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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2016
17. Jahrgang
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1. Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet im Wege der Identitätskontrolle den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall. (BVerfGE)
2. Die strengen Voraussetzungen für eine Aktivierung der Identitätskontrolle schlagen sich in erhöhten Zulässigkeitsanforderungen an entsprechende Verfassungsbeschwerden nieder. (BVerfGE)
3. Der Schuldgrundsatz gehört zur Verfassungsidentität. Er muss daher auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verurteilten ergangenen Strafurteils gewahrt werden. (BVerfGE)
4. Die deutsche Hoheitsgewalt darf die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen. Umfang und Ausmaß der Ermittlungen, zu deren Vornahme das Gericht im Hinblick auf die Einhaltung des Schuldprinzips verpflichtet ist, richten sich nach Art und Gewicht der vom Verurteilten vorgetragenen Anhaltspunkte für eine Unterschreitung des durch Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen Mindeststandards. (BVerfGE)
5. Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, billigt das Grundgesetz einen Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht, der grundsätzlich auch mit Blick auf das nationale Verfassungsrecht gilt und bei Kollisionen in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit führt. Daher sind sowohl Hoheitsakte der Europäischen Union als auch durch das Unionsrecht determinierte Akte der deutschen öffentlichen Gewalt grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen. (Bearbeiter)
6. Der Anwendungsvorrang findet seine Grenzen jedoch in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für änderungs- und integrationsfest erklärten Grundsätzen der Verfassung. Der Integrationsgesetzgeber kann der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen, mit deren Inanspruchnahme die von Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität berühren würde. (Bearbeiter)
7. Im Rahmen einer Identitätskontrolle ist zu prüfen, ob eine Maßnahme der Europäischen Union die im Grundgesetz für unantastbar erklärten Grundsätze berührt. Diese Prüfung kann – wie der Solange-Vorbehalt oder die Ultra-vires-Kontrolle – im Ergebnis dazu führen, dass Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar zu erklären ist. Im Sinne einer europarechtsfreundlichen Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG bleibt die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität allerdings dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. (Bearbeiter)
8. So verstanden verletzt die Identitätskontrolle nicht den unionsrechtlichen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit; sie ist vielmehr der Sache nach im EU-Vertrag angelegt und entspricht auch den besonderen Gegebenheiten der Europäischen Union als Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund. Vorkehrungen zum Schutz der Verfassungsidentität und der Grenzen der Übertragung von Souveränitätsrechten auf die Europäische Union finden sich im Übrigen auch im Verfassungsrecht zahlreicher anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union. (Bearbeiter)
9. Eine Verletzung des unabdingbaren Maßes an Grundrechtsschutz kann vor dem Bundesverfassungsgericht nur gerügt werden, wenn substantiiert dargelegt wird, dass die Garantie der Menschenwürde im konkreten Fall tatsächlich beeinträchtigt wird. (Bearbeiter)
10. Zu den Schutzgütern der Verfassungsidentität gehören insbesondere die Grundsätze des Art. 1 GG einschließlich des in der Menschenwürdegarantie und im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Schuldprinzips im Strafrecht. Der Schuldgrundsatz erfordert Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten im Strafprozess, die gewährleisteten, dass der Beschuldigte entlastende oder für die Strafzumessung relevante Umstände im Einzelfall vorbringen und prüfen lassen kann. (Bearbeiter)
11. Die Gewährleistung dieser Mindestgarantien ist auch bei der konkreten Anwendung des Rechts der Europäischen Union oder unionsrechtlich determinierter Vorschriften durch die deutsche öffentliche Gewalt sicherzustellen. Sie müssen daher auch gewahrt werden, soweit ein Verfolgter in Vollziehung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung eines in seiner Abwesenheit ergangenen Strafurteils ausgeliefert werden soll. (Bearbeiter)
12. Die Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils ist unzulässig, wenn der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens unterrichtet noch ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet war, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und effektiv zu verteidigen. (Bearbeiter)
13. Dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl kommt in der deutschen Rechtsordnung grundsätzlich Anwendungsvorrang zu. Der Rahmenbeschluss enthält nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in Bezug auf die Auslieferung bei Abwesenheitsurteilen eine abschließende Regelung; danach wird die Pflicht, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, bereits unionsrechtlich begrenzt. (Bearbeiter)
14. Die Regelungen des Rahmenbeschlusses tragen den vom Grundgesetz geforderten Mindestgarantien hinsichtlich der Auslieferung zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen Rechnung, so dass es einer Begrenzung des dem Rahmenbeschluss zukommenden Anwendungsvorrangs nicht bedarf. Insbesondere schreibt Art. 4a Abs. 1 Buchst. d (i) RbEuHb ein Verfahren vor, bei dem der Sachverhalt einschließlich neuer Beweismittel in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht erneut geprüft wird und bei dem das Gericht befugt ist, die ursprüngliche Entscheidung aufzuheben. Dies entspricht auch den Anforderungen der Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention. (Bearbeiter)
15. Die deutschen Gerichte trifft im Einzelfall gleichwohl eine „Gewährleistungsverantwortung“ mit Blick auf den
ersuchenden Staat. Unbeschadet des einem Mitgliedstaat der Europäischen Union in besonderem Maße entgegenzubringenden Vertrauens haben die Gerichte auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls sicherzustellen, dass die verfassungs- und europarechtlich geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten im ersuchenden Mitgliedstaat tatsächlich beachtet werden. Soweit dies nicht möglich ist, haben sie von einer Auslieferung abzusehen. In diesem Umfang trifft die Gerichte auch eine verfassungsrechtlich begründete Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung. (Bearbeiter)
16. Die Entscheidung über eine Auslieferung – hier: eines US-amerikanischen Staatsangehörigen nach Italien wegen einer in seiner Abwesenheit erfolgten Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und der Einfuhr von Kokain – verletzt das Schuldprinzip, wenn es das Oberlandesgericht in Verkennung des Umfangs seiner Sachverhaltsaufklärungspflicht genügen lässt, dass eine erneute Beweisaufnahme in Italien jedenfalls nicht ausgeschlossen ist, nachdem der Betroffene substantiiert dargelegt hat, dass ihm das italienische Prozessrecht nicht sicher die Möglichkeit eröffnet, eine erneute Beweisaufnahme im italienischen Berufungsverfahren zu erwirken. (Bearbeiter)
17. Ziel und Aufgabe des Strafverfahrens ist es, die dem Täter und der Tat angemessene Strafe auszusprechen. Im deutschen Rechtskreis ist mit Strafe weit mehr als ein belastender Rechtseingriff oder ein Übel, das den Täter trifft, gemeint. Als Charakteristikum der Kriminalstrafe wird hier neben einem solchen Eingriff oder Übel mit dem Strafausspruch auch ein Tadel oder Vorwurf zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich um einen sozial-ethischen Vorwurf oder um eine besondere sittliche Missbilligung. Mit Strafe im Sinne des Grundgesetzes ist also nicht nur der Vorwurf irgendeiner Rechtsverletzung gemeint, sondern die Verletzung eines Teils des Rechts, das eine tiefere, nämlich eine sozial-ethische Fundierung besitzt. (Bearbeiter)
1. Eine Therapieunterbringung infolge einer schweren psychischen Störung gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK ist auch dann mit der EMRK vereinbar, wenn sie in der Sache zur Fortdauer einer Sicherungsverwahrung führt, die den anderen enumerativen Gründen für Freiheitsentziehungen widerstreitet.
2. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK ist eng auszulegen. Eine psychische Erkrankung muss so ernst sein, dass sie eine Behandlung in einem Krankenhaus, einer Klinik oder in einer entsprechenden Institution erzwingt. Der in Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK gewählte Begriff „persons of unsound mind“ ist insofern tendenziell enger als der Begriff „psychische Störung” in § 1 Abs. 1 ThUG.
3. Die Fortführung der Sicherungsverwahrung ist zwar grundsätzlich weiter als Strafe im Sinne des Art. 7 EMRK zu beurteilen. Eine Therapieunterbringung, die nach Maßgabe des Abstandsgebotes vollzogen wird und sich damit von einer Strafhaft tatsächlich signifikant unterscheidet, verstößt aber auch dann nicht gegen Art. 7 EMRK, wenn sie die Überschreitung einer früheren Höchstfrist der strafgleich vollzogenen Sicherungsverwahrung ermöglicht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Untergebrachte in einer Einrichtung lebt, die vom Strafvollzug getrennt ist und den Fokus klar auf die Therapie legt.
1. Das Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes sieht mit Blick auf das Recht auf ein faires Verfahren Schutzmechanismen in Form von Transparenz- und Dokumentationsvorschriften vor. Deren wesentliches Ziel ist es, über eine wirksame „vollumfängliche“ Kontrolle durch das Rechtsmittelgericht sicherzustellen, dass Verständigungen in erster Instanz so ablaufen, wie das Gesetz es vorschreibt.
2. Die Vorschrift des § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO, die eine Protokollierung auch insoweit anordnet, als eine Verständigung nicht stattgefunden hat (sog. „Negativattest“), darf nicht als bloße Ordnungsvorschrift verstanden werden; sie gehört vielmehr zum Kern des Regelungskonzepts des Verständigungsgesetzes.
3. Soweit es an dem vorgeschriebenen Negativattest fehlt, ist ein Beruhen des Urteils auf dem Gesetzesverstoß grundsätzlich nicht auszuschließen. Anderes gilt nur, wenn zweifelsfrei feststeht, dass das Urteil weder auf eine gesetzeswidrige informelle Absprache noch diesbezügliche Gesprächsbemühungen zurückgeht. Dies ist der Fall, wenn sich das Revisionsgericht nach Aufklärung der Verfahrenstatsachen umfassend mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob eine gesetzeswidrige Absprache angestrebt oder getroffen wurde, und dies verfassungsrechtlich vertretbar eindeutig ausgeschlossen hat (Folgeentscheidung zu BGH, Beschluss vom 14. April 2015 – 5 StR 9/15 – [= HRRS 2015 Nr. 583]).
4. Ungeachtet der vom Fehlen des Negativattests ausgehenden Indizwirkung für einen Gesetzesverstoß spricht
von Verfassungs wegen allerdings nichts gegen die Annahme einer Unzulässigkeit sogenannter „Protokollrügen“, mit denen lediglich die Fehlerhaftigkeit der Sitzungsniederschrift gerügt wird, auf der das Urteil nicht beruhen kann. Ob eine Verfahrensbeanstandung als zulässig erhobene Rüge einer gesetzeswidrigen informellen Absprache oder als bloße Protokollrüge anzusehen ist, ist als Frage der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts den Revisionsgerichten übertragen.
1. Die vorläufige Außerkraftsetzung eines Gesetzes im Wege einer einstweiligen Anordnung ist wegen des damit verbundenen erheblichen Eingriffs in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nur aus besonders gewichtigen Gründen zulässig. Sie muss zur Abwehr schwerer Nachteile auch unter Berücksichtigung der erforderlichen Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts dringend geboten sein. Die vorausgesetzte Dringlichkeit ist als Unaufschiebbarkeit einer zumindest vorläufigen Regelung zu verstehen.
2. Die Mitglieder eines Vereins, der geschäftsmäßig einen begleiteten Suizid anbietet, sind durch die mit dem Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung eingeführte Strafvorschrift des § 217 Abs. 1 StGB zwar gehindert, die von ihnen grundsätzlich gewünschte konkrete Art einer begleiteten Selbsttötung mit Unterstützung des Vereins in Anspruch zu nehmen. Jedoch verhindert die Strafnorm die gewünschte Selbstbestimmung der Betroffenen über ihr eigenes Sterben nicht vollständig und schließt selbst die Inanspruchnahme professioneller ärztlicher Unterstützung nicht gänzlich aus.
3. Eine Strafverfolgung wegen Beihilfe zu einer Tat nach § 217 Abs. 1 StGB haben die Suizidwilligen nicht zu befürchten. Dies folgt aus den Grundsätzen der notwendigen Teilnahme, auf die auch die Gesetzesbegründung ausdrücklich Bezug nimmt.
4. Bei der im Rahmen des § 32 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung ist nicht nur auf die Interessen derjenigen abzustellen, die sich aufgrund eines frei gebildeten Willens zu einer durch geschäftsmäßig tätige Helfer begleiteten Selbsttötung entschlossen haben. Zu berücksichtigen ist vielmehr auch die vom Gesetzgeber gesehene und nicht völlig fernliegende Gefahr, dass das geschäftsmäßige Angebot eines begleiteten Suizids Schwerkranke zur Selbsttötung verleiten könnte, die zu einer selbstbestimmten Entscheidung nur noch bedingt in der Lage sind.
5. Solange der zuständige Senat des Bundesverfassungsgerichts nicht über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde entschieden hat, ist für alle zu treffenden Entscheidungen die Kammer zuständig. Dies gilt auch für Entscheidungen über den Erlass einer einstweiligen Anordnung, soweit nicht die Anwendung eines Gesetzes ganz oder teilweise ausgesetzt wird.
1. Die Anordnung der Entnahme und der molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren setzt eine Prognose bezüglich zu erwartender Taten des Verurteilten voraus, die einzelfallbezogen zu begründen ist.
2. Basiert die beabsichtigte DNA-Untersuchung auf einer Verurteilung wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung, so ist ein Verfassungsverstoß nicht ausgeschlossen, wenn die gerichtlichen Entscheidungen sich lediglich auf eine aus der Anlasstat hergeleitete Gewaltbereitschaft stützen und keine Ausführungen dazu enthalten, dass der Verurteilte nicht vorbestraft ist und die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.
3. Bei der Folgenabwägung im Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG über eine Anordnung nach § 81g StPO wiegt das das Interesse an einer sofortigen Vollziehung der Untersuchung regelmäßig weniger schwer als der drohende Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, der auch durch eine spätere Löschung der erhobenen Daten nicht vollständig rückgängig gemacht werden kann.