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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2013
14. Jahrgang
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1. Notwendiger und grundsätzlich auch hinreichender Eingriffsanlass für eine strafprozessuale Wohnungsdurchsuchung ist der Anfangsverdacht einer Straftat. Dieser muss eine Tatsachengrundlage haben, aus der sich die Möglichkeit der Tatbegehung durch den Beschuldigten ergibt. Vage Anhaltspunkte oder bloße Vermutungen genügen nicht. Andererseits muss sich aus den Umständen, die den Anfangsverdacht begründen, eine genaue Tatkonkretisierung nicht ergeben.
2. Das Bundesverfassungsgericht prüft Durchsuchungsanordnungen nur daraufhin nach, ob die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Voraussetzungen eines Verdachts und die strafrechtliche Bewertung der Verdachtsgründe objektiv willkürlich sind oder auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung der Grundrechte des Beschwerdeführers beruhen.
3. Dem mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundenen erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedu?rfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Demgemäß muss die Durchsuchung zur Ermittlung und Verfolgung der vorgeworfenen Tat erforderlich und mit Blick auf den verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein und in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen.
4. Die Annahme eines Anfangsverdachts bezüglich des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln ist verfassungsrechtlich (noch) nicht zu beanstanden, wenn die einschlägig vorbestrafte Beschuldigte unter den Kontakten im Mobiltelefon eines gesondert Verfolgten gespeichert ist, der laut einer Zeugenaussage mehrfach Fahrten an den Wohnort der Beschuldigten unternommen hat, welche dem Verkauf von Betäubungsmitteln dienten.
5. Liegen die Verkaufsfahrten zum Zeitpunkt der Durchsuchungsanordnung allerdings bereits über 18 Monate zurück, so ist die Anordnung mangels Erfolgsaussicht unverhältnismäßig, wenn der Beschluss nicht darlegt, weshalb ausnahmsweise eine Vermutung dafür bestand, dass gleichwohl noch Beweisgegenstände zum Nachweis des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln – die zum Konsum oder Weiterverkauf bestimmt sind und nach kriminalistischer Erfahrung regelmäßig nur eine geringe Verweildauer beim Ankäufer haben – aufgefunden werden können. Dabei können mögliche Wiederholungstaten in der Folgezeit, die nicht Gegenstand des Ermittlungsverfahrens sind, für die Beurteilung des Auffindeverdachts keine Rolle spielen.
1. Die Feststellung und Speicherung eines DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein, wonach der Einzelne befugt ist, grundsätzlich selbst zu entscheiden, inwieweit ihn betreffende persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.
2. Die Anordnung der molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen zur Verwendung in künftigen Strafverfahren nach § 81g StPO setzt die Prognose voraus, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftaten, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden.
3. Der Prognoseentscheidung muss eine zureichende Sachaufklärung vorausgegangen sein, und es müssen alle für sie bedeutsamen Umstände nachvollziehbar und einzelfallbezogen abgewogen werden.
4. Ein erhöhter Begründungsbedarf entsteht regelmäßig dann, wenn entgegen einer positiven Prognose im Rahmen einer Bewährungsentscheidung gleichwohl eine Maßnahme nach § 81g StPO angeordnet werden soll. Zwar entfaltet die positive Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung insoweit keine Bindungswirkung; erforderlich ist in solchen Fällen jedoch immer eine Auseinandersetzung mit sämtlichen Gründen der positiven Sozialprognose.
1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Versagung einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung entfällt angesichts des mit der Freiheitsentziehung verbundenen tiefgreifenden Grundrechtseingriffs nicht deshalb, weil der Betroffene zwischenzeitlich aus dem Strafvollzug entlassen worden ist.
2. Bei der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel ist das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen mit dem Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs bzw. am Schutz der Allgemeinheit vor zu erwartenden Rechtsgutverletzungen abzuwägen. Dabei gebietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die Freiheit der Person nur beschränkt wird, soweit dies im öffentlichen Interesse unerlässlich ist.
3. Angesichts ihrer unterschiedlichen Zielrichtung dürfen Strafen und freiheitsentziehende Maßregeln zwar grundsätzlich nebeneinander angeordnet werden. Dabei müssen sie einander jedoch so zugeordnet werden, dass die Zwecke beider Maßnahmen möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dass dabei in das Freiheitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unverhältnismäßiger Weise eingegriffen wird. Je länger der Freiheitsentzug insgesamt dauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für dessen Verhältnismäßigkeit.
4. Wenngleich bereits im Strafurteil über die Verhältnismäßigkeit der zu vollstreckenden Strafe grundsätzlich entschieden worden ist, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch im Rahmen der Prüfung einer Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen. Dabei kann die Dauer einer
vorangegangenen Freiheitsentziehung im Maßregelvollzug aus Anlass derselben Tat nicht außer Betracht bleiben, auch wenn sie gemäß § 67 Abs. 4 StGB in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise nur auf zwei Drittel der Strafe angerechnet wird.
5. Die Versagung der Aussetzung einer verbliebenen Reststrafe zur Bewährung bedarf einer besonders sorgfältigen Abwägung des Freiheitsgrundrechts des Betroffenen mit den Sicherungsinteressen der Allgemeinheit, wenn das Gericht in demselben Beschluss die Unterbringung des Betroffenen im psychiatrischen Krankenhaus unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit für erledigt erklärt. Im Rahmen der Abwägung ist es dabei auch zu berücksichtigen, wenn der Betroffene seit über neun Monaten beanstandungsfrei erhebliche Lockerungen in Anspruch genommen hat.
6. Übersteigt die Dauer des Freiheitsentzugs aufgrund der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bereits in erheblichem Maße die Dauer der insgesamt gegen den Betroffenen verhängten – und erst Recht der noch zu vollstreckenden – Freiheitsstrafen, so muss sich das Gericht in seiner Entscheidung über die Reststrafaussetzung mit der Frage auseinandersetzen, ob die Kumulation aus Maßregel- und Strafvollstreckung dazu führt, dass das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität überschritten wird.
1. Zur hinreichenden Substantiierung einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ist es unter anderem erforderlich, Dokumente so vorzulegen, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde ohne weitere Ermittlungen prüfen kann. Die unvollständige Vorlage einer angegriffenen Entscheidung kann jedoch ausnahmsweise dann unschädlich sein, wenn eine fehlende Seite erkennbar ausschließlich den Verfahrensverlauf betrifft und keine Sachprüfung beinhaltet.
2. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u. a. = HRRS 2011 Nr. 488) beeinträchtigt die zehn Jahre überschreitende Sicherungsverwahrung gemäß § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen, wenn dieser die Anlasstaten vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen hat. Die Fortdauer der Unterbringung über zehn Jahre ist in diesen Fällen nur verhältnismäßig, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und wenn und die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK („psychische Störung“) erfüllt sind.
3. Dass von dem Untergebrachten die Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten ausgeht, ist nicht ausreichend dargetan, wenn das Gericht lediglich von einer Gefahr weiterer Taten wie den Anlasstaten ausgeht, bei denen es sich um Straftaten nach § 176 Abs. 1 StGB handelte, die der Untergebrachte ohne Gewalteinwirkung oder körperliche Verletzungen der Opfer begangen hatte, und wenn und Anhaltspunkte dafür, dass mit Gewaltsteigerungen zu rechnen wäre, nicht bestehen.
4. Ist bereits die Schwelle einer Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten nicht erreicht, so kommt es nicht darauf an, ob im Rahmen der Verhältnismäßigkeitspru?fung bei der Bestimmung der Eintrittswahrscheinlichkeit und der Schwere künftiger Delikte in engen Grenzen ein Weniger des einen durch ein Mehr des anderen ausgeglichen werden kann.
5. Eine hochgradige Gefahr künftiger Straftaten ist nicht nachvollziehbar festgestellt, wenn eine Sachverständige diese in der mündlichen Anhörung bejaht, während sie in ihrem schriftlichen Gutachten die Rückfallwahrscheinlichkeit abhängig vom Beobachtungszeitraum lediglich auf „23 bis 39 %“ beziffert hatte und das Gericht sich mit dem Widerspruch nicht näher auseinandersetzt.
1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer einer Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) entfällt angesichts des tiefgreifenden Grundrechtseingriffs nicht deshalb, weil der Betroffene zwischenzeitlich aus der Unterbringung entlassen worden ist.
2. Zur hinreichenden Substantiierung einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ist es regelmäßig erforderlich, die angegriffene Entscheidung innerhalb der Frist nach § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde vollständig vorzulegen. Einem Beschwerdeführer ist jedoch Wiedereinset-
zung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er glaubhaft macht, dass ihm die auf einem Fax-Übertragungsfehler beruhende unvollständige Übermittlung von Anlagen erst nach Ablauf der Verfassungsbeschwerdefrist bekannt geworden ist und wenn er die Anlagen unverzüglich vollständig vorlegt.
3. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 (2 BvR 2302/11 u.a. = HRRS 2013 Nr. 693) ist § 1 Abs. 1 ThUG nur mit der Maßgabe mit dem Grundgesetz vereinbar, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist.
4. Eine Fortdauerentscheidung, die diesen Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht genügt, verletzt den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Dies gilt auch für Entscheidungen, die bereits vor dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 ergangen sind, weil es insoweit allein auf die objektive Grundrechtsverletzung ankommt und nicht darauf, ob diese dem Gericht vorwerfbar ist.