotenen Bemühungen gibt es keinen für alle Fälle gültigen Maßstab. Die gerichtliche Entscheidung erfordert vielmehr eine Abwägung der Bedeutung der Sache und der Wichtigkeit der Zeugenaussage für die Wahrheitsfindung einerseits gegen das Interesse an einer beschleunigten Durchführung des Verfahrens unter Berücksichtigung der Aufklärungspflicht andererseits.

3. Im Anwendungsbereich des Rechtshilfeübereinkommens der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 29. Mai 2000 (EURhÜbk) genügt gem. Art. 5 EURhÜbk regelmäßig die Ladung eines Auslandszeugen mit einfachem Brief, wenngleich es sich für die Hauptverhandlung empfiehlt, dem Zeugen die Ladung zum Zweck des Nachweises förmlich zuzustellen. Nicht ausreichend ist eine Ladung mit einfachem Brief im Allgemeinen, um die Unmöglichkeit der Vernehmung des Zeugen auf absehbare Zeit feststellen zu können, weil der Zugang des Ladungsschreibens ungewiss ist.

4. Vermerke von Polizeibeamten, in denen Angaben eines einvernommenen Zeugen niedergelegt sind, können „Niederschriften über eine Vernehmung“ im Sinne des § 251 Abs. 1 StPO a.F. darstellen, auch wenn es sich um Zusammenfassungen von Zeugenaussagen handelt. Anderes gilt für polizeiliche Aktenvermerke, die keine Vernehmungen zum Gegenstand haben; sie sind lediglich schriftliche Erklärungen des betreffenden Polizeibeamten. Von bestimmten Formerfordernissen - etwa Unterschriften - hängt die Verlesbarkeit einer Urkunde nach § 251 Abs. 1 StPO a.F. nicht ab.

5. Das Gericht muss das vom Beweisantragsteller benannte Beweismittel nicht verwenden, wenn ihm das Gesetz die Befugnis einräumt, es durch ein anderes Beweismittel zu ersetzen. Darf das Gericht nach § 251 StPO Urkunds- statt Zeugenbeweis erheben und deckt das vernehmungsersetzende Schriftstück die behaupteten Beweistatsachen ab, so ist über die Anhörung des Zeugen nur noch nach dem Maßstab der Aufklärungspflicht zu befinden, wobei der Senat zu der Ansicht neigt, dass es in diesen Fällen gleichwohl eines das Beweisbegehren zurückweisenden Beschlusses bedarf.

6. An den Vorsatz des Gehilfen sind geringere Anforderungen als an denjenigen des Täters zu stellen. Derjenige, der lediglich eine fremde Tat fördert, braucht Einzelheiten dieser Tat nicht zu kennen und keine bestimmten Vorstellungen von ihr zu haben. Allerdings ist ein Mindestmaß an Konkretisierung erforderlich. Der Hilfeleistende muss die zentralen Merkmale der Haupttat, namentlich den wesentlichen Unrechtsgehalt und die wesentliche Angriffsrichtung, im Sinne bedingten Vorsatzes zumindest für möglich halten und billigen.

7. Hat der Gehilfe bestimmte Vorstellungen, so ist es unschädlich, wenn diese in den Einzelheiten unzutreffend sind, sofern der Unrechtsgehalt und die Angriffsrichtung der vorgestellten und der begangenen fremden Tat im Wesentlichen übereinstimmen. Dabei kommt es nicht notwendig darauf an, ob die tatsächlich verwirklichte Haupttat ihrer rechtlichen Beurteilung nach dieselbe ist, auf die sich die Vorstellung des Hilfeleistenden bezieht. Der Gehilfenvorsatz wird nicht allein durch eine solche unterschiedliche rechtliche Einordnung in Frage gestellt, soweit es sich nicht um gänzlich verschiedene Taten im beschriebenen Sinne handelt; das gilt insbesondere auch für das Verhältnis von Beihilfe zum Betrug und zur Untreue.


Entscheidung

433. BGH 3 StR 63/15 - Beschluss vom 8. März 2018 (LG Osnabrück)

Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot bei überlanger Verfahrensdauer wegen Vorlageverfahrens (gesetzlich vorgesehener Verfahrensvorgang; Überschreitung des Angemessenen; durch Verhalten der Justizorgane verursachte Verzögerungen; Gesamtdauer des Verfahrens; Schwere des Tatvorwurfs; Umfang und die Schwierigkeit des Prozessstoffs; Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens für den Betroffenen verbundenen Belastungen); Versagung der Strafmilderung bei selbst verschuldeter Trunkenheit.

§ 21 StGB; § 49 StGB; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK; Art. 13 EMRK

1. Nicht jede im Strafprozess vorkommende Verzögerung führt zu einer Verletzung des Beschleunigungsgebots (Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK). Dies gilt auch für besondere Verfahrensvorgänge, die das Gesetz vorsieht, wie das in § 132 GVG geregelte Verfahren. Die für die Anfrage, die Vorlage und die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen benötigten Zeiträume sind für sich genommen keine Gründe für eine Kompensation.

Etwas Anderes gilt – wie hier – bei überlanger Verfahrensdauer, die das Maß des Angemessenen überschreitet.

2. Ob ein solcher Fall einer das Maß des Angemessenen überschreitenden Verfahrensdauer vorliegt, ist durch eine auf die Verhältnisse des konkreten Einzelfalles bezogene Gesamtwürdigung zu prüfen. Dabei sind vor allem die durch Verhalten der Justizorgane verursachten Verzögerungen, aber auch die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Prozessstoffs sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens für den Betroffenen verbundenen Belastungen zu berücksichtigen.


Entscheidung

381. BGH 1 StR 571/17 - Beschluss vom 10. Januar 2018 (LG Landshut)

Telekommunikationsüberwachung (Verwertbarkeit aufgezeichneter Hintergrundgeräusche und -gespräche): Besorgnis der Befangenheit (Vorbefassung des abgelehnten Richters: Beteiligung an einem Schuldspruch in einem abgetrennten Verfahren).

§ 100a StPO; § 24 StPO; § 4 Abs. 1 StPO

1. Bei einer durch § 100a StPO gerechtfertigten Aufzeichnung eines Telefongesprächs darf das gesamte während des Telefonats aufgezeichnete Gespräch einschließlich der Hintergrundgeräusche und -gespräche verwertet werden (vgl. BGH NStZ 2008, 473 f. mwN). Das gilt jedenfalls dann, wenn es sich um Gespräche handelt, bei denen einer der Teilnehmer der aufgrund gerichtlicher Anordnungsbeschlüsse überwachten Telefongesprächen eine dritte Person in die Kommunikation mit dem telefonischen Gesprächspartner einbezieht. Denn bei einer solchen Fallgestaltung sind die fraglichen Inhalte des Hintergrund- bzw. Raumgesprächs selbst Gegenstand der Telekommunikation.

2. Eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vortätigkeit eines erkennenden Richters, soweit sie nicht gesetzliche Ausschlussgründe erfüllt, ist regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit des Richters i.S.v. § 24 Abs. 2 StPO zu begründen, wenn nicht besondere Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen (st. Rspr.). Das gilt auch dann, wenn Verfahren gegen einzelne Angeklagte zur Verfahrensbeschleunigung abgetrennt werden und in dem abgetrennten Verfahren ein Schuldspruch ergeht, zu dem sich das Gericht im Ursprungsverfahren gegen den oder die früheren Angeklagten später ebenfalls noch eine Überzeugung zu bilden hat (vgl. BGH NJW 2006, 2864, 2866 Rn. 20).

3. Anders verhält es sich lediglich beim Hinzutreten besonderer Umstände, die über die Tatsache bloßer Vorbefassung als solcher und die damit notwendig verbundenen inhaltlichen Äußerungen hinausgehen. Dies wird etwa angenommen, wenn Äußerungen in früheren Urteilen unnötige und sachlich unbegründete Werturteile über einen der jetzigen Angeklagten enthalten oder wenn ein Richter sich bei seiner Vorentscheidung in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil des Angeklagten geäußert hat (st. Rspr.).


Entscheidung

386. BGH 2 StR 234/16 - Beschluss vom 28. Februar 2018 (LG Frankfurt am Main)

Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit (Vorbefassung des Richters mit der Sache: nur ausnahmsweise begründete Besorgnis der Befangenheit, hier infolge von Äußerungen).

§ 24 StPO

1. Knüpft die Richterablehnung an eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vorbefassung des abgelehnten Richters mit der Sache an, ist dieser Umstand regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen (vgl. BGHSt 21, 334, 341). Auch Rechtsfehler in Entscheidungen bei einer Vorbefassung mit dem Sachverhalt oder im zu Grunde liegenden Verfahren können eine Ablehnung im Allgemeinen nicht begründen (vgl. BGH NJW 2014, 2372, 2373).

2. Ein Ablehnungsgrund kann sich aus der Vorbefassung mit dem Sachverhalt ergeben, wenn besondere Umstände über die bloße Vorbefassung hinaus vorliegen. Solche Umstände können zum Beispiel darin bestehen, dass die frühere Entscheidung unnötige oder unbegründete Werturteile über den jetzigen Angeklagten enthält (vgl. BGHSt 50, 216, 222) oder sich der Richter in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil des Angeklagten geäußert hat (vgl. BGH NStZ 2012, 519, 521).


Entscheidung

390. BGH 2 StR 390/17 - Beschluss vom 27. Februar 2018 (LG Erfurt)

Prozessuale Tat (Identität der prozessualen Tat von Anklage und Urteil bei Veränderungen des Tatbilds: „Nämlichkeit“ der Tat, Serie von Sexualtat mit ungewisser Tatzeit: Art und Weise der Tatbegehung als maßgebliches Kriterium); Sicherungsverfahren (Umgrenzungsfunktion: gleiche Anforderungen wie bei einer Anklageschrift).

§ 264 StPO; § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 414 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Die Wahrung der Identität der prozessualen Tat trotz Veränderung des Tatbildes ist nach dem Kriterium der „Nämlichkeit“ der Tat zu beurteilen. Eine solche ist gegeben, wenn ungeachtet gewisser Differenzen bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Das Tatbild bestimmend sind in der Regel der Ort und die Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die ihm innewohnende Richtung und das Opfer beziehungsweise das Objekt, auf das sich der Vorgang bezieht (vgl. BGHSt 32, 215, 218).

2. Können einzelne Sexualtaten einer Tatserie nur hinsichtlich des Tatorts und der Begehungsweise, nicht aber hinsichtlich der Tatzeit näher bestimmt werden, so erlangt die Art und Weise der Tatverwirklichung maßgebliche Bedeutung für die Individualisierung der zum Gegenstand einer Anklage bzw. der Antragsschrift und später des Eröffnungsbeschlusses gemachten Taten (vgl. BGHSt 40, 44, 46). Ebenso wie in derartigen Fällen an die Individualisierung der Einzeltat in der Anklage- bzw. Antragsschrift einerseits und den Urteilsgründen andererseits keine zu strengen Anforderungen zu stellen sind, da ansonsten wegen der begrenzten Erinnerungsfähigkeit des regelmäßig einzigen Tatzeugen nicht mehr vertretbare Strafbarkeitslücken entstünden, dürfen auch Modifikationen und Ergänzungen, die das Tatbild im Vergleich

von Urteil zur Anklage bzw. der Antragsschrift erfährt, keiner zu strengen Betrachtung unterworfen werden (vgl. NStZ-RR 2005, 320).

3. Weichen bei einer Serientat die Feststellungen des Gerichts hinsichtlich der Tatmodalitäten einzelner Taten gleichwohl so deutlich von den in der Anklage- bzw. Antragsschrift geschilderten geschichtlichen Vorgängen ab, dass mit ihnen andere als die zuvor bezeichneten Taten im Sinne von § 264 Abs. 1 StPO beschrieben sind, kann sie das Gericht nicht ohne Erhebung einer Nachtragsanklage zum Gegenstand einer Verurteilung machen.

4. Eine Antragsschrift muss nach § 414 Abs. 2 Satz 2 StPO den Erfordernissen einer Anklageschrift genügen. Sie hat nach § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO die zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs dargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen (vgl. BGHSt 57, 88, 91).

5. Wann eine Tat als historisches Ereignis hinreichend umgrenzt ist, kann, wie bei einer Anklageschrift, nicht abstrakt, sondern nur nach Maßgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalls bestimmt werden (vgl. BGH wistra 2018, 49, 50). Bei einer Vielzahl sexueller Übergriffe gegenüber Kindern, die häufig erst nach längerer Zeit angezeigt werden, ist eine Individualisierung nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf oftmals nicht möglich. In diesen Fällen erfüllt eine Anklageschrift daher bereits dann ihre Umgrenzungsfunktion, wenn sie den Verfahrensgegenstand durch die Festlegung des zeitlichen Rahmens der Tatserie, die Nennung der Höchstzahl der nach dem Anklagevorwurf innerhalb dieses Rahmens begangenen Taten, das Tatopfer und die wesentlichen Grundzüge des Tatgeschehens bezeichnet (vgl. BGHSt 40, 44, 46 f.).


Entscheidung

428. BGH 2 ARs 97/18 2 AR 47/18 - Beschluss vom 28. März 2018

Anzeigepflicht bei Leichenfund und Verdacht auf unnatürlichen Tod (Rechtsnatur des Todesermittlungsverfahrens).

§ 159 StPO; § 160 StPO

Das Todesermittlungsverfahren ist kein Ermittlungsverfahren im Sinne des § 160 StPO. Es dient zum einen der Beweissicherung, insbesondere durch Spurensicherung, Leichenschau sowie Leichenöffnung, und zum anderen der Prüfung und Entscheidung, ob zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für ein Tötungsdelikt gegeben sind und ein entsprechendes Ermittlungsverfahren einzuleiten ist. Es ist also ein Beweissicherungs- und Vorprüfungsverfahren, hat aber - im Gegensatz zu einem Ermittlungsverfahren - nicht den Verdacht einer konkreten Straftat zum Gegenstand, für die ein Gerichtsstand bestimmt werden könnte.


Entscheidung

391. BGH 2 StR 431/17 - Urteil vom 21. Februar 2018 (LG Fulda)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Anforderungen an die Darstellung in einem freisprechenden Urteil; Darstellung bei einer Vielzahl von Sexualtaten gegen ein Kind: erforderliche Individualisierung der Taten; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1, Abs. 5 StPO; § 176 StGB

Im Hinblick auf die Probleme der Stofffülle und der Beweisschwierigkeiten bei vielen sexuellen Übergriffen auf ein allein als Beweismittel zur Verfügung stehendes Kind dürfen an die Individualisierbarkeit der einzelnen Taten im Urteil keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden (vgl. BGH NStZ 1994, 502). Der Tatrichter muss sich aber, möglichst unter Konkretisierung der einzelnen Handlungsabläufe. wie bei jeder anderen Verurteilung auch die Überzeugung verschaffen, dass es im gewissen Zeitraum zu einer bestimmten Mindestanzahl von Straftaten gekommen ist. Dabei muss das Tatgericht darlegen, aus welchen Gründen es die Überzeugung gerade von dieser Mindestzahl von Straftaten gewonnen hat (vgl. BGHSt 42, 107, 109). Ist eine Individualisierung einzelner Taten mangels Besonderheiten im Tatbild oder der Tatumstände nicht möglich, sind zumindest die Anknüpfungspunkte zu bezeichnen, anhand derer der Tatrichter den Tatzeitraum eingrenzt und auf die sich seine Überzeugung von der Mindestzahl und der Begehungsweise der Mißbrauchstaten des Angeklagten in diesem Zeitraum gründet (vgl. BGH NStZ 1998, 208).


Entscheidung

405. BGH 4 StR 284/17 - Beschluss vom 30. Januar 2018 (LG Essen)

Urteilsgründe (Anforderungen in Fällen von „Aussage gegen Aussage“); Vergewaltigung (körperlich schwere Misshandlung, Verursachung einer Lebensgefahr: Anforderungen an den Vorsatz); sexuelle Nötigung (anwendbares Recht).

§ 177 Abs. 1, 2 Nr. 5 StGB; § 177 Abs. 4 Nr. 2a und b StGB aF; § 177 Abs. 8 Nr. 2a und b StGB nF; § 261 StPO; § 267 StPO

1. In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Deshalb ist es in derartigen Fällen in der Regel erforderlich, die Entstehung und Entwicklung der betreffenden Aussage im Urteil zu erörtern.

2. Der subjektive Tatbestand setzt für beide Tatmodalitäten mindestens bedingten Vorsatz voraus. Bezüglich Nr. 2a muss sich dieser auf die besonderen Folgen der Tat beziehen; ein gewöhnlicher Körperverletzungsvorsatz genügt nicht. Auch hinsichtlich der Verursachung der Lebensgefahr muss der Täter (zumindest bedingt) vorsätzlich gehandelt haben. § 18 StGB findet insoweit keine Anwendung.

3. Die Strafkammer hat in diesem Fall den Tatbestand der sexuellen Nötigung gemäß § 177 Abs. 1, 2 Nr. 5 StGB in der zum Zeitpunkt der Urteilsfällung geltenden Fassung

des Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016 (BGBl. I 2460) mit der Begründung angewendet, dass diese Vorschrift bei ansonsten gleichem Strafrahmen im Unterschied zu § 240 Abs. 1, 2 i.V.m. Abs. 4 Nr. 1 StGB aF einen minder schweren Fall vorsehe. Es hat indes die Voraussetzungen eines solchen minder schweren Falles mit rechtlich nicht zu beanstandender Begründung verneint. Ist bei der gebotenen konkreten Betrachtungsweise der jeweilige Strafrahmen aber identisch, ist das zur Tatzeit geltende Recht anzuwenden.


Entscheidung

422. BGH 4 StR 629/17 - Beschluss vom 28. März 2018 (LG Dortmund)

Recht des letzten Wortes (Verfahrensverstoß bei Entzug des letzten Wortes der Erziehungsberechtigten).

§ 67 Abs. 1 JGG; § 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO

1. Der in der Hauptverhandlung anwesenden erziehungsberechtigten Mutter eines Angeklagten ist von Amts wegen das letzte Wort zu gewähren. Dies gilt auch dann, wenn sie bereits an einem früheren Hauptverhandlungstag als Zeugin gehört worden ist.

2. Der Verfahrensverstoß führt jedoch nur zur Aufhebung des Strafausspruchs, wenn der Schuldspruch auf dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht beruhen kann.


Entscheidung

447. BGH 5 StR 18/18 - Beschluss vom 6. März 2018 (LG Berlin)

Kein absoluter Revisionsgrund bei mündlicher Mitteilung der Urteilsgründe ohne den inhaftierten, seine Vorführung verweigernden Angeklagten (nicht wesentlicher Teil der Hauptverhandlung; einzelfallbezogen Entscheidung; Beurteilungsspielraum).

§ 338 Nr. 5 StPO

Die Fortsetzung der Hauptverhandlung ohne den inhaftierten, nach Verkündung des Urteilstenors in den Vorführbereich geflüchteten und eine erneute Vorführung verweigernden Angeklagten, führt regelmäßig schon deshalb nicht zum Vorliegen des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 5 StPO, weil die mündliche Mitteilung der Urteilsgründe lediglich einen nicht wesentlichen Teil der Hauptverhandlung darstellt.


Entscheidung

407. BGH 4 StR 336/17 - Urteil vom 12. April 2018 (LG Düsseldorf)

Rechtsmittelbegründung (Anforderungen); Grundsätze der Strafzumessung (regelmäßig keine Berücksichtigung erlittener Untersuchungshaft); Zuhälterei (Voraussetzung aller Tatbestandsvarianten: bestimmende Einflussnahme; Definition einzelner Tatbestandsvarianten); Menschenhandel (Gewerbsmäßigkeit: allgemeine und deliktsspezifische Definition).

Nr. 156 Abs. 2 RiStBV; § 46 Abs. 2; § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 181a Abs. 1 Nr. 2 StGB; § 232 Abs. 3 Nr. 3 StGB aF

1. Die Staatsanwaltschaft ist gehalten, keine allgemeinen Sachrügen zu erheben und Revisionen so zu begründen, dass klar ersichtlich ist, in welchen Ausführungen des angefochtenen Urteils eine Rechtsverletzung gesehen und auf welche Gründe diese Rechtsauffassung gestützt wird.

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht bei einer Vielzahl abgeurteilter Taten die nicht ausgeführte Sachrüge zur ordnungsgemäßen Begründung einer Revision der Staatsanwaltschaft nicht aus.

3. Gewerbsmäßig handelt, wer sich durch wiederholte Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer verschaffen will. Liegt ein solches Gewinnstreben vor, ist bereits die erste Tat als gewerbsmäßig zu werten. Die Wiederholungsabsicht muss sich stets auf das Delikt beziehen, dessen Tatbestand durch das Merkmal der Gewerbsmäßigkeit qualifiziert ist.

4. Gewerbsmäßigkeit im Sinne des schweren Menschenhandels liegt vor, wenn der Täter sich eine fortlaufende Einnahmequelle gerade durch die wiederholte Vornahme solcher Handlungen verschaffen will, die den Tatbestand des § 232 Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB aF erfüllen. Dabei ist aber nicht erforderlich, dass der Täter die erstrebten Einnahmen ausschließlich aus Menschenhandel erzielen will. Es reicht vielmehr aus, wenn sich die Wiederholungsabsicht auch auf derartige Taten erstreckt.

5. Der Tatbestand der dirigierenden Zuhälterei setzt in allen Begehungsvarianten eine bestimmende Einflussnahme auf die Prostitutionsausübung voraus; eine bloße Unterstützung genügt nicht. Erforderlich ist vielmehr ein Verhalten des Täters, das geeignet ist, die Prostituierte in Abhängigkeit von ihm zu halten, ihre Selbstbestimmung zu beeinträchtigen, sie zu nachhaltiger Prostitutionsausübung anzuhalten oder ihre Entscheidungsfreiheit in sonstiger Weise nachhaltig zu beeinflussen.

6. Beim Überwachen geht es um eine andauernde Kontrolle der Geldeinnahmen, der Buchführung und der Preisgestaltung für die sexuellen Dienstleistungen, die eine wirtschaftliche Abhängigkeit der Prostituierten bewirken kann, welche ihr eine Lösung aus der Prostitution erschwert.

7. Das Bestimmen der Umstände der Prostitution muss zur Erfüllung des Tatbestands in einer Weise erfolgen, dass sich die Prostituierte den Weisungen nicht entziehen kann. Freiwilliges Akzeptieren von Bedingungen schließt dirigierende Zuhälterei in diesem Sinne aus.

8. Die dritte Tatbestandsvariante des § 181a Abs. 1 Nr. 2 StGB liegt vor, wenn der Täter, der Beziehungen zu der Prostituierten unterhält und um des eigenen Vermögensvorteils willen handelt, Maßnahmen ergreift, welche das Opfer davon abhalten sollen, die Prostitution aufzugeben. Erfasst werden hiervon nur Vorkehrungen, die das Opfer in seiner Entscheidungsfreiheit zu beeinträchtigen geeignet und darauf gerichtet sind, ihm den Weg aus der Prostitution zu verbauen. Dies ist der Fall, wenn sich das Opfer durch Zwang oder Drohung an der Prostitution festgehalten fühlt.

9. Erlittene Untersuchungshaft ist regelmäßig für die Strafzumessung ohne Bedeutung, weil sie grundsätzlich auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet wird. Auch beim erstmaligen Vollzug der Untersuchungshaft kommt eine

mildernde Berücksichtigung nur in Betracht, sofern im Einzelfall besondere Umstände hinzutreten.


Entscheidung

436. BGH 3 StR 342/17 - Beschluss vom 6. März 2018 (LG Bückeburg)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit (Indiz- oder Hilfstatsache; kein Zusammenhang mit der Urteilsfindung; kein Einfluss auf richterliche Überzeugungsbildung; Beurteilung nach den Grundsätzen freier Beweiswürdigung; Einstellung der behaupteten Tatsache in das Beweisergebnis).

§ 244 Abs. 3 StPO; § 261 StPO

1. Eine unter Beweis gestellte Indiz- oder Hilfstatsache ist aus tatsächlichen Gründen für die Entscheidung bedeutungslos, wenn sie in keinem Zusammenhang mit der Urteilsfindung steht oder wenn sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihrer Bestätigung keinen Einfluss auf die richterliche Überzeugung vom entscheidungserheblichen Sachverhalt hätte, weil sie nur einen möglichen Schluss auf das Vorliegen oder Fehlen einer Haupttatsache oder den Beweiswert eines anderen Beweismittels ermöglicht und das Gericht der Überzeugung ist, dass dieser Schluss in Würdigung der gesamten Beweislage nicht gerechtfertigt wäre.

2. Ob der Schluss gerechtfertigt wäre, hat das Tatgericht nach den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung zu beurteilen. Hierzu hat es die unter Beweis gestellte Indiz- oder Hilfstatsache so, als sei sie erwiesen, in ihrem vollen Umfang ohne Umdeutung, Einengung oder Verkürzung in das bisherige Beweisergebnis einzustellen und prognostisch zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung zu der potentiell berührten Haupttatsache bzw. zum Beweiswert des anderen Beweismittels in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde


Entscheidung

420. BGH 4 StR 614/17 - Beschluss vom 13. März 2018 (LG Kaiserslautern)

Recht auf ein faires Verfahren (Tatprovokation bei Einsatz einer polizeilichen Vertrauensperson); Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern (Herausgabe sichergestellter Geldbeträge an ermittelnde Polizeibehörde).

Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 73 StGB

1. Eine Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzende Tatprovokation liegt nicht schon dann vor, wenn eine polizeiliche Vertrauensperson den Betreffenden ohne weiter gehende Einwirkung lediglich darauf anspricht, ob dieser Betäubungsmittel beschaffen könne

2. Keinen Bestand haben kann die Anordnung des Verfalls, wenn es sich um Geldscheine handelt, die ein verdeckt ermittelnder Polizeibeamter zur Bezahlung eines Tatverdächtigen mit sich führt. Der sichergestellte Geldbetrag steht in solchen Fällen derjenigen Polizeibehörde zu, die ihn zur Verfügung gestellt hat, und ist an diese herauszugeben. An dieser Rechtslage hat sich durch die Neufassung des § 73 StGB durch das Gesetz vom 13. April 2017 nichts geändert.


Entscheidung

404. BGH 2 StR 470/17 - Beschluss vom 7. März 2018

Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss (Frist zur Abgabe einer Gegenerklärung).

§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO

Die Frist zur Abgabe einer Gegenerklärung kann nicht verlängert werden. Nach Fristablauf braucht eine Ergänzung auch dann nicht abgewartet zu werden, wenn sie in Aussicht gestellt worden ist.