HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2015
16. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

544. BGH 2 StR 96/14 - Beschluss vom 18. März 2015 (BGH)

Anfragebeschluss zur Ausdehnung der deutschen Strafgewalt auf Auslandstaten ausländischer Täter ohne hinreichenden Inlandsbezug nach dem Weltrechtsprinzip (unbefugter Vertrieb von Betäubungsmitteln; Drogenhandel; Auslieferung des im Ausland festgenommenen Beschuldigten und seine daran anschließende Festnahme im Inland; völkerrechtlicher Nichteinmischungsgrundsatz).

§ 6 Nr. 5 StGB; § 29 BtMG; § 30 BtMG; § 30a BtMG; § 27 StGB; § 153c Abs. 1 StPO; Einheits-Übereinkommen vom 30. März 1961 über Suchtstoffe; Wiener Übereinkommen vom 20. Dezember 1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen

1. Der Senat beabsichtigt zu entscheiden: Die Ausdehnung der deutschen Strafgewalt auf Auslandstaten ausländischer Täter im Rahmen des § 6 Nr. 5 StGB bedarf zu ihrer Rechtfertigung eines hinreichenden Inlandsbezugs; die Auslieferung des im Ausland festgenommenen Beschuldigten und seine daran anschließende Festnahme im Inland vermögen einen solchen nicht zu begründen.

2. § 6 Nr. 5 StGB ist Ausdruck des Weltrechtsprinzips. Die Norm ist als solche nicht völkerrechtswidrig.

3. Bei völkerrechtlichen Kernverbrechen ist die Notwendigkeit eines Inlandsbezugs zu verneinen. Für völkerrechtliche Kernverbrechen ist charakteristisch, dass das völkerrechtliche Vertrags- oder Gewohnheitsrecht eine weltrechtliche Verfolgung explizit und unbedingt vorschreibt.


Entscheidung

580. BGH 5 StR 20/15 - Urteil vom 14. April 2015 (LG Bremen)

Pflicht zur Mitteilung eines mit dem Ziel der Verständigung geführten Gesprächs in der Hauptverhandlung (mitteilungspflichtiges Gespräch; Abgrenzung zur „unverbindlichen Fühlungsaufnahme“; nicht mitgeteiltes Vorgespräch; Beruhensprüfung: wertende Gesamtbetrachtung, ausnahmsweiser Ausschluss des Beruhens auf fehlender Mitteilung des Vorgesprächs bei in der Hauptverhandlung geführtem Verständigungsgespräch; Protokollierung); „Gesamtverständigung“ bei mehreren Angeklagten (keine Rechtsverletzung durch mangelnde Bereitschaft zur Mitwirkung an Einzelverständigung); Verfahrensrüge (fehlende Mitteilung von Vernehmungsniederschriften); Beweiswürdigung.

§ 243 Abs. 4 Satz 1 StPO; § 257c StPO; § 337 Abs. 1 StPO; § 273 Abs. 1a StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 261 StPO

1. Erfolgt ein Gespräch in Unterbrechung der Hauptverhandlung auf die ausdrückliche Frage des Gerichts nach etwaigem Verständigungsinteresse hin und werden in dessen Verlauf Themen aufgeworfen, die einer Verständigung zugänglich sind (hier: Haft, Strafaussetzung zur Bewährung, Schadensersatzzahlungen), ist regelmäßig der Bereich einer „unverbindlichen Fühlungsaufnahme“ überschritten. Das Unterbleiben der Mitteilung eines solchen Gesprächs verletzt die Vorschrift des § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO.

2. Ein Ausschluss des Beruhens des Urteils (§ 337 Abs. 1 StPO) auf einer Verletzung der Mitteilungs- und Dokumentationspflichten, die einem Unterlaufen des vom Transparenzgebot in Verbindung mit dem Gebot des fairen Verfahrens geprägten Schutzkonzepts der Verständigungsvorschriften entgegenwirken sollen (vgl. BVerfG HRRS 2013 Nr. 222), kommt lediglich in Ausnahmefällen in Betracht.

3. Ein Ausnahmefall, in dem das Beruhen des Urteils auf der Verletzung der Mitteilungspflichten ausgeschlossen sein kann, kann anzunehmen sein, wenn sowohl die Initiative für das Verständigungsgespräch als auch eine Bekanntgabe und Erörterung des Verständigungsvorschlags selbst in öffentlicher Hauptverhandlung erfolgen. Unter diesen Umständen kann die Nichtmitteilung von Ablauf und Inhalt des Vorgesprächs sich als „mildere“ Rechtsverletzung darstellen, insbesondere, sofern der Inhalt des Vorgesprächs angesichts der anschließenden öffentlichen Erörterung des Verständigungsvorschlags nicht von wesentlicher Bedeutung ist.

4. Wird entgegen § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO eine Erörterung nicht mitgeteilt, so bedeutet das Schweigen des Protokolls keinen zusätzlichen Rechtsfehler da es insoweit den Gang der Hauptverhandlung zutreffend wiedergibt (siehe bereits BGH HRRS 2015 Nr. 229).

5. Weder dem gesetzlichen Schutzkonzept zur Verständigung noch übergeordneten Grundsätzen lässt sich ein an Gericht oder Staatsanwaltschaft gerichtetes Verbot entnehmen, in einem gegen mehrere Angeklagte gerichteten Strafverfahren nur an einer „Gesamtverständigung“ mitzuwirken. Ein subjektives Recht eines Angeklagten auf Verständigung existiert nicht.


Entscheidung

583. BGH 5 StR 9/15 - Beschluss vom 14. April 2015 (LG Berlin)

Mitteilungspflichten bei Erörterungen des Verfahrensstandes (Abgrenzung von verständigungsbezogenem Gespräch und sonstigen zur Verfahrensförderung geeigneten unverbindlichen Erörterungen); Beruhensprüfung bei fehlender Negativmitteilung.

§ 257b StPO; § 257c StPO; § 243 Abs. 4 StPO; § 202a StPO; § 337 StPO

1. Ein verständigungsbezogenes (Vor-)Gespräch ist von sonstigen zur Verfahrensförderung geeigneten Erörterungen zwischen den Verfahrensbeteiligten abzugrenzen. Gegenstände von unverbindlichen (nicht i.S.d. § 243 Abs. 4 StPO mitteilungspflichtigen) Erörterungen können etwa Rechtsgespräche und Hinweise auf die vorläufige Beurteilung der Beweislage oder die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses sein. Auch die Mitteilung einer Ober- und Untergrenze der nach dem Verfahrensstand vorläufig zu erwartenden Strafe durch das Gericht gehört zur offenen Verfahrensführung.

2. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Rechtsgespräch als verständigungsbezogenes Vorgespräch zu bewerten ist, kann eine den Verfahrensbeteiligten bekannte kategorisch ablehnende Haltung der Kammer gegenüber jeglicher Form der Verständigung zu berücksichtigen sein. In einem solchen Fall ist die Annahme eines für die Verständigung charakteristischen Gegenseitigkeitsverhältnisses von Zusage eines Strafrahmens einerseits und Abgabe eines Geständnisses andererseits selbst dann nicht ohne Weiteres naheliegend, wenn in dem Gespräch sowohl Fragen des Strafmaßes als auch etwaiges Prozessverhalten der Angeklagten thematisiert werden.

3. Zwar erfordert § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO eine sogenannte Negativmitteilung, wenn keine auf eine Verständigung abzielenden Gespräche stattgefunden haben. Ein zur Aufhebung des Urteils nötigender Verfahrensfehler liegt trotz des Fehlens einer solchen Mitteilung aber nicht vor, wenn auszuschließen ist, dass das Urteil auf der fehlenden Mitteilung beruht. Dies kann der Fall sein, wenn zweifelsfrei feststeht, dass es keinerlei Gespräche gegeben hat, in denen die Möglichkeit einer Verständi-

gung im Raum stand (siehe bereits BVerfG HRRS 2014 Nr. 823).


Entscheidung

600. BGH 5 StR 169/14 (alt: 5 StR 239/13) - Beschluss vom 30. April 2015 (LG Braunschweig)

Verständigungsbezogene Mitteilungs- und Informationspflichten (fehlende Mitteilung des Inhalts eines mit dem Ziel einer Verständigung stattgefundenen „Hinterzimmergesprächs“; Beruhen).

§ 243 Abs. 4 StPO; § 337 StPO

Eine Beruhensprüfung ist bei Verstößen gegen § 243 Abs. 4 StPO unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG (HRRS 2015 Nr. 176) nur in dem eng begrenzten Ausnahmefall eröffnet, dass im Revisionsverfahren Klarheit geschaffen ist, welchen Inhalt die nicht mitgeteilten Gespräche hatten und diese zweifelsfrei nicht auf die Herbeiführung einer gesetzeswidrigen Absprache gerichtet waren.


Entscheidung

523. BGH 1 StR 555/14 - Beschluss vom 21. April 2015 (LG München II)

Absetzungfrist des Urteils (keine Anwendung auf Urteilskopien); Anhörungsrüge.

§ 275 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 356a StPO

Die Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO findet auf den durch die Revision selbst vorgetragenen Verfahrensablauf eines erneuten Ausdrucks einer nach dem Erstausdruck inhaltlich unveränderten Datei des rechtzeitig zu den Akten gelangten Urteils von vornherein keine Anwendung.


Entscheidung

589. BGH 5 StR 82/15 - Beschluss vom 25. März 2015 (LG Leipzig)

Zeitpunkt der Belehrung über die eingeschränkte Bindungswirkung einer Verständigung.

§ 257c Abs. 4, Abs. 5 StPO

Das Gericht muss den Angeklagten bereits bei Unterbreitung eines Verständigungsvorschlags über die in § 257c Abs. 4 StPO geregelte Möglichkeit eines Entfallens der Bindung des Gerichts an die Verständigung belehren. Eine Belehrung nach angenommener Verständigung reicht nicht aus.


Entscheidung

522. BGH 1 StR 112/15 - Beschluss vom 15. April 2015 (LG München I)

Rücknahme der Revision durch den Verteidiger (Ermächtigung des Angeklagten: Form); Verwerfung der Revision als unzulässig durch den Tatrichter (Voraussetzungen).

§ 302 Abs. 2 StPO; § 346 Abs. 1 StPO

1. Für die gemäß § 302 Abs. 2 StPO erforderliche ausdrückliche Ermächtigung des Verteidigers zur Rücknahme der Revision ist keine bestimmte Form vorgeschrieben. Sie kann auch mündlich erteilt werden. Für ihren Nachweis genügt die anwaltliche Versicherung des Verteidigers.

2. Die Befugnis des Tatrichters, eine Revision als unzulässig zu verwerfen, ist auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen ein Beschwerdeführer die für die Einlegung und Begründung des Rechtsmittels vorgeschriebenen Formen oder Fristen nicht gewahrt hat (vgl. § 346 Abs. 1 StPO). Soweit die Revision dagegen aus einem anderen Grund als unzulässig zu verwerfen oder die Wirksamkeit der Rechtsmittelrücknahme festzustellen ist, steht die Befugnis hierzu allein dem Revisionsgericht zu. Das gilt auch dann, wenn ein solcher Grund mit Mängeln der Form- oder Fristeinhaltung zusammentrifft.


Entscheidung

585. BGH 5 StR 110/15 - Beschluss vom 13. April 2015 (LG Bremen)

Verlesung von „Tathergangsberichten“ aus einem gegen einen Dritten geführten Ermittlungsverfahren.

§ 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO

Eine gem. § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO zulässige Verlesung von Urkunden (hier: „Tathergangsberichte“ aus einem vormals gegen einen Zeugen geführten Verfahren) setzt nicht voraus, dass es sich um Urkunden aus dem gerade anhängigen Verfahren handelt.


Entscheidung

529. BGH 2 StR 462/14 - Beschluss vom 18. März 2015 (LG Aachen)

Ablehnung eines Beweisantrags als bedeutungslos (Voraussetzungen).

§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO

Aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos sind Tatsachen, wenn der Nachweis ihres Vorliegens im Ergebnis nichts erbringen kann, weil er die Beweiswürdigung nicht zu beeinflussen vermag. Zur Prüfung der Erheblichkeit ist die unter Beweis gestellte Tatsache wie eine erwiesene Tatsache in die konkrete Beweislage, also das bisherige Beweisergebnis einzufügen; es ist zu fragen, ob hierdurch die Beweislage in einer für den Urteilsspruch relevanten Weise beeinflusst würde. Dabei ist die Beweistatsache so, als sei sie bewiesen, in das bisherige gewonnene Beweisergebnis einzustellen und als Teil des Gesamtergebnisses in seiner indiziellen Bedeutung zu.


Entscheidung

542. BGH 1 ARs 3/15 - Beschluss vom 25. März 2015

Unzulässiger Antrag auf Wiederaufnahme durch das Revisionsgericht (mangelnde Zuständigkeit).

§ 140a Abs. 1 Satz 2 GVG; § 367 StPO

Richtet sich der Wiederaufnahmeantrag nicht an das nach Auffassung des Bundesgerichthofs zuständige Gericht, sondern allein und ausschließlich an den vom Verurteilten verfehlt für zuständig erachteten Bundesgerichtshof ist der Antrag als unzulässig zu verwerfen.