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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2016
17. Jahrgang
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Von Dr. Gerhard Timpe, Regensburg
"Jede Person bedarf … zur Verwirklichung ihres Wohls einer Gesellschaft als wirtschaftender Gemeinschaft"[1]. Marktwirtschaftliche Ordnungen verfolgen keine vorgegebenen Zwecke, wie z.B. die Förderung des "Wohl(s) … des gemeinen Wesens"[2], sondern dienen allein der Befriedigung der Bedürfnisse der Wirtschaftssubjekte[3]. Marktwirtschaften ermöglichen also dadurch Freiheit, dass sie es zulassen, dass sich die Wirtschaftssubjekte ihre Zwecke selbst setzen und ihre selbst gesetzten Zwecke gemeinsam mit anderen verfolgen. In einer Marktwirtschaft sind die Akteure aber nicht nur arbeitsteilig miteinander verbunden, sondern unter ihnen besteht auch eine Wissensteilung, so dass der Erfolg wirtschaftlichen Handelns maßgeblich auch davon abhängt, dass es gelingt, die auf verschiedene Akteure verteilten Bruchstücke unvollständigen Wissens zu entdecken und sinnvoll zu miteinander zu verbinden. Auf einem freien Markt ist Wettbewerb deshalb ein "Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen …, die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt würden"[4]. "Der Wettbewerb (zeige) nicht nur …, wie Dinge besser gemacht werden können, sondern (zwinge) alle, deren Einkommen vom Markt abhängt, … die Verbesserung nachzuahmen"[5]. Die für den Wettbewerb als "Entdeckungsverfahren"[6] erforderlichen Freiräume gewährleistet das (Straf‑)Recht einmal durch Formen dezentraler Risikoverwaltung, insbesondere durch die Anerkennung einer die Verantwortungsbereiche der Marktakteure trennenden Arbeitsteilung, das erlaubte Risiko, das Handeln auf eigene Gefahr und den Vertrauensgrundsatz[7]. Das Recht schreibt den Wirtschaftssubjekten nicht vor, wie sie sich zu verhalten haben, sondern gibt nur das Regelungsziel vor, andere nicht zu schädigen, überlässt es aber jedem einzelnen, sein Verhalten situationsabhängig so einzurichten, dass andere nicht geschädigt werden. Richten die Wirtschaftssubjekte ihr Verhalten aber so ein, dass andere nicht zu Schaden kommen, verhalten sie sich also erlaubt riskant, müssen sie sich nicht darum kümmern, wie andere an ihr Verhalten anschließen, weil ihr Verhalten zur erlaubten Gestalt der Gesellschaft gehört, und deshalb nicht den objektiven, und deshalb sozial verbindlichen Sinn hat, eine Rechtsverletzung zu ermöglichen. Wer z.B. Kraftfahrzeuge herstellt, beteiligt sich folglich nicht an den mit den Fahrzeugen begangenen vorsätzlichen Verkehrsverstößen, und ist auch dann nicht mittelbarer Täter der vorhersehbar mit den Fahrzeugen verursachten Personenschäden, weil eine Gesellschaft, die ihre Bürger als frei darstellt, zugleich aber hochgradig anonyme Sozialkontakte ermöglichen muss, nicht umhin kommt, eine die Verantwortungsbereiche der Beteilgten trennende Arbeitsteilung[8] anzuerkennen. Nur wer das (vom Stand der Gesellschaft abhängige) Maß des erlaubten Risikos überschreitet, hat die Folgen zu verantworten. Derjenige, der z.B. bei der Herstellung von Chemikalien die positivrechtlich festgelegten Standards einhält, ist für einen trotzdem stattfinden Unfall nicht verantwortlich. Wer eine Selbstgefährdung organisiert, handelt auf eigene Gefahr. Deshalb ist der Inhaber eines Autoverleihs nicht Täter einer Körperverletzung, wenn der Entleiher bei einem riskanten Überholmanöver zu Schaden kommt. Ein Garant, z.B. der Inhaber eines Unternehmens für Küchengeräte, kann die Erfüllung der ihn treffenden Pflicht vertrauenswürdigen und gegebenenfalls entsprechend ausgebildeten Personen übertragen. Der Betriebsinhaber darf dann darauf vertrauen, dass der von ihm eingestellte Prokurist keine überhöhten Rechnungen an Kunden versendet. Der Schädiger muss zudem Garant für die Schadlosigkeit seiner Organisationen sein. Ein Bäcker, der das letzte Brot verkauft, ist daher nicht dafür zuständig, dass ein später kommender Kunde Hunger leidet.
Die Freiheiten, die die Lehre von der objektiven Zurechnung den wirtschaftenden Subjekten eröffnet, kassiert
§ 17 in der Auslegung, die er durch die Rechtsprechung[9] erfahren hat, aber sogleich wieder ein, und erzwingt eine defensive, also "innovationsunfreundliche"[10], Haltung, wenn sie fordert, dass sich jeder "bei allem, was er zu tun im Begriff steht, … bewusst zu machen (habe), ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in Einklang steht. Zweifel hat er durch Nachdenken oder Erkundigung zu beseitigen. Hierzu bedarf es der Anspannung des Gewissens; ihr Maß richtet sich den Umständen des Falles und dem Lebens- und Berufskreis des Einzelnen"[11]. Der "Pflichtverletzungslehre"[12] der Rechtsprechung liegt die Vorstellung[13] zugrunde, dass es eine "erkennbare natürliche und moralische Ordnung" gebe[14], deren Stifter jedem Einzelnen die Regeln und Prinzipien dieser Ordnung ins Gewissen eingepflanzt hat[15]. Diese Rechtsprechung denkt die "soziale Komponente der Selbststeuerung" durch das Gewissen von "vornherein normativ und moralisch"[16], also als "Partizipation an … einer höheren Ordnung", die "nur belehrt, … aber Abweichungen zulässt"[17], verfehlt damit aber die Wirklichkeit einer Gesellschaft, die kein Standardrepertoire an Verhaltensweisen mehr vorgibt, aus dem jeder wählen kann, ohne sich falsch zu verhalten, sondern darauf angewiesen ist, dass ihre Mitglieder sich ihre Zwecke selbst setzen und im Wettbewerb mit anderen verfolgen, und ihre Lebenswelt dadurch erst erschaffen.
Die "Gewissensanspannung" ist als Maßstab für die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums nur bei den Normen geeignet, aber auch überflüssig, die ohnehin im Gewissen verankert sind, weil sie zum Kernbestand der Normen der Gesellschaft gehören, also der Normen, die die Identität einer Gesellschaft mitbestimmen, und die deshalb "nur durch einen Akt staatlicher oder gesellschaftlicher Revolution preisgegeben werde können"[18], wie z.B. die Normen gegen den Landesverrat, die Parlamentsnötigung oder die Steuerhinterziehung, die wesentlichen Grundsätze des Berufsbeamtentums, insbesondere das Verbot der Vorteilsannahme, die Garantie des Privateigentums, die Garantie des Urkunds- und Zahlungsverkehrs, die Gewährleistung der körperlichen Integrität und des Lebens und wohl auch die Normen gegen Gewässerverunreinigung und umweltgefährdende Abfallbeseitigung. Die Anerkennung identitätsbildender Normen wird wegen ihres Inhalts verlangt, und nicht nur wegen der Art und Weise ihres Zustandekommens. Sie werden von jedem, der in dieser Gesellschaft sozialisiert wurde, so gelernt, dass die "rechtliche Qualität eines Verhaltens zumeist nicht erschlossen wird ..., sondern stereotyp mitbewusst … oder unbewusst stereotyp miterlebt" wird[19]. Für die Kenntnis dieser Normen ist jeder solange selbst zuständig, wie er seine Schuldfähigkeit (§ 20) nicht verloren hat. Ein Irrtum über identitätsbildende Normen ist deshalb nur bei Personen denkbar, die in einer fremden Kultur sozialisiert wurden, und bei denen daher eine defizitäre Sozialisation[20] als Befund vorhanden ist, der ihre Äußerungen als unmaßgeblich, also nicht anschlussfähig erscheinen lässt. Bei den Normen aber, die ihre Entstehung einer Entscheidung verdanken[21], und die auch durch eine Entscheidung wieder geändert werden können, passt die "Gewissensanspannung" als Maßstab schon deshalb nicht, weil das Recht bei diesen Normen gerade nicht erwartet, dass ihr Inhalt im Gewissen verankert ist, sondern nur, dass jeder bereit ist, das Recht, das in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen ist, auch zu befolgen. Die Verankerung positivierten Rechts im Gewissen wäre geradezu dysfunktional, weil die rasche Änderbarkeit positiven Rechts nicht mehr möglich wäre, wenn jede Rechtsänderung erst den zeitaufwändigen Umbau der Persönlichkeitsstrukturen der Betroffenen voraussetzen würde, um in deren Verhalten wirksam zu werden[22]. Die "Pflichtverletzungslehre" der Rechtsprechung konterkariert mit ihrem Rigorismus damit eine der Funktionen der Positivierung des Rechts, sozialen Wandel zu ermöglichen und zu gestalten und die Gesellschaft dadurch vor Erstarrung zu schützen. Die Gestaltung sozialen Wandels durch positives Recht ist sozial aber nur akzepabel, wenn auf die nur begrenzte Lernfähigkeit der Betroffenen Rücksicht genommen wird, weil auch Gutwillige ins Straucheln geraten können, wenn das Tempo des Wandels zu hoch ist. "Bei zunehmender … Kontingenz" des Rechts ist schon deshalb nicht mehr gesichert, dass das "Gewissen … dieselben oder doch ähnliche Normen verkündet wie die öffentliche Moral oder das Recht"[23]
Den psychologisierenden Deutungen der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums[24] ist gemeinsam, dass sie Freiräume für "Entdeckungen" im Wettbewerb lassen, weil sie es in das Belieben jedes Einzelnen[25] stellen, ob er das Recht befolgen will oder nicht. Sie sind normativ aber nicht akzeptabel, weil sie den Begriff der Vermeidbarkeit vor der Gesellschaft definieren, und deshalb axiologisch notwendige Einschränkungen, insbesondere in den Fällen der Gleichgültigkeit und der Rechtsblindheit, nicht mehr systematisch herleiten können, sondern von Fall zu Fall improvisieren müssen. Nach psychologisierendem Verständnis ist ein Verbotsirrtum unvermeidbar, wenn dem "Täter zur Zeit seiner Tat jeder Anlaß (fehle) über die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens nachzudenken"[26]. Habe der Täter "nicht den geringsten Zweifel" an der Rechtmäßigkeit seines Vorhabens, "so ist er nicht befähigt durch einen Akt der Freiheit eine ihm objektiv gegebene Möglichkeit zur Erkenntnis der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens zu ergreifen"[27]. Hat der Täter sich also eine rechtliche Haltung bewahrt, und zweifelt er deshalb an der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens, so ist sein Verbotsirrtum vermeidbar. Nimmt er das Recht aus Rechtsblindheit oder Gleichgültigkeit aber gar nicht erst zur Kenntnis irrt er unvermeidbar, weil derjenigen, dem "jede Lust zum Nachdenken fehlt …, nicht (nachdenkt) und … deshalb … jenseits dessen, was sowieso vor seinem Auge steht" nichts erkennt[28], also auch keinen Grund hat, an der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens zu zweifeln. Diese Selbstrelativierung der Ordnung wäre aber mit ihrer Normativität nicht vereinbar, weil auch Rechtsblindheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Recht eine Interpretation des Verhältnisses zum Recht ist, nämlich dessen Abwertung, und der Täter deshalb auch ohne "leisen" Unrechtszweifel durch sein Verhalten dokumentieren kann, dass ihn das Recht nicht interessiert.. Die Bindung der Vermeidbarkeit an den real psychisch vorhandenen "Zweifel" des Täters konterkariert bei Desinteresse und Gleichgültigkeit also die generalpräventiv[29] erforderliche Bemessung der Strafe, so dass die Legitimation der Strafe selbst in Gefahr gerät, "weil konterkarierte Zwecke keine mehr sind"[30]. Um die Entlastung des Täters bei fehlender Rechtskenntnis auf ein sozial verträgliches Maß zurückzuführen, soll es bei "besonderen, namentlich beruflichen Tätigkeiten" jedem "Menschen einsichtig" sein, dass "eine jederzeitige und sichere Pflichtbefolgung die Kenntnis der bestehenden Rechtspflicht" voraussetze, und deshalb ein "sinnvolles Motiv" vorhanden sei, die "Möglichkeit zur Erkenntnis … beruflicher oder sonstige Tätigkeiten betreffenden Normen auch tatsächlich zu nutzen"[31]. Habe der Täter die ihm offenstehenden Erkenntnismöglichkeiten im Vorfeld der Tat nicht genutzt, sei sein Verbotsirrtum im Tatzeitpunkt zwar unvermeidbar; dem Täter könne aber zum Vorwurf gemacht werden, dass er es "in seinem Leben bis zur Verwirklichung der Unrechtstat als freier und verantwortlicher Mensch (unterlassen habe, sich) über die seine berufliche und sonstige Tätigkeit regelnden Rechtsnormen zu informieren"[32]. Schon aus "präventiven Gründen" sei es deshalb "unerläßlich" auf "ein Stück Lebensführungsschuld zurückzugreifen"[33]. Die Konstruktion einer "Lebensführungsschuld" ist aber nicht nur mit dem Tatprinzip unvereinbar, sondern auch unnötig, weil es zur "Lebensführungsschuld" funktionale Äquivalente gibt, insbesondere die Möglichkeit, "den Vorwurf der Sorgfaltswidrigkeit in das Vorfeld der eigentlichen Tathandlung vorzuverlagern"[34]. "Jedermann (müsse) vor der Übernahme einer Tätigkeit, die mit außergewöhnlichen Gefahren verbunden und deshalb mutmaßlich speziellen rechtlichen Regelungen unterworfen ist,
mit der von einem rechtstreuen Bürger zu erwartenden Sorgfalt prüfen, ob er der Aufgabe gewachsen ist, die betreffende Tätigkeit in rechtskonformer Weise zu bewältigen"[35]. Beanspruche der der Täter in einer bestimmten sozialen Rolle aufzutreten, habe er aber seine "Obliegenheit" verletzt, für Rechtskenntnis zu sorgen, werde ihm "die Möglichkeit abgeschnitten, sich zu seiner Entlastung auf die obliegenheitswidrig zustande gekommene Fehleinschätzung zu berufen"[36]. Der Täter wird also bestraft, weil er es im Vorfeld der Tat unterlassen hat, sich durch die Beschaffung von Recht s kenntnissen "zurechnungsfähig" zu erhalten, obwohl es eine ">Pflicht<, schuldfähig zu bleiben"[37], nicht gibt, und es deshalb auch nicht geboten sein kann, sich im Vorfeld der Tat um Rechtskenntnis zu bemühen, damit keine präventiv notwendige Zurechnung verloren geht. Durch die Verlagerung des Schuldvorwurfs auf eine Verhalten im Vorfeld der Tat wird § 17 aber zu einer Vorschrift verfälscht, die der Sicherung von Zurechnung in den Fällen dient, in denen dem Täter die Verarbeitung der Tatsituation durch das Normbefolgungsmotiv nicht mehr zur Kenntnis des Rechts verholfen hätte, er sich vor der Tat aber zurechenbar nicht um Rechtskenntnis gekümmert hat, ohne das Kommende zu diesem Zeitpunkt jedoch in einer für die actio libera in causa hinreichenden Dichte vorhersehen zu können. Vorbild für dieses Verständnis des § 17 ist also § 323a, dessen Schutzzweck es ist, die Möglichkeit von Zurechnung auch dann zu erhalten, wenn der Täter seine Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt zurechenbar verloren hat.
Während ein Irrtum über Tatumstände (§ 16) stets entlastet[38], entlastet mangelnde Rechtskenntnis[39] (§ 17) nur, wenn sie unvermeidbar ist. Der Grund für diese unterschiedlichen Behandlung von Wissensfehlern liegt darin, dass sich jeder um ausreichendes Wissen über die Gegebenheiten der Natur schon aus Eigeninteresse selbst kümmert, weil er mit seinen Planungen an der Wirklichkeit scheitern wird, wenn ihm zumindest elementare Kenntnis der Mathematik, der Logik oder der Naturgesetze fehlen. Die Gesetze der Natur bedürfen zu ihrer Stützung nicht der staatlichen Strafe, weil sie sich selbst stabilisieren. Wer sich nicht an sie hält, also z.B. meint, dass zwei und zwei fünf ergebe oder Granit in Wasser schwimmen könne, wird es nicht weit bringen, und setzt sich zudem der Gefahr einer poena naturalis[40] aus. Die Unkenntnis von Tatumständen kann also entlasten, ohne dass für den Erhalt der normativen Struktur der Gesellschaft erforderliche Zurechnung verloren geht, weil ein Irrtum über Tatumstände nicht die Geltung der Gesetze der Natur oder der Logik desavouiert, sondern den Irrenden. Das ist bei den Normen des positiven Rechts anders: Denn eine "nicht beweisbare und in diesem Sinn unvollkommene Ordnung"[41] kann nicht begründen, dass Rechtsbefolgung stets vorzugswürdig ist[42], weil rechtlich zu wollen nicht immer im Eigeninteresse des Täters liegt, individuell sinnhafte, also den Nutzen des Täters mehrende Taten, aber in besonderem Maße vorbildhaft wirken. Mit der Verschärfung des Zurechnungsmaßstabs (§ 17) gibt das positive Recht zu erkennen, dass es seine Schwäche kennt, und bei "schwachen" Normen, also bei Normen, die sich anders als die Naturgesetze und die Schlussregeln der Logik nicht selbst stabilisieren, deshalb jedem einzelnen als von ihm zu verantwortende Aufgabe zuschreibt, für hinreichende Normbefolgungsbereitschaft[43] zu sorgen[44]. Bringt der Täter nicht die Normbe-
folgungsbereitschaft auf, die von ihm in allen seinen Rollen erwartet wird, geht für die Bewahrung der normativen Struktur der Gesellschaft erforderliche Zurechnung verloren, wenn der Konflikt nicht auf das fehlerhafte Wollen des Täters zurückgeführt und damit erklärt wird. Die Zuständigkeit für den Normbruch kann ihm auch nicht von denjenigen abgenommen werden kann, die die "schwachen" Normen gesetzt haben, dem Staat und seinen Institutionen. Trotz des "Verfalls der Gesetzgebungskultur"[45] kann es eine "Risikoverteilung zu Lasten des Rechts"[46] schon deshalb nicht geben[47], weil sozialer Wandel nur durch positives Recht gestaltet werden kann und es deshalb zur Positivität des Rechts keine praktikable Alternative gibt. "Ohne eine Zuständigkeit für die Befolgung unbekannter Normen (geht es also) nicht"[48].
Das Recht konstituiert die Person nach seinen Funktionsbedingungen, also als ein System, das zwar nicht für bestimmtes Maß an Wissen[49], aber für ihr rechtliches Wollen zuständig ist. War das Wollen der Person fehlerhaft, ist ihr Verbotsirrtum dann unvermeidbar, wenn sie ihren Irrtum auch bei hin-reichender Normbefolgungsbereitschaft nicht hätte vermeiden können, weil Unvermeidbares in einer Gesellschaft, in der Schicksal seine Deutungskraft verloren hat, keinen deliktischen Sinn mehr zum Ausdruck bringt. Die Grenze zwischen Sinn und Natur ist dem Recht nicht natürlich vorgegeben, sondern richtet sich nach gesellschaftlichen Vorverständnissen von den Grenzen des Sozialen und verläuft deshalb in der "entzauberten Welt" (Max Weber[50]) der Moderne anders als in den theokratisch legitimierten Ordnungen des späten Mittelalters, in denen z.B. die Hexerei und Zauberei (Art. 109 PGO[51]) noch zur sozialen Normalität gehörte. Mit dem Vordringen des rational-naturwissenschaftlichen Weltbilds seit dem 18. Jahrhundert, gibt es in den Gesellschaften der Neuzeit keine sinnvollen Naturverläufe mehr: die Natur ist, was sie ist. In einer Welt ohne immanenten Sinn ist Sinn deshalb immer nur der von einer Person durch das ihr (lobend oder tadelnd) zurechenbares Verhalten gesetzter Sinn, an den (als Sinnangebot) angeschlossen werden kann und dem widersprochen werden muss, wenn er (als deliktischer Sinn) die Normgeltung in Frage stellt. Da Schicksal in der sinnleeren Welt der kompetitiven Moderne seine Deutungskraft verloren hat und das Unvermeidbare deshalb als Unglück erklärt und damit erledigt werden kann, ist Unrecht in dieser Welt nur ein Verhalten mit der objektiven Bedeutung eines Normwiderspruchs, also das bei unterstellt dominanter Rechtstreue vermeidbare Bewirken einer Tatbestandsverwirklichung durch eine kompetente Person, also durch eine Person, deren Äußerungen kommunikativ relevanten Sinn[52] aufweist. Auch aus Rechtsgleichgültigkeit[53] oder Rechtsfeindschaft unvermeidbar Irrende äußern nichts kommunikativ Relevantes, setzen keinen deliktischen Sinn, weil der Täter das vollzogene Verhalten (wegen der Unvermeidbarkeit des Irrtums) seinerseits nicht hätte vermeiden können. Hätte der Täter sein Defizit auch bei (unterstellt[54]) hin-
reichender Normbefolgungsbereitschaft nicht vermeiden können, fehlt deliktischer Sinn, weil die "Welt insoweit nicht als machbar begriffen wird"[55]. Zur Stützung der Normgeltung muss einem auch bei hinreichender Normbefolgungsbereitschaft nicht vermeidbaren Normverstoß, nicht widersprochen werden[56], weil er kein Sinnausdruck und damit auch kein strafrechtlich relevantes Verhalten ist.
Der Grund für den Wechsel der Perspektive weg von innerpsychischen Fakten, dem "leisen Unrechtszweifel", hin zu der vom Täter zu leistenden Aufgabe, für hinreichende Normbefolgungsbereitschaft zu sorgen, liegt darin, dass der vermeidbar Irrende nicht nur punktuell in einer seiner Rollen versagt, sondern die Leistung nicht erbracht hat, die von ihm in allen seinen Rollen erwartet wird, und seine Tat deshalb die Vermutung widerlegt, dass er Gewähr für die Normbefolgungsbereitschaft bietet, die von ihm als Person im Recht erwartet wird. Ein Röntgenarzt der sich z.B. aus Desinteresse nicht um seine Fortbildung kümmert und deshalb nicht weiß, dass eine bisher als erlaubt geltende Applikation der Strahlen aufgrund neuer Forschungen verboten ist, weil sie Gewebeschäden hervorrufen kann, kann Zweifel an seiner Kompetenz in anderen Rollen nicht mit dem Hinweis darauf ausräumen, dass sein Versagen rollenspezifisch gewesen sei; denn er hat die Normbefolgungsbereitschaft nicht aufgebracht, die er rollenübergreifend leisten muss, um gesellschaftstauglich zu sein. Versagt der Täter aber vor Anforderungen, die er in allen seinen Rollen erfüllen muss, wird die Rollentrennung[57] durch die Rückführung des Konflikts auf einen Mangel an Normbefolgungsbereitschaft durchbrochen, und dem Täter seine Tat in dem Sinn verschärft zugerechnet, dass er durch die Erklärung des Konflikts als Ausdruck mangelnder Normbefolgungsbereitschaft "nicht nur in einem gesellschaftlichen Sektor (desavouiert wird), sondern rundum"[58].
Zu den Formen, in denen sich ein Mangel an Normbefolgungsbereitschaft äußert, gehören nicht nur Desinteresse und Gleichgültigkeit, sondern dazu gehört auch selbstwidersprüchliches Verhalten[59]. Das Strafrecht garantiert zwar keine kognitiven (Mindest‑)Standards, wie z.B. Körperkraft, Geschicklichkeit oder Wissen, sondern Normbefolgungsbereitschaft. Geht der Irrende in einer Gesellschaft der gegenwärtigen Gestalt aber einen Sozialkontakt in einer bestimmten sozialen Rolle ein, übernimmt damit die Garantie für die Einhaltung des Pflichtenprogramms dieser Rolle[60]. Denn in einer hochgradig anonymen Gesellschaft, in der niemand mehr kompetent beurteile kann, wie andere an einen Sozialkontakt anschließen werden, ermöglicht erst das Vertrauen der Partner des Kontakts in die Konstanz der Rollen Sozialkontakte auch außerhalb sozialer Nähebeziehungen, wie z.B. der Ehe oder der Familie, weil mit der Kenntnis der der Rolle zugleich feststeht, welches Verhalten von dem Rollenträger normativ erwartet werden kann. Müssen für stereotype Situationen aber Standards gelten, und deckt die Gesellschaft ihren Standardisierungsbedarf durch die Bildung sozialer Rollen, verhält sich der Täter widersprüchlich, wenn er sich darauf beruft, dass er nicht gewusst hat, was jeder wissen muss, der beansprucht[61], in einer bestimmten Rolle zu agieren[62]. Der "Einzelne wird an der von ihm vollzogenen Selbstbindung … von seiner sozialen Umwelt festgehalten"[63], und sein Verbotsirrtum ist deshalb nur aus-
nahmsweise unvermeidbar[64], wenn ihm die Integration der Norm in seinen individuellen Weltentwurf misslingt, weil er z.B. in einer singulären Sonderlage mit reduzierter Besonnenheit handelt und deshalb nicht hinreichend auf den Kontext seines Verhaltens geachtet hat.
Das Recht erwartet zwar nicht, dass die Verarbeitung der Tatsituation durch das Normbefolgungsmotiv dem Täter stets zu einem fehlerfreien Verhalten verhilft; es erwartet aber, dass er ohne dieses Motiv nicht handelt, er also die Leistung erbringt, zu der er bei hinreichender Normbefolgungsbereitschaft imstande gewesen wäre. Unterläuft dem Täter trotz vorhandener Normbefolgungsbereitschaft ein Irrtum, kann auf seine individuellen Besonderheiten aber auch dann Rücksicht genommen werden, wenn er den Fehler bei hinreichender Normbefolgungsbereitschaft hätte vermeiden können. Denn niemand kann ohne Unterlass jedes einzelne eigene Verhalten auf dessen Rechtmäßigkeit hin überprüfen oder sich aus der Gesellschaft zurückziehen, wenn er sich zur Prüfung außer Stande sieht. In den Lebensbereichen, die jedermann ohne den Nachweis besonderer Fähigkeiten offen stehen, verdienen geringfügige Fehlleistungen, die jedem unterlaufen können, schon deshalb Nachsicht, weil jedermann hin und wieder ein Irrtumsprivileg in Anspruch nehmen muss, um in einer Gesellschaft der gegenwärtigen Gestalt sein Auskommen zu finden, und anderen ihm die Berufung auf dieses Privileg daher nicht versagen kann, ohne sich zu widersprechen. Vor allem aber kann sich das Recht bei gelegentlichen Unachtsamkeiten Nachsicht mit dem Irrenden dann leisten, ohne dass Zurechnung verloren geht, wenn Wissensfehler nicht auf einen Mangel an Normbefolgungsbereitschaft verweist, sondern auf persönliche Defizite[65], wie z.B. einen Mangel an Kompetenz, der die Äußerungen des Irrenden als falsch und deshalb unmaßgeblich erscheinen lässt. "Als unfreiwillig (und deshalb verzeihlich) gilt, was … aus Unwissenheit geschieht"[66]. Nur das, "was freiwillig geschieht" ist für "Lob und Tadel" offen, "während das Unfreiwillige Nachsicht und manchmal Mitgefühlt findet"[67]. Weiß ein Winzer trotz regelmäßiger Lektüre einschlägiger Fachzeitschriften z.B. nicht, dass eine alte Rebsorte nicht mehr angebaut werden darf, weil neuere Forschungen sie als starken Allergieauslöser identifiziert haben, ist sein Irrtum unvermeidbar[68], weil sein Versagen damit erklärt werden kann, dass er trotz hinreichender Normbefolgungsbereitschaft in den "Rechtsmassen"[69] moderner Gesellschaften punktuell den Überblick verloren hat[70], ohne aber vor den Anforderungen versagt zu haben, die er in allen seinen Rollen erfüllen muss, um gesellschaftstauglich zu sein. Bei Wissensfehlern eines normbefolgungsbereiten Täters desavouiert der Irrtum nicht den Geltungsgrund positiven Rechts, sondern den Täter, so dass zur Bestätigung der Normgeltung nicht auf den Täter zurückgegriffen werden muss, weil seine Inkompetenz schon bei der Verwaltung eigener Angelegenheiten den Konflikt erklärt. Kann aber die Inkompetenz des Täters als rechtlich maßgeblicher Konfliktgrund herausgestellt werden, ist die Gefahr eines Anschlusses an die Tat gering, weil sie allgemein als missglücktes, also individuell sinnloses Unternehmen verstanden wird, das ihm mehr Nachteil als Nutzen bringt, und er daher keine Strafe, sondern "Nachsicht und … Mitgefühl"[71] verdient. Mangelnde Sorgfalt und fehlender Überblick in eigenen Angelegenheiten sind nicht erstrebenswert, sondern führen regelmäßig zu einer Schmälerung der sozialen Geltung des Unachtsamen, weil als "Dummkopf"[72] dasteht, der nicht ernst zu nehmen ist, wer schon bei der Verwaltung eigener Angelegenheiten versagt, und dann weitere Nachteile hinzukommen, wenn sich die Inkompetenz des Täters in einem Verbotsirrtum äußert, wie z.B. die "isolierende Peinlichkeit"[73] eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens oder Schadenersatzansprüche des Betroffenen. Stellen sich beim Täter aber "Mißbehagen (und) Bedauern"[74] ein, wenn er betrachtet, was er angerichtet hat, kann demonstriert werden kann, dass es schon in seinem Eigeninteresse liegt, sich um Rechtskenntnis zu kümmern, wenn er in einer Gesellschaft der gegenwärtigen Gestalt sein Auskommen finden will[75].
Offenbart die Tat die individuelle Sinnlosigkeit des Normbruchs, wirken die Äußerungen des Täters also nicht vorbildhaft, kann der Normbruch als nicht anschlussfähig abgetan werden, weil dem Täter zwar die Integration der Norm in seinen individuellen Handlungsentwurf misslungen ist, das Misslingen aber nicht an einem Mangel an Normbefolgungsbereitschaft lag, sondern an seinem Ungeschick oder an Umständen, für die er nicht zuständig ist, wie z.B. an der fehlerhaften Auskunft einer kompetenten Stelle oder einem Besonnenheitsverlust in einer singulären Sonderlage[76]. Als Ausdruck eines Mangels an Kompetenz ist der Rechtsirrtum eines normbefolgungsbereiten Täters unvermeidbar[77], ohne dass es darauf ankommt, ob der Täter z.B. aufgrund besonderer Skrupelhaftigkeit an der Rechtmäßigkeit seines Vorhabens tatsächlich gezweifelt hat. Auch der aus Skrupelhaftigkeit zweifelnde Täter besitzt kein normativ relevantes Unrechtsbewusstsein. Seine Desorientierung kann ihm nachgesehen werden. Denn "Positivität" bezeichnet nur den Geltungsgrund des Rechts, trifft aber keine "Richtigkeitsaussage"[78], weil der Inhalt positiven Rechts gegenüber dem Geltungsgrund vergänglich, also nebensächlich ist, und der Irrtum eines normbefolgungsbereiten Täters deshalb nicht den Geltungsgrund positiven Rechts desavouiert, sondern den Irrenden, der an der Wirklichkeit scheitern wird, weil ihm hinreichende Rechtskenntnisse fehlen. Der (Rest‑)Zweifel eines um Orientierung bemühten Täters ist nicht Folge seines Desinteresses oder seiner Gleichgültigkeit gegenüber dem Geltungsgrund positiven Rechts, sondern beruht bei dessen Anerkennung auf einer Fehleinschätzung der Situation, so dass auch dem zweifelnden Täter die Notwendigkeit, einen individuell sinnlosen Normbruch zu vermeiden demonstriert werden kann. Das bedingte Unrechtsbewußtsein[79], eines normbefolgungsbereiten Täters steht also nicht der Rechtskenntnis gleich, sondern er irrt unvermeidbar, weil eine individuell sinnlose Tat trotz seines Zweifels keine Vorbildwirkung besitzt.
Ist die Bedeutung eines Verhaltens als Eigenschaft dieses Verhaltens nicht ohnehin bekannt[80], wie bei allen stereotyp als rechtmäßig gelernten Verhaltensweisen[81], drängen sich also Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verhaltens auf, weil die Routinen des Alltags unterbrochen wurden[82], muss der Täter Zweifel durch Nachdenken oder das Einholen von Rechtsrat[83] beseitigen, oder das Vorhaben unterlassen. Nachdenken oder das Einholen von Auskünften sind jedoch keine Obliegenheiten[84] oder gar Pflichten[85] des Täters, weil § 17 keine kognitiven Mindeststandards garantiert[86], sondern diejenigen von strafrechtlicher Haftung frei stellen will, die durch ihr Verhalten die Vermutung bestätigen, dass sie bereit sind, die
Normbefolgungsbereitschaft aufzubringen, die von ihnen als Personen im Recht erwartet wird[87]. Gehören Nachdenken und Erkundigungen bei sachkundigen, unparteiischen und zuverlässigen Personen oder Stellen[88] aber nur als Bedeutungsträger hinreichender Normbefolgungsbereitschaft zum Tatbestand des § 17, kommt es auf das Ergebnis der Bemühungen des Täters nicht an, weil bei fehlerhaften Auskünften einer kompetenten Person oder Stelle[89] der Konflikt auf den Auskunft Erteilenden zurückgeführt und damit erklärt werden kann. Zweifelt der Täter an der Rechtmäßigkeit seines Vorhabens, erkundigt er sich aber nicht, ist sein Verbotsirrtum auch dann vermeidbar, wenn die hypothetische Erkundigung ihm nicht zur Rechtskenntnis verholfen hätte, weil er von der Auskunftsperson vermeidbar falsch beraten worden wäre[90]. Das hypothetische Ergebnis einer tatsächlich aber unterbliebenen Erkundigung kann den Täter schon deshalb nicht entlasten, weil die Zurechnung des Fehlers der die Auskunft erteilenden Person oder Stelle nur hypothetisch möglich ist, wenn der Täter tatsächlich auf die Einholung von Rechtsrat verzichtet hat, eine nur-hypothetische Zurechnung aber kein reales Geschehen erklärt, so dass zur Erklärung des Konflikts auf den Täter zurückgegriffen werden muss. Würde dem Täter die Berufung auf das hypothetische Ergebnis der unterbliebenen Erkundigung gestattet, so fiele jegliche Erklärung aus, obwohl der Konflikt erklärungsbedürftig ist; denn er kann weder dem Zufall zugeschrieben, noch dem fehlerhaften Verhalten anderer Personen zugerechnet werden kann, weil der Täter es versäumt hat, sich durch das Einholen von Rechtsrat als gesellschaftstauglich darzustellen.
Bei einer an den Bedingungen Normgeltung in einem System positiven Rechts ausgerichteten Interpretation der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums ist § 17 nicht "zu hart"[91], weil vom Täter wird nicht mehr verlangt wird, als jedermann in einer Gesellschaft der gegenwärtigen Gestalt, in allen seinen Rollen leisten muss, um gesellschaftstauglich zu sein, nämlich Normbefolgungsbereitschaft. Unterläuft einem normbefolgungsbereiten Täter ein Irrtum, desavouiert der Irrtum den Irrenden, aber nicht den Geltungsgrund positiven Rechts, so dass zur Stützung der Normgeltung nicht auf den Täter zurückgegriffen werden muss. Denn der Tat fehlt die Vorbildwirkung, wenn dem Täter die individuelle Sinnlosigkeit seines Normbruchs demonstriert werden kann, rechtlich zu wollen also in seinem Eigeninteresse lag. Wird die vom Irrenden zu fordernde Leistung aber auf ein Maß beschränkt, das jedermann ohnehin leisten muss, um in einer Gesellschaft der gegenwärtigen Gestalt sein Auskommen zu finden, bleibt genügend Raum, um außerhalb bewährter Alltagsroutinen Neues zu schaffen oder seinen individuellen Nutzen zu mehren.
[*] Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 410.
[1] Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts (2013), S. 37.
[2] Preußisches Allgemeines Landrecht von 1794, § 73 Einleitung.
[3] Für das "gemeine Wohl" sorgt eine "unsichtbare Hand" (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, hrsg. von Recktendahl, 8. Aufl.[1999], S. 52), die in einer Marktwirtschaft hinter dem Rücken der ihren individuellen Nutzen mehrenden Akteure alles zum Besten wendet.
[4] v. Hayek, Freiburger Studien (1969), S. 249.
[5] v. Hayek , Freiburger Studien (1969), S. 249 ff, 260.
[6] v. Hayek , Freiburger Studien (1969), S. 249 ff.
[7] Vgl. dazu Timpe, StraFo 2016, 7 ff.
[8] Vgl. zum Regreßverbot als rollenorientierter Abgrenzung personaler Verantwortungsbereiche in einer rechtlich dezentral organisierten Gesellschaft grundlegend Jakobs, Strafrecht AT 2. Aufl (1991), 24/13 ff.; ders., ZStW 89 (1977), 1 ff., 15 ff.; ders., GA 1996, 243 ff, 264; ders.. Lampe FS (2003), S 561 ff., 566; ff.
[9] BGHSt 2, 194 ff., 200 ff.; BGHSt 3, 99 ff., 101 f.; BGHSt 3, 357 ff.; BGHSt 4, 80 ff., 86; BGHSt 4. 236 ff., 243; BGHSt 5, 284 ff., 289 f.; BGHSt 6, 47 ff., 59; BGHSt 9, 164 ff. 172; BGHSt 21, 18 ff., 20; BGHSt 22, 223 ff., 226; BGHSt 22, 314 ff., 314 ff., 317 f.; BGHSt 35, 347 ff., 350; BGHSt 39, 168 ff., 179; kritisch dazu Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (1969), S 210; Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 417, meint, dass diese "Praxis … auf >error iuris nocet<" hinauslaufe; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 300, wendet ein, dass "derart rigide Forderungen … die dem sicherheitsbewussten Bürger real verfügbaren Freiheiten … auf den engen Bereich vielfach erprobter Alltagsprozeduren … beschränken und dadurch das soziale Leben weitgehend lähmen" würden.
[10] Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012); S. 323 f.
[11] BGHSt 2, 194 ff., 201 f.
[12] Dazu kritisch Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (1969), S. 195 ff.; Armin Kaufmann Eb. Schmidt FS (1961), 319 ff., 329 f.
[13] Vgl. dazu Roos, Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 im Spiegel der BGH-Rechtsprechung (2000), S.152 ff., der die theokratischen und naturrechtlichen Fundamente der "Pflichtverletzungslehre" freizulegen versucht, die dem Strafrecht vermeintlich vorpositive Grenzen setzen.
[14] Luhmann , in: Böckle/Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik (1973), S. 223 ff., 234.
[15] Kritisch zur Gewissensanspannung als Maßstab der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums Neumann, in: NK StGB, 4. Aufl. (2013), § 17 Rn. 57; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröer StGB, 29. Aufl. (2014), § 17 Rn. 15.
[16] Luhmann , in: Böckle/Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik (1973), S. 223 ff., 236
[17] Luhmann , a.a.O., S. 223 ff., 237
[18] Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. (1991), 19/7
[19] Jakobs , Strafrecht AT, 2. Aufl. (1991), 19/39
[20] Vgl. auch Zaczyk, JuS 1990, 889 ff., 891; Lesch, JA 1996, 607 ff., 608: "exotische Sozialisation"; Puppe, GA 1990, 145 ff., 151; Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 ff.; Frister, JuS 2013 1057 ff., 1061.
[21] Vgl. Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts (1986), S. 26: "Das Recht gilt …allein deshalb, weil entschieden worden ist, dass es gilt".
[22] Dazu eingehend Timpe, GA 1984, 51 ff.
[23] Luhmann , in: Böckle/Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik (1973), S. 223 ff., 236, 238.
[24] Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (1969), S. 155 ff.
[25] Dem Belieben jedes einzelnen bleibt die Rechtsbefolgung auch dann überlassen, wenn es zum Gegenstand des Unrechtsbewusstseins heißt, dass der Täter "den Sinn des Verbots (habe) erkennen" müssen, da Normbefolgungsbereitschaft "nicht geschuldet (sei), wo blinder Gehorsam abverlangt wird", Velten, Normkenntnis und Normverständnis (2000); S. 310, 313. Damit wird dem Täter aber eine "Verwerfungskompetenz" zugesprochen, die ihm außerhalb der dafür eröffneten Verfahren nicht zusteht. Außerhalb dieser Verfahren ist es vielmehr seine Angelegenheit, für Normbefolgungsbereitschaft zu sorgen, weil sich ein System positiven Rechts nicht verwalten lässt, wenn sich jeder Einzelne auf eine "Verwerfungskompetenz" berufen könnte.
[26] Rudolphi , Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (1969), S. 209 (anders aber ders., in: Bönner und de Boor[Hrsg], Unrechtsbewußtsein Aus der Sicht des Täters-Aus der Sicht des Richters[1982], S. 1 ff., 18 f.); vgl. auch Horn, Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit (1969), S. 103 f., der als Voraussetzung für die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums den "unspezifischen Zweifel" des Täters an der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens nennt, also das "aktuelle Bewusstsein", dass die Handlung möglicherweise verboten sei; ähnlich Zaczyk, JuS 1990, 889 ff., 893; Neumann, JuS 1993, 793 ff., 798; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. (1991), 19/37: "latentes Rest-Normwissen" (anders aber ders., RW 2010, 283 ff., 307 Fn. 87).
[27] Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (1969), S.209.
[28] Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. (1991), 8/22.
[29] Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (1969), S. 264; ders., in: Bönner und de Boor (Hrsg), Unrechtsbewußtsein Aus der Sicht des Täters-Aus der Sicht des Richters (1982), S. 1 ff., 20 f.
[30] Jakobs, ZStW 101 (1989), 516 ff., 536.
[31] Rudolphi , Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (1969), S.255.
[32] Rudolphi , Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (1969), S. 263.
[33] Rudolphi , Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (1969), S. 264.
[34] Pawlik , Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 309 Fn. 337; Horn, Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit (1969), S.32, 158, 163 f., geht einen anderen Weg: Um die Privilegierung der Gleichgültigen und Rechtsblinden auf ein sozial verträgliches Maß zurückzuschneiden, verdünnt er den Anlass, die verbotene Handlung zu unterlassen, nahezu bis zur Unkenntlichkeit, verlangt also nicht, dass der Täter "das spezifische Unrecht der projektierten Handlung" für "möglicherweise rechtswidrig" gehalten habe, sondern lässt genügen, dass "der Täter sich eine Norm (vorgestellt habe), die im konkreten Fall nicht eingriff, oder eine Norm, die schon gar nicht existiert". Stelle sich der Täter vor, gegen eine Norm zu verstoßen, die es nicht gibt, soll das Maß der Schuld von dem Motivationsdruck abhängen, den die nicht existente Norm "normalerweise" hätte.
[35] Pawlik , Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 301, 309.
[36] Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 311.
[37] Stratenwerth, Armin Kaufmann GS (1989), 485 ff., 498 f.
[38] Fahrlässigkeit wird seltener und in der Regel auch erheblich milder bestraft als Vorsatz. Bei Taten, die in einem vermeidbaren Verbotsirrtum begangen wurden, muss die Strafe zwar nicht gemildert werden, sie kann aber gemildert werde. Desinteresse ist dabei aber kein Milderungsgrund, sondern belastet umso mehr, je weiter sich der Täter vom Recht entfernt hat.
[39] Die "strafrechtliche Relevanz des Unrechtsbewusstseins (wird für gewöhnlich als) Konsequenz des als Prinzip gerechter Zurechnung verstandenen Schuldprinzips" gedeutet; "präventive Gesichtspunkte" dürften deshalb erst "bei der Bestimmung der Grenzen der strafrechtlichen Relevanz fehlender Unrechtskenntnis … ins Spiel" gebracht werden, Neumann, in: NK StGB, 4. Aufl. (2013), § 17 Rn.6; anders Timpe, GA 1984, 51 ff.; Jakobs, Das Schuldprinzip (1993), S. 18, der hervorhebt, dass "das Recht mit § 17 (anerkenne), dass es nicht jedenfalls erkennbar ist. Das ist der Sieg des Relativismus über die Vernünftigkeit des Rechts"; vgl. auch Pawlik Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 318.
[40] Jakobs, RW 2010, 283 ff., 305; vgl. auch Philips, Roxin FS (2001), 364 ff., 370: "Der blindlings um die Kurve rasende Fahrer gefährdet sich selbst genau so sehr, wie den der ihm möglicherweise entgegenkommt"; kritisch aber Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 321 f.; Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht (2007), S. 427 f.; Lesch, JA 1996, 607 ff., 611, der einwendet, dass nicht mit seiner "gesamten Lebensplanung" scheitere, "wer bloß bestimmte einzelne Normen nicht zur Kenntnis" nehme, und zudem die "Konsequenzen", die dem Täter … drohen (nur) diejenigen des Rechts (seinen), nicht solche der Natur". Die "Konsequenzen", die das Recht an ein fehlerhaftes Verhalten knüpft, müssen aber nicht weniger belastend sein, als die Folgen, die die "Natur" mit einem Wissensfehler verbindet, weil durch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren (und die Stigmatisierung durch die Strafe) Freiheit ebenso verloren geht, wie durch einen Krankenhausaufenthalt nach einer folgenreichen Trunkenheitsfahrt.
[41] Jakobs, ZStW 101 (1989), 516 ff., 526; ders., ZStW 107 (1995), 843 ff., 848 f.
[42] Die Rechtsprechung (BGHSt 4, 236 ff. 243; BGHSt 3, 105 ff., 107; 243; BGHSt 21, 18 ff., 20; BGH VRS 14, 30 f, 31; BGH NJW 2006, 522 ff., 529, zuletzt BGH NJW 2006, 522 ff., 529) verschärft deshalb den Zurechnungsmaßstab, und stellt an die "Erkenntnis der Rechtswidrigkeit eines tatbestandsmäßigen Sachverhalts höhere Anforderungen, …als hinsichtlich der Erkenntnis der Tatumstände selbst"; zur Begründung führt BGHSt 4, 236 ff., 243, aus, dass "mit der Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens seine Rechtwidrigkeit in der Regel gegeben und dies allgemein bekannt" sei; kritisch aber Zaczyk, JuS 1990, 889 ff., 892 f.; Neumann, JuS 1993, 793 ff., 798; ders., BGH FS, Bd. IV (2000), 83 ff., 103 f.; ders., in: NK StGB, 4. Aufl. (2013), § 17 Rn. 60; Nestler, Jura 2015, 562 ff..
[43] Velten Normkenntnis und Normverständnis (2000); S. 21.
[44] Bei starken Normen, also bei Normen, die sich selbst stabilisieren, gilt deshalb das "Kenntnisprinzip" (§ 16), bei schwachen Normen dagegen das "Verantwortungsprinzip" (§ 17), weil ihre Befolgung nicht als stets vorzugswürdig dargetan werden kann; anders Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 405 f., der als "innersten Grund der Schuldtheorie" die "Angst vor unwiderlegbaren Schutzbehauptungen" nennt.
[45] Velten , Normkenntnis und Normverständnis (2000), S. 423.
[46] Naucke , Roxin FS (2001), 503 ff.; Roos, Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 im Spiegel der BGH-Rechtsprechung (2000), S 320 f.; vgl zu einer Risikoverteilung zu Lasten des Rechts auch Zabel, GA 2008, 33 ff., 41, der aber verkennt, dass positives Recht nicht mit einer "exklusiven Richtigkeitsbehauptung" auftritt, um "eventuelle Plausibilitätserwägungen des Täters wirksam >erledigen< zu können", sondern nur mit dem Anspruch, zu gelten, weil im demokratischen Prozess entscheiden wurde, dass es gilt.
[47] Anders Naucke, Roxin FS (2001), 503 ff.; Roos, Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums nach § 17 im Spiegel der BGH-Rechtsprechung (2000), S 320 f.
[48] Velten , Normkenntnis und Normverständnis (2000); S. 348.
[49] § 17 schreibt den "Normadressaten" also nicht als von ihnen zu verantwortende Aufgabe zu, sich Informationen über das Recht zu beschaffen, um ihm die in Unkenntnis des Rechts begangene Tat dann zur Schuld zuzurechnen, wenn er den Standard eines über das Recht wohlinformierten Bürgers verfehlt; anders Lesch, JA 1996, 607 ff., 608; Dehne-Niemann, GA 2012, 89 ff., 95 f.; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S. S. 310 f., der § 17 die "Obliegenheit" entnimmt, sich um Rechtskenntnis zu bemühen, weil eine "Rechtsordnung … ohne die Bereitschaft ihrer Angehörigen, den Inhalt des Rechts zur Kenntnis zu nehmen" keinen Bestand haben könne. Eine "Obliegenheit", sich ohne Anlass um Rechtskenntnis zu kümmern, ist aber schon deshalb überflüssig, weil sich der Anlass, Rechtsrat einzuholen, bei hinreichender Normbefolgungsbereitschaft von selbst einstellt, wenn die Situation unübersichtlich ist, und deshalb nicht durch "eine Erwartung zweiter Ordnung" abgesichert werden muss. Die rechtliche "Motivation ist (also) der Schlüssel dafür, dass jemand in bestimmten Situationen (die) für seinen Zweck wichtige Informationen … wahrnimmt", und die "Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums" daher "eine Variable der Motivation", aber nicht des Kenntnisstandes des Täters, Velten, Normkenntnis und Normverständnis (2000), S. 70, 78. Kognitive Mindeststandards garantiert das Recht nur ausnahmsweise, wenn Risiken zentral verwaltet werden müssen, wie z.B. bei den abstrakten Gefährdungsdelikten. Nebenbei: Ungeklärt ist bei der Konstruktion Pawliks auch, weshalb die "Erwartung zweiter Ordnung" nur für die Rechtskenntnis gelten soll, und nicht auch für andere, trainierbare, kognitive Fähigkeiten, wie z.B. Körperkraft oder Geschicklichkeit, die ja ebenso wie genügende Rechtskenntnisse Voraussetzungen dafür sein können, dass der Täter seine Pflichten mit "hinreichender Verlässlichkeit" erfüllt.
[50] Max Weber , in: Winkelmann (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre von Max Weber, 3. Aufl., (1988), S. 582 ff., 594.
[51] Peinliche Gerichtsordnung Karls V. von 1532, zitiert nach Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit (1998), S. 103 ff.
[52] Anders Welzel, ZStW 58, 1939, 491 ff., 504 f., der "Sinn" instrumentell versteht, also die "Fähigkeit zu sinnvoller Wertentscheidung" ausklammert und Sinnsetzung deshalb auf die Auswahl der Mittel zu einem bestimmten Zweck beschränkt.
[53] Gleichgültigkeit unterscheidet sich vom Irrtum nicht durch das vorwerfbare Maß der Unkenntnis, weil es auch grobe Irrtümer geben kann. Anders als beim Irrtum handelt der Gleichgültige vielmehr aus Interesse am Vollzug der Handlung ohne die Folgen zu bedenken; vgl. Jakobs, Paeffgen FS (2015), 221 ff.
[54] Das Vorhandensein hinreichender Normbefolgungsbereitschaft muss unterstellt werden, weil jeder bei seinen Organisationen zu garantieren hat, dass andere Personen nicht zu Schaden kommen; vgl. dazu schon Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt (1972), S. 127 ff.
[55] Jakobs , Kühl FS (2014), 281 ff., 287.
[56] Der von dem aus belastenden Gründen Irrenden verursachte Konflikt muss deshalb dann kognitiv angegangen und bereinigt werden, wenn nicht ausnahmsweise die Möglichkeit besteht, ihn nach den Regeln der actio libera in causa zur Verantwortung zu ziehen. Wer auf einer dicht befahrenen Straße auf eine Kreuzung zufährt und meint, dass ein dort aufgestelltes Verkehrsschild rechts (und nicht links) abbiegen vorschreibe, hätte zwar die Fahrt unterlassen und stattdessen die Verkehrsregeln repetieren können. In der Situation, in der er sich befindet, ist sein Irrtum aber auch bei hinreichender Normbefolgungsbereitschaft nicht vermeidbar, weil er seine Fahrt weder abrupt unterbrechen kann noch die Lage ist (z.B. durch Einschaltung eines Anwalts) sein Verhalten sorgfältig zu beurteilen und sich auf das Ergebnis einzustellen, um den Normverstoß zu vermeiden. Der Konflikt, den ein Kraftfahrer, der selbst die elementarsten Verkehrsregeln nicht kennt, verursacht, und dem deshalb der Führerschein weggenommen wurde, wird ihn erst dann zurückerhalten, wenn er in einem geordneten Verfahren nachweist, dass er seine Kenntnislücken ausgeglichen hat, §§ 11 ff., 36 FeV.
[57] Die Rollentrennung muss bei der Zurechnung zur Schuld durchbrochen werden, weil anderenfalls der Standard der jeweiligen Rolle das Maß der Haftung des Rollenträgers bestimmen würde und deshalb "der expressive Gehalt der Strafe ausschließlich auf die Rolle (beschränkt wäre), in der der Normbruch stattgefunden hat", Cancio Melia, Wolter FS (2013), 293 ff., 312; vgl. auch Jakobs, in: Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht (1987), 271 ff., 272 f. Damit würde aber der Zweck der Zurechnung zur Schuld verfehlt würde, "eine möglichst umfassende Distanzierung vom Täter zu ermöglichen", Jakobs, in: Witter (Hrsg), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht (1987), 271 ff., 275.
[58] Jakobs , Das Schuldprinzip (1993), S. 21.
[59] Vgl. auch Groteguth, Norm- und Verbots(un)kenntnis: § 17 Satz 2 StGB (1993), S. 36, 74, der aber zu dem axiologisch wenig befriedigenden Ergebnis gelangt, dass Norm und Geltungswissen zur aktuellen Unrechtseinsicht konvergieren müssen, weil erst "auf dieser Grundlage ... die vom Täter vorgenommene Verletzungshandlung als Besonderung gegen den von ihm mitkonstituierten allgemeinen Willen und damit als Selbstwiderspruch begründet werden" könne. Die vom Täter geforderte Leistung besteht aber nicht darin, einem wirklich vorhandenen Zweifel nachzugehen, sondern darin, die Normbefolgungsbereitschaft aufzubringen, die von jedem in seiner Bürgerrolle erwartet wird.
[60] Vgl. auch Neumann, BGH FS, Bd. IV (2000), 83 ff., 101 f., der auf den "Gedanken des Übernahmeverschuldens" zurückgreift, "außerhalb rechtlich besonders geregelter Lebenssachverhalte" aber "individualisierend" verfahren will; ders., in: NK StGB, 4. Aufl. (2013), § 17 Rn. 58 f.
[61] In einer bestimmten Rolle aufzutreten kann der Täter regelmäßig nur beanspruchen, wenn er zuvor seine Kompetenz in einem förmlichen Verfahren nachgewiesen, also z.B. eine Facharztausbildung absolviert oder eine Meisterprüfung abgelegt hat. Wird er ohne diesen Nachweis tätig, und versagt er vor den Anforderungen seiner Rolle, ist sein Irrtum Ausdruck eines Mangels an Normbefolgungsbereitschaft, und deshalb regelmäßig vermeidbar.
[62] Der Nichtgebrauch von Sonderwissen, also Wissen, das der Täter aufgrund einer besonderen Fähigkeit erworben hat, belastet nie; vgl. zum Sonderwissen Jakobs, Armin Kaufmann GS, 1989, 271 ff., 283; ders., RW 2010, S. 283 ff., 309 ff.
[63] Pawlik , Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 282.
[64] Anders Lesch, JA 1996, 607 ff., 609; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 309 f., der einem Rollenträger das zur Erfüllung des Leistungsprogramms seiner Rolle erforderliche Wissen nicht zuschreiben, ihm aber die Berufung auf sein Nichtwissen abschneiden will, wenn er seine "Obliegenheit" verletzt habe, für Kenntnis zu sorgen.
[65] Der Täter ist anders motiviert als jedermann, kann also entlastet werden, wenn seine defizitären Motivation weder Ausdruck von Rechtsblindheit noch von Gleichgültigkeit ist.
[66] Aristoteles, Nikomachische Ethik, Bd. III (1983), 1110b. Neben dem Vorsatz und der Fahrlässigkeit kennt Aristoteles noch eine dritte Schuldform, die er zwischen die "Freiwilligkeit" und die "Unfreiwilligkeit" stellt, und "Nichtfreiwilligkeit" (Aristoteles, a.a.O., 1110b) nennt, weil bei ihr die Unkenntnis durch Desinteresse vermittelt werde (dolus indirectus; vgl. dazu Jakobs, RW 2010, 283 ff.). Diese Schuldform unterscheide sich von der "Freiwilligkeit" (Vorsatz) dadurch, dass der Täter die tatbestandlichen Folgen seines Verhaltens nicht bedenke, und von der "Unfreiwilligkeit" (Fahrlässigkeit) dadurch, dass "sich danach (weder) Mißbehagen (noch) Bedauern einstellt", weil der Täter seinen Kenntnismangel nicht negativ bewerte.
[67] Aristoteles , Nikomachische Ethik, Bd. III (1983), 1110b.
[68] Handelt der Täter mit hinreichender Normbefolgungsbereitschaft und irrt er trotzdem über das Recht, ist sein Verbotsirrtum unvermeidbar, weil der Konflikt als Zufall erklärt, oder dem Verhalten des Opfers oder den dritten Personen zugerechnet werden kann die ihn falsch beraten haben, er die Auskunft aber für vertrauenswürdig halten durfte.
[69] Lesch , JA 1996, 607 ff., 609.
[70] Anders Roxin, ZStW 76 (1964), 582 ff., 604, der meint, dass sich mit einem Rechtsirrtum stets eine "Fehleinstellung des Haltungs- und Wertgefüges" verbinde; dagegen weist Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 320 f., zutreffend darauf hin, dass auch Tatumstandsirrtümer auf einem Wertungsfehler beruhen können, und es deshalb "eine Korrelation zwischen dem Grad der Vorwerfbarkeit und der Art des Irrtums" nicht gebe.
[71] Aristoteles , Nikomachische Ethik, Bd. III (1983), 1110b.
[72] Jakobs, ZStW 114 (2002), 584 ff., 588.
[73] Jakobs , Rechtszwang und Personalität (2008), S. 32.
[74] Aristoteles, Nikomachische Ethik, Bd. III (1983), 1110b.
[75] Um axiologische Unstimmigkeiten bei der Unterscheidung der Irrtumsarten zu vermeiden, sollte jede Unkenntnis, deren Folgen den Irrenden selbst treffen, weil er am Vollzug des Verhaltens nicht interessiert ist, deshalb (wie von der Vorsatztheorie vorgeschlagen) nach den Vorgaben des § 16 behandelt werden, also straffrei zu lassen, solange ein Tatbestand der Rechtsfahrlässigkeit fehlt. Für § 17 bleiben dann nur die Fälle der Gleichgültigkeit aus Interesse am Vollzug des Verhaltens.
[76] Zur Zurechnung zur Schuld gibt es funktionale Äquivalente, wie z.B. die Erklärung des Konflikts als Versagen dritter Personen, also der Personen, die den Täter falsch beraten haben, oder die Erklärung als Zufall, wie z.B. bei umstrittenen Rechtsfragen, wenn der Täter widersprüchlich Auskünfte von fachkundigen Personen erhält und sich für die ihm günstigste Variante entscheidet.
[77] Bei unvermeidbaren Verbotsirrtümern kann rechtstreues Verhalten also noch möglich, und Rechtsuntreue deshalb noch zu verantworten sein, wenn ein strengerer Maßstab angelegt wird. Ein zu strenger Maßstab ist aber schon deshalb nicht vorzugswürdig, weil er eine defensive Haltung erzwingt und deshalb zur Erstarrung der Gesellschaft führen würde. Eine an Innovation und Wandel interessierte Gesellschaft muss ihren Mitgliedern deshalb ein "erlaubtes Risiko" zubilligen, darf den Maßstab also nicht zu streng bilden, damit Freiheit und Bindung nicht zu Lasten der Freiheit in ein Ungleichgewicht geraten.
[78] Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts (1986), S. 25: "Das geltende Recht ist nicht mehr ohne weiteres richtiges Recht. Es bedarf der Legitimation".
[79] Vgl. zum bedingten Unrechtsbewußtsein Neumann, JuS 1993, 793 ff., 795; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 5. Aufl. (2004), § 10 Rn. 84; Vogel, in: LK StGB, 12. Aufl. (2007), § 17 Rn. 34; vgl. ferner Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. (2006), § 21 Rn. 34: "Analogie zu § 17"; anders Safferling, Vorsatz und Schuld (2008), S. 221, der das bedingte Unrechtsbewusstsein dem unbedingten zwar gleichstellen will, aber immerhin einräumt, dass "ein strenges Durchhalten des Prinzips (namentlich dann) zu unbilligen Ergebnissen" führe, wenn der Täter weiß, dass die Rechtmäßigkeit der Handlung die Strafbarkeit der Unterlassung zur Folge hätte und umgekehrt.
[80] Vgl. dazu Rudolphi, in: Bönner und de Boor (Hrsg), Unrechtsbewußtsein Aus der Sicht des Täters-Aus der Sicht des Richters (1982), S. 1 ff., 15.
[81] Velten, Normkenntnis und Normverständnis (2000); S. 58 ff.: "skriptengeleitetes Verhalten". Hat der Irrende das von ihm geplante Verhalten als harmlos gelernt oder hat er sich vor dessen Vollzug in rechtlich hinreichender Weise von dessen Harmlosigkeit überzeugt, verhilft ihm auch das Vorhandensein optimaler Normbefolgungsbereitschaft zum Tatzeitpunkt nicht zur Einsicht in das Unrechtmäßige seines Vorhabens.
[82] Ist die Tatsituation nicht stereotyp normal, hat der Irrende Anlass zur rechtlichen Beurteilung des geplanten Verhaltens. Unterlässt er die rechtliche Beurteilung aus Interesse am Vollzug der Handlung und nicht etwa aus Aufregung oder Verwirrung angesichts des Ungewöhnlichen der Situation, ist sein Irrtum vermeidbar.
[83] Gegenstand der Erkundigung ist in erster Linie die Rechtsprechung, weil deren "Funktion" gerade darin besteht, "die Unsicherheit zu überwinden, die von einem Nebeneinander gleichberechtigter Rechtsauslegungen ausgeht", Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 326; Fördert die Erkundigung eine kontroverse Rechtsprechung zu Tage, und schließt der Täter sich der ihm günstigsten Auslegung an, erklärt das "von der Strafjustiz zu verantwortende Normenchaos" (Neumann, in: NK StGB, 4. Aufl.[2013], § 17 Rn.72) den Konflikt, weil die Gerichte vor ihrer Aufgabe versagt haben, für eine verbindliche Rechtsauslegung zu sorgen.
[84] Pawlik , Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 302 f.; Lesch, JA 1996, 607 ff., 608; vgl. auch Neumann, in: NK StGB, 4. Aufl. (2013), § 17 Rn. 56, 58.
[85] BGHSt 2, 194 ff., 201 f.; vgl. auch Puppe, Strafrecht AT, 2. Aufl. (2011), § 19 Rn. 2; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. (2003); § 21 Rn. 60; Gaede, HRRS 2013, 449 ff., 458.
[86] Anders aber Kunz, GA 1983, 457 ff., 461, der meint, dass selbst eine von fachlich kompetenter Stelle eigeholte Auskunft nicht geeignet sei, einen vorhandenen Unrechtszweifel zu zerstreuen, weil "die Expertise nur (besage), dass das Handlungsvorhaben der Rechtsansicht des Ratgebers zufolge unbedenklich" sei, aber nicht, ob es "tatsächlich mit der positiven Rechtsordnung in Einklang steht". Kunz übersieht, dass es zur Zurechnung zur Schuld funktionale Äquivalente gibt, und der Konflikt dann nicht auf den Täter als allein maßgebliche Ursache zurückgeführt werden muss, wenn das Versagen einer kompetenten Auskunftsperson das Geschehen erklärt.
[87] Vgl. auch Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. (2006), § 21 Rn. 65.
[88] In anonymen Gesellschaften ist die Gemeinsamkeit der Beteiligten nicht umfassend, sondern auf den durch die Rollen, in denen sie agieren normativ bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit begrenzt, während alles Weitere, insbesondere ihr Sonderwissen, den Inhalt des Sozialkontakts nicht mit bestimmt. Gibt aber das Rollengemäße das Maß für die erwartete Leistung vor, sind Auskünfte nur verlässlich, die in Rollen erteilt werden, denen Kompetenz in Rechtsangelegenheiten zugeschrieben wird (vgl dazu Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder StGB, 29. Aufl.[2014], § 17 Rn. 18; Neumann, in: NK StGB, 4. Aufl. [2013], § 17 Rn. 74: Orientierung an der "Formalqualifikation" der Auskunftsperson[auch eines "Hausjuristen"]sei ausreichend); streitig; wie hier Velten, Normkenntnis und Normverständnis (2000), S.390.
[89] Daran fehlt es z.B. bei Gefälligkeitsgutachten und unsubstantiierten, telefonischen Ratschlägen; eingehend dazu Gaede, HRRS 2013, 449 ff., 462 f.
[90] Anders BGHSt 37, 55 ff.; BayObLG JR 1989, 386 f., 387; Velten, Normkenntnis und Normverständnis (2000); S 91, die meint, dass der Täter straffrei sei, wenn er sich zwar nicht erkundigt habe, im Fall der Erkundigung aber eine falsche Auskunft erhalten hätte, weil er "nicht mehr wollen (müsse), als Unterlassung für den Fall, dass die … Aufklärung keine Handlungsbefugnis ergibt"; vgl. auch Puppe, Strafrecht AT, 2. Aufl. (2011), § 19 Rn. 26, die darauf hinweist, dass "Fehler … von dritten Personen … bei der Feststellung von Vermeidbarkeit ebenso außer Betracht zu bleiben (haben) wie bei der Feststellung von Verursachung".
[91] Walter , Der Kern des Strafrechts (2006), S. 410, wendet noch ein, dass "§ 17 Fahrlässigkeit als Vorsatz bestraft. Nur wer weiß, dass er rechtswidrig handelt, verdient den Vorwurf, er lehnt sich vorsätzlich gegen das Rechts auf". Walter verkennt, dass es schon deshalb keine feste Relation zwischen psychischen Fakten und dem Maß der Schuld geben kann, weil es zu psychischen Fakten Surrogate gibt, eben Gleichgültigkeit oder Rechtsblindheit.