HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2010
11. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

502. BGH 1 StR 577/09 – Beschluss vom 20. Mai 2010 (LG München)

Gesetzlichkeitsprinzip (Analogieverbot; Verbot der teleologischen Reduktion eines Strafaufhebungsgrundes; Bestimmtheitsgebot); Anforderungen an die strafbefreiende Selbstanzeige bei der Steuerhinterziehung (Teilselbstanzeige; gestufte Selbstanzeige; Sperrgründe; persönlicher Strafaufhebungsgrund); Wahrnehmung des Evokationsrechts der Staatsanwaltschaft.

Art. 103 Abs. 2 GG; § 370 AO; § 371 AO; § 386 Abs. 4 Satz 2 AO

1. Die in der strafbefreienden Selbstanzeige liegende Privilegierung des Steuerstraftäters gegenüber anderen Straftätern bedarf einer doppelten Rechtfertigung: Zum einen sollen verborgene Steuerquellen erschlossen werden; zum anderen soll dem Steuerhinterzieher ein Anreiz gegeben werden, zur Steuerehrlichkeit zurückzukehren. Aus fiskalischen Gründen soll für den Steuerhinterzieher ein Anreiz geschaffen werden, von sich aus den Finanzbehörden bisher verheimlichte Steuerquellen durch wahrheitsgemäße Angaben zu erschließen (st. Rspr.; vgl. BGHSt 35, 36, 37; BGH wistra 2004, 309, 310 m.w.N.). Allein fiskalische Interessen an der Entrichtung hinterzogener Steuern können diese Privilegierung schwerlich rechtfertigen.

2. Eine Rückkehr zur Steuerehrlichkeit ist dann gegeben, wenn der Täter nunmehr vollständige und richtige Angaben – mithin „reinen Tisch“ – macht. Dies erfordert eine vollumfängliche Rückkehr zur Steuerehrlichkeit. Erst dann liegt eine strafbefreiende Selbstanzeige i.S.d. § 371 Abs. 1 AO vor.

3. Im Hinblick darauf, dass der fiskalische Zweck, noch unbekannte Steuerquellen zu erschließen, angesichts der heute bestehenden Ermittlungsmöglichkeiten und der verbesserten internationalen Zusammenarbeit zunehmend an Bedeutung verloren hat, erlangt der weitere Zweck, Rückkehr zur Steuerehrlichkeit, zusätzliches Gewicht.

4. Der Senat hält eine Teilselbstanzeige nicht für ausreichend, um die Strafbefreiung zu erlangen. Denn hier fehlt gerade die Rückkehr zur vollständigen Steuerehrlichkeit. Soweit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bislang eine solche Teilselbstanzeige als wirksam angesehen worden ist, weil das Wort „insoweit“ in

§ 371 Abs. 1 AO eine nur teilweise Nachholung fehlender zutreffender Angaben erlaube (vgl. BGHSt 35, 36; BGH wistra 1988, 356; 1999, 27), hält der Senat daran nicht fest.

5. Eine danach nicht ausreichende Teilselbstanzeige ist beispielsweise gegeben, wenn ein Steuerpflichtiger seine unvollständige Einkommensteuererklärung dahin „berichtigt“, dass er von bislang gänzlich verschwiegenen Zinseinkünften nunmehr nur diejenigen eines Kontos angibt, aber immer noch weitere Konten verschweigt, weil er insoweit keine Entdeckung durch die Finanzbehörden befürchtet (dolose Selbstanzeige). Nach Ansicht des Senats läge in einem solchen Fall keine wirksame Selbstanzeige vor.

6. Der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a 2. Alt. AO betrifft nicht nur solche Taten, die vom Ermittlungswillen („zur Ermittlung“) des erschienenen Amtsträgers erfasst sind. Er erstreckt sich auch auf solche Taten, die mit dem bisherigen Ermittlungsgegenstand in sachlichem Zusammenhang stehen (vgl. BGH wistra 1983, 146; 2000, 219, 225; 2004, 309). Allenfalls dann, wenn eine Erschließung weiterer sonstiger Steuerquellen durch bereits laufende Ermittlungen auszuschließen ist, kann dieser Sperrgrund noch zur Anwendung kommen. In diesem Fall ist – wie sonst auch – für die Strafbefreiung maßgeblich, dass die Aufdeckung bislang unerkannter Steuerquellen im Wesentlichen auf die Initiative des Steuerpflichtigen zurückgeht, die in der Rückkehr zur Steuerehrlichkeit zum Ausdruck kommt (vgl. BGHSt 3, 373, 375). Unvereinbar mit dem Normzweck wäre demgegenüber eine Auslegung, die honorierte, dass der Steuerpflichtige – ist der Amtsträger erst einmal erschienen – den „Wettlauf mit den Ermittlungsbehörden um die Rechtzeitigkeit“ gewonnen hat.

7. Nach § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO ist erforderlich, dass die „Tat“ ganz oder zum Teil bereits entdeckt war. Das Wort „entdecken“ ist – wie im allgemeinen Sprachgebrauch – dahin zu verstehen, dass Unbekanntes, Verborgenes aufgefunden wird. Die noch unbekannte, verborgene Tat i.S.d. § 370 AO muss ganz oder zum Teil entdeckt sein. Gesetzlicher Anknüpfungspunkt ist dabei nicht der Begriff des Anfangsverdachts (vgl. BGH wistra 2000, 219, 225), sondern der der „Tatentdeckung“. Bei diesem Begriff handelt es sich um ein Tatbestandsmerkmal, das mit den üblichen strafprozessualen Verdachtsgraden nicht gleichgesetzt werden kann; es hat einen eigenständigen Bedeutungsgehalt.

8. Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. BGH NStZ 1983, 415; wistra 2000, 219, 225) liegt Tatentdeckung vor, wenn bei vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses gegeben ist. Diese Definition enthält eine doppelte, zweistufige Prognose. Zunächst ist – auf der Grundlage der vorhandenen, regelmäßig noch unvollständigen Informationen – die Verdachtslage, und zwar vorläufig, zu bewerten. Aufbauend auf dieser bloß vorläufigen Bewertung muss der Sachverhalt, auf den sich der Verdacht bezieht, zudem rechtlich geeignet sein, eine Verurteilung wegen einer Steuerstraftat oder ordnungswidrigkeit zu rechtfertigen. Ist das Vorliegen eines Sachverhalts wahrscheinlich, der die Aburteilung als Steuerstraftat oder ordnungswidrigkeit rechtfertigen würde, ist die Tat entdeckt. Die Anforderungen an diese Wahrscheinlichkeitsprognose dürfen schon deshalb nicht zu hoch angesetzt werden, weil sie auf einer (noch) schmalen Tatsachenbasis erfolgen muss. Ein hinreichender Verdacht im Sinne des §§ 170 Abs. 1, 203 StPO ist entbehrlich. Der Täter der Steuerhinterziehung muss nicht ermittelt sein. Ebenso wenig ist erforderlich, dass die tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen bereits so weit bekannt sind, dass der Schuldumfang verlässlich beurteilt werden kann (vgl. BGH wistra 2000, 219, 226). Es genügt, dass konkrete Anhaltspunkte für die Tat als solche bekannt sind.

9. Die Kenntniserlangung von einer Steuerquelle stellt für sich allein noch keine Tatentdeckung dar. Welche Umstände hinzukommen müssen, damit die Tat (wenigstens zum Teil) entdeckt ist, lässt sich nur im Einzelfall und nicht schematisch beantworten. In der Regel ist eine Tatentdeckung bereits dann anzunehmen, wenn unter Berücksichtigung der zur Steuerquelle oder zum Auffinden der Steuerquelle bekannten weiteren Umstände nach allgemeiner kriminalistischer Erfahrung eine Steuerstraftat oder ordnungswidrigkeit nahe liegt. Stets ist die Tat entdeckt, wenn der Abgleich mit den Steuererklärungen des Steuerpflichtigen ergibt, dass die Steuerquelle nicht oder unvollständig angegeben wurde. Entdeckung ist aber auch schon vor einem Abgleich denkbar, etwa bei Aussagen von Zeugen, die dem Steuerpflichtigen nahe stehen und vor diesem Hintergrund zum Inhalt der Steuererklärungen Angaben machen können, oder bei verschleierten Steuerquellen, wenn die Art und Weise der Verschleierung nach kriminalistischer Erfahrung ein signifikantes Indiz für unvollständige oder unrichtige Angaben ist.

10. Nicht erforderlich für die Tatentdeckung in § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO ist, dass aufgrund der Tatsachen bereits ein Schluss auf vorsätzliches Handeln gezogen werden kann. Dem steht nicht entgegen, dass bei Entdeckung einer Tat im Sinne des § 370 Abs. 1 AO, die sich als nur leichtfertig begangen erweist (§ 378 Abs. 1 AO), eine bußgeldbefreiende Selbstanzeige (§ 378 Abs. 3 AO) nicht ausgeschlossen ist.

11. Angesichts der verbesserten Ermittlungsmöglichkeiten im Hinblick auf Steuerstraftaten und auch der stärkeren Kooperation bei der internationalen Zusammenarbeit können nach Auffassung des Senats jedenfalls heute keine hohen Anforderungen an die Annahme des „Kennenmüssens“ der Tatentdeckung mehr gestellt werden. Der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO wird daher heute maßgeblich durch die objektive Voraussetzung der Tatentdeckung im vorstehend verstandenen Sinne und weniger durch die subjektive Komponente bestimmt.

12. Der Senat ist der Ansicht, dass mit einer „gestuften Selbstanzeige“ die Sperrwirkung nicht umgangen werden kann. Soweit dem Steuerpflichtigen aufgrund unzureichender Buchhaltung oder wegen fehlender Belege eine genau bezifferte Selbstanzeige nicht möglich ist, ist er nach Auffassung des Senats gehalten, von Anfang an – also bereits auf der ersten Stufe der Selbstanzeige – alle erforderlichen Angaben über die steuerlich erheblichen Tatsachen, notfalls auf der Basis einer Schätzung anhand der ihm bekannten Informationen, zu berichtigen, zu

ergänzen oder nachzuholen. Diese Angaben müssen in jedem Fall so geartet sein, dass die Finanzbehörde auf ihrer Grundlage in der Lage ist, ohne langwierige Nachforschungen den Sachverhalt vollends aufzuklären und die Steuer richtig festzusetzen (BGHSt 3, 373, 376; BGH wistra 2004, 309 m.w.N.; BGH DB 1977, 1347 m.w.N.). Genügen die Angaben – bei Anwendung eines strengen Maßstabes – diesen Anforderungen nicht, liegt eine wirksame Selbstanzeige nicht vor. Vielmehr ist dann lediglich die Ankündigung einer Selbstanzeige gegeben.

13. Die Staatsanwaltschaft ist in den Fällen, bei denen eine Evokation (vgl. § 386 Abs. 4 Satz 2 AO) nicht fern liegt, frühzeitig in die Ermittlungen der Finanzbehörden einzubeziehen, damit sie ihr Recht und ihre Pflicht zur Prüfung einer Evokation auch in jedem Einzelfall und in jedem Stadium des Verfahrens sachgerecht ausüben kann (BGHSt 54, 9). Diese Pflicht zur Beteiligung der Staatsanwaltschaft gilt bei solchen Fallgestaltungen auch und gerade dann, wenn zu entscheiden ist, ob eine wirksame Selbstanzeige i.S.v. § 371 AO gegeben ist.


Entscheidung

493. BGH 5 StR 428/09 – Urteil vom 13. April 2010 (LG Hamburg)

Untreue bei einer englischen Limited (Gründungsstatut; Gründungstheorie; Niederlassungsfreiheit; Nichtigkeit einer Gesellschaft; europarechtskonforme Auslegung); Pflichtenkreis eines „Directors“ (ausländisches Gesellschaftsrecht; Bestimmtheitsgebot; Fremdrechtsanwendung); keine entsprechende Anwendung deutschen Gesellschaftsrechts (Analogieverbot); Verfahren nahezu ohne Inlandsbezug (Einstellungsmöglichkeiten).

§ 266 StGB; § 9 StGB; Art. 49 AEUV; Art. 54 AEUV; Art. 103 Abs. 2 GG; § 153 StPO; § 153a StPO; § 154 StPO

1. Im Falle einer Limited als EU-Auslandsgesellschaft ist zur Bestimmung der Pflichten des „Director“ im Rahmen des § 266 Abs. 1 StGB auf das ausländische Gesellschaftsrecht zurückzugreifen. Dies ist insbesondere mit dem verfassungsrechtlich garantierten Bestimmtheitsgebot vereinbar.

2. Eine entsprechende Anwendung deutschen Gesellschaftsrechts auf nach ausländischem Recht gegründete Gesellschaften kommt nicht in Betracht.

3. Bei einem Verfahren, dessen Gegenstand etwaige Vermögensdelikte unter ausländischen Straftätern nahezu ohne Inlandsbezug bilden, ist ein überaus schonender Einsatz justizieller Ressourcen durch die Strafverfolgungsbehörden angezeigt; insbesondere sind frühzeitig Einstellungsmöglichkeiten zu erwägen.

4. Für Auslandsgesellschaften, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder des EWR oder in einem mit diesen aufgrund Staatsvertrages in Bezug auf die Niederlassungsfreiheit gleichgestellten Staat gegründet wurden, gilt die sog. Gründungstheorie (vgl. BGHZ 154, 185; 164, 148, 151; 178, 192, 196; vgl. EuGH NJW 2002, 3614 [Überseering]; EuGH, Urteil vom 30. September 2003 – C-167/01 [Inspire Art]). Danach ist die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft unabhängig von ihrem Verwaltungssitz nach dem Recht zu beurteilen, nach dem sie gegründet wurde; dies gilt auch für sogenannte Briefkastengesellschaften (vgl. EuGH, Urteil vom 30. September 2003 – C-167/01 [Inspire Art] Tz. 139).

5. Aus dem Untreuetatbestand lassen sich für beide Tatbestandsalternativen noch vollständige abstrakt-generelle Verhaltensnormen ableiten. Welches Verhalten in Bezug auf die Betreuung fremden Vermögens pflichtwidrig ist, regelt die Strafbestimmung zwar nicht selbst; sie eröffnet aber über das normative Tatbestandsmerkmal der Pflichtwidrigkeit die Möglichkeit einer einfachgesetzlichen oder auch privatautonomen Konkretisierung, namentlich durch Satzung oder Vertrag (vgl. BGHR StGB § 266 Pflichtwidrigkeit 4; BGH NStZ 2006, 214, 217, insoweit in BGHSt 50, 331 nicht abgedruckt). Diese außerstrafrechtlichen Regelungen – gegebenenfalls auch ausländischen Rechts – entscheiden damit nicht selbst über den tatbestandsmäßigen Erfolg und die ihn herbeiführende Handlung, sondern schaffen lediglich die – für sich genommen strafrechtlich wertungsfreie und ihrerseits nicht dem Bestimmtheitsgebot unterstehende – Grundlage für eine anschließende untreuespezifische Präzisierung (vgl. BVerfGE 78, 205, 213; BGHSt 37, 266, 272).


Entscheidung

500. BGH 1 StR 454/09 – Urteil vom 27. April 2010 (LG München I)

Tateinheit und Tatmehrheit bei der Steuerhinterziehung (maßgebliche Erklärungspflichten; Unterlassen); beschränkte Revision (Auslegung des Umfangs der Revision der Staatsanwaltschaft; Trennungsformel); rechtsfehlerhafte Beweiswürdigung bei einem Freispruch (Unterstellung dem Angeklagten günstiger Sachverhalte ohne Anhaltspunkt; in dubio pro reo; überspannte Anforderungen an die Beweiswürdigung).

§ 370 AO; § 52 StGB; § 53 StGB; § 344 StPO; § 261 StPO

Die Hinterziehung von Umsatzsteuer durch Nichtanmeldung von Ausgangsumsätzen einerseits und durch unberechtigte Geltendmachung von Vorsteuern andererseits stellt für jeden Voranmeldungszeitraum eine einheitliche Tat der Steuerhinterziehung im materiellrechtlichen Sinn dar. Maßgeblich für den materiell-rechtlichen Tatbegriff sind die steuerlichen Erklärungspflichten. Die Abgabe jeder einzelnen unrichtigen Steuererklärung ist deshalb grundsätzlich als einheitliche, selbständige Tat im Sinne des § 53 StGB zu werten. Bei der Steuerhinterziehung durch Unterlassen ist ebenfalls im Hinblick auf jede Steuerart, jeden Besteuerungszeitraum und jeden Steuerpflichtigen von einer selbständigen Tat auszugehen (vgl. BGH wistra 2005, 30; wistra 2008, 266).


Entscheidung

509. BGH 2 StR 70/10 – Beschluss vom 14. April 2010 (LG Trier)

Schuldspruchberichtigung beim unerlaubten Bandenhandel mit Betäubungsmitteln (Bewertungseinheit bei der Einfuhr von BtM; Strafschärfung wegen der Einfuhr; Beruhen).

§ 30a BtMG; § 46 StGB; § 337 StPO

Auch wenn die unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln wegen einer vorliegenden Bewertungseinheit in den

Konkurrenzen zurücktritt, kann das Verbringen von Betäubungsmitteln über die Grenze zum Zwecke des Handeltreibens strafschärfend berücksichtigt werden.