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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2011
12. Jahrgang
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Von Wiss. Mit. Sascha Lanzrath, cand. iur. Folke große Deters, Univ. Bonn *
Der BGH hat am 25.6.2010 ein Urteil gefällt, das den sehr praxisrelevanten, jedoch rechtlich unübersichtlichen Bereich der Sterbehilfe durch Behandlungseinstellung betrifft. [1] Es ging um eine Patientin, die nach einer Hirnblutung im Wachkoma lag und in einem Altenheim gepflegt und über eine PEG-Sonde künstlich ernährt wurde. Da sie in einem früheren Gespräch mit ihrer Tochter lebensverlängernde Maßnahmen in Form von künstlicher Ernährung und Beatmung im Zustand der dauerhaften Bewusstlosigkeit für sich ausgeschlossen hatte und eine Besserung des Gesundheitszustands nicht zu erwarten war, bemühte sich die Tochter mit Unterstützung des behandelnden Hausarztes um die Einstellung der künstlichen Ernährung. Nach langen Auseinandersetzungen mit der Heimleitung wurde vereinbart, dass sich das Pflegeheimpersonal ausschließlich auf Pflegetätigkeiten im engeren Sinn beschränken und die Tochter die Ernährung über die Sonde einstellen sollte. Nachdem die Nahrungszufuhr beendet worden war, wies die Geschäftsleitung des Gesamtunternehmens jedoch die Heimleitung an, die künstliche Ernährung umgehend wieder aufzunehmen. Da effektiver Rechtsschutz gegen die Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung kurz vor Weihnachten nicht zu erlangen war, durchtrennte die Tochter auf Anraten ihres Rechtsanwalts den Schlauch der Sonde unmittelbar über der Bauchdecke. Daraufhin wurde die Patientin in ein Krankenhaus gebracht und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen. Sie starb dort zwei Wochen später auf Grund ihrer Erkrankungen. Das LG Fulda hat den Rechtsanwalt wegen versuchten Totschlags in Mittäterschaft verurteilt, die Tochter wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums hingegen freigesprochen. [2]
Nach Ansicht des BGH ist das Handeln der Tochter und ihres Rechtsanwalts auf Grund einer wirksamen Einwilligung der Patientin gerechtfertigt. Dem stehe § 216 StGB nicht entgegen, da das Verhalten der Tochter auf den Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung gerichtet sei und dem bereits begonnenen Krankheitsprozess lediglich "seinen Lauf" lasse, ohne eine vom Krankheitsprozess abgekoppelte Todesursache zu setzen. [3]
Das Urteil des BGH ist im Ergebnis auf Zustimmung gestoßen, jedoch wird der Begründungsweg kritisiert. [4] So wird vertreten, dass die Handlung der Tochter als Reaktion auf die eigenmächtige Weiterernährung durch das Pflegeheimpersonal bereits unter dem Gesichtspunkt der Nothilfe (§ 32 Abs. 2 Alt. 2 StGB) gerechtfertigt war. [5] Dieser Ansicht muss jedoch widersprochen werden.
Bejaht werden kann allerdings die Nothilfelage. Die Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung stellt einen rechtswidrigen Angriff gegen die körperliche Integrität und das Selbstbestimmungsrecht der Patientin dar, da eine entsprechende (mutmaßliche) Einwilligung nicht vorlag. [6] Der Angriff war auch gegenwärtig, da das Anhängen eines neuen Beutels mit Flüssignahrung unmittelbar bevorstand.
Betrachtet man die Sachbeschädigung des Schlauchs (§ 303 StGB), so lag darin eine geeignete und erforderliche Verteidigungshandlung, um den Angriff abzuwehren. Zu bedenken ist aber, dass sich der Schlauch im Eigentum des Pflegeheimträgers befand, der jedoch nicht identisch mit dem Pflegepersonal (= Angreifer) ist. Selbst wenn man aber in diesem Zusammenhang eine Rechtfertigung gemäß § 32 StGB zulässt, [7] darf hieraus jedoch nicht auf die Rechtfertigung des versuchten Totschlags geschlossen werden. Denn ob eine Handlung rechtswidrig oder rechtmäßig ist, bestimmt sich nicht absolut, sondern immer nur im Verhältnis zu dem Rechtsgut, in das eingegriffen wird. [8]
Teilweise wird hinsichtlich des Rechtsguts "Leben" der Mutter schon der Rechtsgutseingriff verneint. [9] Hierfür spricht, dass durch das Durchschneiden des Schlauches lediglich der Zustand wiederhergestellt wurde, der vor dem rechtswidrigen Angriff (Wiederaufnahme der Behandlung) bestanden hatte. Ein Argument für die Nothilfe ist damit aber nicht verbunden. Läge in dem Durchschneiden des Schlauchs bereits kein Eingriff in die Rechtsgüter der Patientin, müsste schon der Tatbestand des Totschlags verneint werden, sodass sich die Frage einer Rechtfertigung gar nicht mehr stellen würde. [10]
Für eine Lösung des Falles über die Nothilfe muss daher die Prämisse zu Grunde gelegt werden, dass ein Eingriff in das Rechtsgut "Leben" der Mutter vorliegt und der versuchte Totschlag somit tatbestandlich erfüllt ist. Nach allgemeiner Ansicht in Rechtsprechung und Literatur ist ein Eingriff in die Rechtsgüter Dritter aber nicht mit der Notwehr zu rechtfertigen. [11] Denn nur das Vorverhalten des Angreifers rechtfertigt die weitreichenden Eingriffsbefugnisse des Verteidigers. [12]
Hier ist die Situation zwar insofern atypisch, als die Mutter keine "unbeteiligte Dritte", die mehr oder weniger zufällig von der Verteidigungshandlung in Mitleidenschaft gezogen wird, sondern die Angegriffene ist. Auch in dieser Konstellation gilt aber, dass Eingriffe in die Rechtsgüter der Angegriffenen nicht nach den gleichen Maßstäben beurteilt werden können wie Eingriffe in die Rechtsgüter des Angreifers, sodass sie nicht im Rahmen der Nothilfe gerechtfertigt werden können. [13]
Der vorliegende Fall unterscheidet sich somit strukturell von der klassischen Notwehr- bzw. Nothilfekonstellation. Dort stehen sich mit Angreifer und Verteidiger zwei verschiedene Rechtsgutsträger gegenüber. Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr/‑hilfe bestimmt für diesen Fall, dass der Schutz der Rechte des Angreifers zurücktreten muss, weil dieser zurechenbar ein Recht des Angegriffenen beeinträchtigt und die Verteidigungshandlung zur Wahrung dieses Rechtes erforderlich ist. Im vorliegenden Fall gibt es hingegen keine solche Interessenkollision. Denn es geht sowohl bei dem Angriff durch das Pflegepersonal (Wiederaufnahme der Behandlung) als auch bei der Verteidigung durch die Tochter (Behandlungsabbruch) um Einwirkungen auf ein und denselben Rechtsgutsträger, nämlich die Mutter. Es liegt demnach eine interne Güterkollision vor.
Bei einer solchen internen Güterkollision geht es der Sache nach unabhängig von der dogmatischen Lösung um zwei Fragen: Zunächst ist entscheidend, ob überhaupt ein (mutmaßlicher) Wille vorliegt, der auf einen Behandlungsabbruch zielt. Dies wurde im vorliegenden Fall sowohl vom LG Fulda als auch vom BGH bejaht. [14] Darüber hinaus ist zu ermitteln, ob der Wille im vorliegenden Fall beachtlich bzw. das Rechtsgut "Leben" disponibel ist. Für eine Beachtlichkeit des Willens spricht, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG) auch das Recht umfasst, selbst über das "Ob" und "Wie" ärztlicher Behandlungen zu bestimmen. Dagegen spricht jedoch die Wertung des § 216 StGB, die sich aus dem insoweit eindeutigen Wortlaut ergibt. Um die Strafbarkeit im konkreten Fall zu beurteilen, muss also der Sache nach eine Abwägung zwischen der gesetzgeberischen Entscheidung des § 216 StGB (Lebensschutz auch gegen den Willen des Rechtsgutsinhabers) und der Patientenautonomie stattfinden.
Sucht man für diese Abwägung nun nach einer dogmatisch passenden Lösung, so kommt der Notstand in Fra-
ge. [15] Er bewältigt Problemstellungen, die strukturell mit der vorliegenden verwandt sind. Denn auch hier bestimmt sich der Vorrang der einen vor der anderen Rechtsposition nach dem Gewicht des Eingriffs im konkreten Fall. [16]
Für eine Lösung über die Einwilligung spricht jedoch, dass hier das Problem offen gelegt wird, das allen dogmatischen Konstruktionen zu Grunde liegt, [17] nämlich der Konflikt mit § 216 StGB. Die Einwilligungssperre des § 216 StGB muss in diesem Fall teleologisch reduziert werden. [18]
Eine Anwendung der Nothilfe scheidet vor dem Hintergrund des eben Gesagten hingegen aus. Denn das Gewicht des betroffenen Rechtsguts spielt hier nur ausnahmsweise – nämlich im Rahmen der Gebotenheit bei krassem Missverhältnis – eine Rolle. [19] Im Grundsatz aber ist allein das Handlungsunrecht der Angriffshandlung ausreichend, um bei einer erforderlichen Abwehr den Vorrang des einen vor dem anderen Rechtsgut zu bejahen.
Die Lösung des Falles unter Anwendung der Regeln der Nothilfe ist also ein gedanklicher Umweg, der zur Beantwortung der relevanten Fragen nichts beitragen kann. Er bedeutet in letzter Konsequenz, aus der strafrechtlichen Würdigung der Handlung des Pflegepersonals auf die Straflosigkeit des Handelns der Tochter zu schließen. Denn die Nothilfe-Lösung läuft auf folgenden Gedankengang hinaus: Das Durchschneiden des Schlauchs ist eine rechtmäßige Verteidigungshandlung, weil eine Handlung, die sich gegen die rechtswidrige Weiterernährung richtet, nicht ihrerseits rechtswidrig sein kann. Die im Fall entscheidende Frage, ob das Rechtsgut "Leben" disponibel ist, kann aber nicht vom Vorverhalten eines Dritten abhängen, da ein wie auch immer gearteter Zurechnungszusammenhang zwischen diesem Verhalten und der Rechtsgutsträgerin nicht ersichtlich ist.
Einzig der (mutmaßliche) Wille und die Disponibilität des Rechtsguts "Leben" vor dem Hintergrund des § 216 StGB sind im vorliegenden Fall entscheidend. Daher ist die Lösung des BGH über die Einwilligung folgerichtig. Bei der Notwehr stehen sich zwei Verletzungshandlungen gegenüber, bei der die eine Handlung trotz Eingriffs in ein vorhandenes Rechtsgut rechtmäßig ist, weil sie zur Verteidigung des angegriffenen Rechtsguts erforderlich ist. Genau um diese Konstellation geht es – wie dargelegt – im vorliegenden Fall aber gerade nicht.
* Der Verf . Sascha Lanzrath ist wiss. Mitarbeiter am Kriminologischen Seminar der Universität Bonn, der Verf. Folke große Deters ist Student der Universität Bonn. Sie bedanken sich bei Prof. Dr. Torsten Verrel , der die Entstehung dieses Aufsatzes mit vielfältigen Anregungen und ständiger Diskussionsbereitschaft begleitet hat.
[1] BGH NStZ 2010, 630 ff. = HRRS 2010 Nr. 704; dazu näher Verrel NStZ 2010, 671 ff.
[2] LG Fulda Urt. v. 30.4.2009 - 16 Js 1/08 – 1 Ks = ZfL 2009, 97 ff.
[3] BGH HRRS 2010 Nr. 704, Rz. 33 f.
[4] Vgl. Gaede NJW 2010, 2925, 2927; Kubiciel ZJS 2010, 654, 660; Mandla NStZ 2010, 698 f.
[5] Duttge MedR 2011, 36, 38; ders./Schreiber Legal Tribune Online v. 2.6.2010; Mandla NStZ 2010, 698 f.
[6] BGH HRRS 2010 Nr. 704, Rz. 18 f.; Rechtswidrigkeit des Angriffs offen gelassen vom LG Fulda ZfL 2009, 97, 103 f.
[7] So auch BGH HRRS 2010 Nr. 704, Rz. 19; Bosch JA 2010, 908, 910; Mandla NStZ 2010, 698, 699; alternativ wäre eine Rechtfertigung gem. § 228 BGB denkbar.
[8] Vgl. Erb, in: MüKo-StGB (2003), § 32 Rn. 114.
[9] Beckmann ZfL 2009, 107, 108 f.; Duttge MedR 2011, 36, 38; ders./Schreiber Legal Tribune Online v. 2.6.2010; Kubiciel ZJS 2010, 656, 660; Mandla NStZ 2010, 698, 699.
[10] So ist die Hinnahme des Todes der Patientin nach Beckmann ZfL 2009, 107, 109 "kein dem Angeklagten zuzurechnender strafrechtlicher Erfolg"; ähnlich Kubiciel ZJS 2010, 656, 660; eine Lösung auf Tatbestandsebene erwägt auch Gaede NJW 2010, 2925, 2927.
[11] BGHSt 5, 245, 248; Erb (Fn. 8 ), § 32 Rn. 114; Fischer, StGB, 58. Aufl. (2011), § 32 Rn. 3, 24; Herzog, in: NK-StGB, 3. Aufl. (2010), § 32 Rn. 54; Perron, in: Schönke/Schröder, 28. Aufl. (2010), § 32 Rn. 31, m.w.N.; Rönnau/Hohn, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2006), § 32 Rn. 159; Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), S. 716 Rn. 124.
[12] Vgl. Gaede NJW 2010, 2925, 2927; Erb (Fn. 8 ), § 32 Rn. 114; Perron (Fn. 11 ), § 32 Rn. 31.
[13] Vgl. Bosch JA 2010, 908, 910; Hirsch JR 2011, 37, 39; Kutzer, in: Festschrift für Rissing/van-Saan (2011), S. 337, 352; so auch für den Fall der versehentlichen Verletzung des Angegriffenen durch den Nothelfer: Erb (Fn. 8 ), § 32 Rn. 115; Perron (Fn. 11 ), § 32 Rn. 31 m.w.N.; Roxin (Fn. 11 ), S. 716 Rn. 124 f.; a.A. Mandla NStZ 2010, 698, 699.
[14] BGH HRRS 2010 Nr. 704, Rz. 17; LG Fulda ZfL 2009, 97, 98; Zweifel hingegen bei Beckmann ZfL 2009, 107, 109 f.; ders. LebensForum 94 (2010), 15, 16 f.
[15] Vgl. Bosch JA 2010, 908, 910; Herzberg JZ 1988, 182, 187, zur analogen Anwendung siehe Rosenau, in: Festschrift für Rissing-van Saan (2011), S. 547, 560 ff.
[16] Details zur Notstands-Lösung bei Rosenau (Fn. 15), S. 560 ff.
[17] Vgl. Bosch JA 2010, 908, 909.
[18] So schon Rieger, Die mutmaßliche Einwilligung in den Behandlungsabbruch (1998), S. 58; Thias, Möglichkeiten und Grenzen eines selbstbestimmten Sterbens durch Einschränkung und Abbruch medizinischer Behandlung (2004), S. 225.
[19] Vgl. Fischer (Fn. 11 ), § 32 Rn. 31.