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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2010
11. Jahrgang
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Auch nach der Rechtskraft des Urteils des EGMR im Fall M. v. Deutschland vom 17. Dezember 2009 (HRRS 2010 Nr. 65) führt die für eine einstweilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren (§ 32 BVerfGG) erforderliche Folgenabwägung nicht dazu, dass ein Beschwerdeführer sofort aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen ist. Die durch das Urteil des EGMR aufgeworfenen Rechtsfragen bedürfen einer Klärung im Hauptsacheverfahren.
1. Meinungen genießen den Schutz der Meinungsfreiheit, ohne dass es dabei auf deren Begründetheit, Werthaltigkeit oder Richtigkeit ankäme. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert
werden (vgl. BVerfGE 61, 1, 7; 90, 241, 247). Geschützt sind damit – in den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG – auch rechtsextremistische Meinungen, wie die Aussage „Aktion Ausländerrückführung – Für ein lebenswertes deutsches Augsburg“.
2. Bei der Auslegung und Anwendung strafrechtlicher Vorschriften wie § 130 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b StGB haben die Gerichte dem eingeschränkten Grundrecht der Meinungsfreiheit Rechnung zu tragen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198, 208 f.; 94, 1, 8; stRspr). Dies erfordert zum einen, dass der objektive Sinngehalt einer Meinungsäußerung zutreffend erfasst worden ist. Die Deutung des objektiven Sinngehalts einer Meinungsäußerung ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls aus der Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums zu ermitteln (vgl. BVerfGE 93, 266, 295; 114, 339, 348). Hierbei dürfen die Gerichte der Meinungsäußerung keine Bedeutung beilegen, die sie objektiv nicht hat, und im Fall der Mehrdeutigkeit nicht von der zur Verurteilung führenden Deutung ausgehen, ehe sie andere Deutungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen haben. Zum anderen ist der wertsetzenden Bedeutung der Meinungsfreiheit auch auf der Ebene der Auslegung Rechnung zu tragen. Die Wahrung dieser wertsetzenden Bedeutung erfordert es grundsätzlich, dass eine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem durch die Meinungsfreiheit beeinträchtigten Rechtsgut stattfindet.
3. Die Meinungsfreiheit muss jedoch stets zurücktreten, wenn die Äußerung einer Meinung die Menschenwürde eines anderen antastet. Denn die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig (BVerfGE 93, 266, 293; 107, 275, 284). Da aber nicht nur einzelne, sondern sämtliche Grundrechte Konkretisierungen der Menschenwürde sind, bedarf es stets einer sorgfältigen Begründung, wenn angenommen werden soll, dass der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt (vgl. BVerfGE 93, 266, 293; 107, 275, 284).
4. Einzelfall einer verfassungswidrigen Verurteilung wegen Volksverhetzung.
1. Bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der grundgesetzlichen Unschuldsvermutung sind Art. 6 Abs. 2 EMRK und die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR als Auslegungshilfe heranzuziehen (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 322 ff.).
2. Die grundgesetzlich und konventionsrechtlich gewährleistete Unschuldsvermutung ist nicht bereits schon dann verletzt, wenn die zu vor dem eigentlichen Tatzeitraum liegenden Taten getroffenen Feststellungen im Urteil sowohl als Indiz für die Umstände der Begehung der angeklagten Taten als auch in gewissem Umfang im Rahmen der Strafzumessung verwendet werden.
3. Anders als das Verfahren über den Bewährungswiderruf und anders als ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren ist das zu einem Urteil führende strafrechtliche Hauptverfahren zur Widerlegung auch und gerade der konventionsrechtlichen Unschuldsvermutung geeignet; es muss dem Angeklagten insbesondere die von der Konvention geforderten Verteidigungsrechte (Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK) in vollem Umfang gewähren. Diese schützen ihn auch im Hinblick auf die Feststellung nicht im eigentlichen Sinn verfahrensgegenständlicher Tatsachen.
1. Nach der Rechtsprechung des BVerfG besteht im Allgemeinen auch bei Verletzung grundrechtlich geschützter Rechtsgüter durch Private kein grundrechtlicher Anspruch auf Strafverfolgung durch den Staat (vgl. BVerfGE 51, 176, 187). Anderes kann allerdings gelten, wenn ernstlich zu besorgen ist, dass ein Verzicht auf effektive Untersuchung verdächtiger Todesfälle zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt oder im Einzelfall zu einer Gefahrenlage für Leben und Gesundheit führt. In solchen Fällen kann gestützt auf einen grundrechtlichen Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ein Einschreiten des Staates und seiner Organe verlangt werden (vgl. BVerfGE 39, 1, 36 ff.; 90, 145, 195), wobei die wirksame Ahndung von Gewaltverbrechen Teil dieser Schutzpflicht ist.
2. Die Gewährleistungen der EMRK beeinflussen die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des EGMR können auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen, sofern dies nicht zu einer – von der Europäischen Menschenrechtskonvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) – Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 317).
3. Bei der Auslegung des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG resultierenden, für den Staat geltenden Gebots, sich schützend und fördernd vor das Leben zu stellen, ist demnach die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen. Nach dieser resultiert aus Art. 2 EMRK die Pflicht, verdächtige Todesfälle
durch amtliche Ermittlungen wirksam, d.h. prompt, umfassend, unvoreingenommen und gründlich zu untersuchen, wobei diese Ermittlungen geeignet sein müssen, zur Identifizierung und Bestrafung der verantwortlichen Person zu führen.
1. Der Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare), gehört zu den anerkannten Prinzipien des deutschen Strafverfahrens (vgl. BVerfGE 38, 105, 113; 56, 37, 43). Als Folge dieses rechtsstaatlichen Grundsatzes gewährt § 55 Abs. 1 StPO dem Zeugen das Recht, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden (vgl. BVerfGE 38, 105, 113).
2. Eine Verfolgungsgefahr im Sinne des § 55 Abs. 1 StPO ist anzunehmen, wenn eine Ermittlungsbehörde aus einer wahrheitsgemäßen Aussage des Zeugen Tatsachen entnehmen könnte, die sie zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (§ 152 StPO) oder auch zur Aufrechterhaltung oder Verstärkung eines Tatverdachts veranlassen könnte. Hierfür genügt es bereits, wenn der Zeuge bestimmte Tatsachen angeben müsste, die mittelbar den Verdacht einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit begründen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die wahrheitsgemäße Beantwortung einer Frage zwar allein eine Strafverfolgung nicht auslösen könnte, jedoch „als Teilstück in einem mosaikartigen Beweisgebäude“ zu einer Belastung des Zeugen beitragen könnte. Für die Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung muss es konkrete tatsächliche Anhaltspunkte geben; bloße Vermutungen oder rein denktheoretische Möglichkeiten reichen nicht aus.
3. Ist von einer Verfolgungsgefahr auszugehen, so ist der Zeuge gemäß § 55 Abs. 1 StPO grundsätzlich nur berechtigt, die Auskunft auf einzelne Fragen zu verweigern. Nur ausnahmsweise ist er zu einer umfassenden Verweigerung der Auskunft befugt, wenn seine gesamte in Betracht kommende Aussage mit einem möglicherweise strafbaren oder ordnungswidrigen Verhalten in so engem Zusammenhang steht, dass im Umfang der vorgesehenen Vernehmungsgegenstände nichts übrig bleibt, wozu er ohne die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit wahrheitsgemäß aussagen könnte.
Soweit eine Bekanntmachung der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung lediglich auf Grundlage von Verwaltungsvorschriften oder langjähriger gerichtlicher Übung erfolgt, stellt dies keine für den Fristbeginn maßgebliche Mitteilung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG dar. Im Falle eines nach § 35 Abs. 1 StPO in Anwesenheit verkündeten Strafurteils kommt es daher nicht auf eine spätere Zustellung oder Bekanntgabe des vollständig abgefassten Urteils, sondern auf den Zeitpunkt der Verkündung an.