HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2007
8. Jahrgang
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II. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

805. BGH 3 StR 50/07 - Beschluss vom 23. August 2007

Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (Kompensationslösung; Vollstreckungslösung; Anrechnungslösung); Vorlagebeschluss (Fortbildung des Rechts); Strafmilderung; richterliche Rechtsfortbildung; Anrechnung des erlittenen Strafverfahrens wie erlittene Untersuchungshaft; redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 13 EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 132 GVG; § 49 StGB; § 51 Abs. 1 StGB; § 46 StGB

1. Der Senat beabsichtigt zu entscheiden, dass dann, wenn der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden ist, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, der Angeklagte gleichwohl zu derjenigen Strafe zu verurteilen ist, die - ohne Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung - nach § 46 StGB angemessenen wäre. Zugleich soll in der Urteilsformel auszusprechen sein, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.

2. Grundlage dessen ist eine entsprechende Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB. Diese Vorschrift beruht auf dem Grundgedanken, dass der Staat die besonderen Belastungen auszugleichen hat, die er dem Angeklagten im Strafverfahren durch die Untersuchungshaft auferlegt. Dieser Rechtsgedanke ist auf die zu kompensierenden besonderen Belastungen des Strafverfahrens für den Angeklagten zu übertragen, die ihm der Staat zwar in anderer Form als durch Freiheitsentziehung, aber in rechtsstaatswidriger Weise zufügt.

3. Die Herabsetzung einer gesetzlichen Mindeststrafe in Anwendung von § 49 Abs. 1 StGB zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ist unzulässig. Eine analoge Anwendung scheitert daran, dass es dem Rechtsanwender nicht frei steht, den gesetzlichen Katalog der Vorschriften, die eine Milderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorschreiben oder zulassen, nach seinen Vorstellungen durch Festlegung eines ungeschriebenen obligatorischen oder fakultativen Milderungsgrundes zu erweitern.


Entscheidung

820. BGH 1 StR 201/07 - Urteil vom 14. August 2007 (LG Bayreuth)

Rechtsfehlerhaft unterlassene Anordnung der Sicherungsverwahrung bei wiederholten Sexualdelikten zulasten von Kindern und Jugendlichen (Ermessen; schwerer sexueller Missbrauch; Gefährlichkeit bei entgeltlichem Verkehr; seelische Schäden bei Kindern und Jugendlichen); Strafzumessung bei Rückfällen; erhebliche sexuelle Handlung; Gesetzlichkeitsprinzip.

§ 66 Abs. 2 StGB; § 176a StGB; § 176 StGB; § 184f StGB; Art. 103 II GG

1. Ein Hang im Sinne des § 66 StGB setzt im Zusammenhang mit Sexualstraftaten keine „eingeschliffene Verhaltensschablone“ bei den begangenen Sexualpraktiken voraus.

2. Seelische Schäden bei Kindern oder Jugendlichen durch Sexualstraftaten sind typisch, allerdings oft nur

schwer festzustellen oder hinsichtlich künftiger Taten zu prognostizieren. Die „namentlich - Klausel“ in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB belegt jedoch, dass Sicherungsverwahrung auch in derartigen Fällen möglich ist. Auch die allgemeine und abstrakte Gefährlichkeit von Delikten kann Grundlage von Sicherungsverwahrung sein (BGH NJW 2000, 3015).

3. Ob eine sexuelle Handlung erheblich ist, richtet sich nach dem Grad ihrer Gefährlichkeit für das betroffene Rechtsgut (BGH NStZ 1992, 432). §§ 176, 176a StGB schützen die Möglichkeit ungestörter sexueller Entwicklung von Kindern (BGHSt 45, 131, 132). Schon deshalb ist eine sexuell getönte Handlung - wie das Streicheln der Brust - gegenüber einem Kind eher erheblich als gegenüber einem Erwachsenen (BGH NStZ 1999, 45).

4. Bei Begehung einer Tat muss ihre Strafbarkeit feststehen, nicht die Auswirkung ihrer Aburteilung auf die Aburteilung künftiger weiterer Straftaten. Daher kann auch ein Urteil wegen einer vor Einführung von § 176a Abs. 1 Nr. 4 StGB aF begangenen Tat zu einer Verurteilung nach dieser Bestimmung führen.


Entscheidung

866. BGH 4 StR 293/07 - Beschluss vom 17. Juli 2007 (LG Bochum)

Rechtsfehlerhaft unterbliebene Gesamtstrafenbildung; Strafrahmenwahl bei möglichem minder schweren Fall (des schweren Raubes) und weiteren Milderungsgründen.

§ 55 StGB; § 250 StGB; § 27 StGB; § 49 StGB

Bei der Prüfung des minder schweren Falles ist, wenn neben allgemeinen Milderungsgründen auch ein sog. „vertypter“ Milderungsgrund vorliegt, zuerst zu erwägen, ob schon die unbenannten Milderungsgründe für die Annahme eines minder schweren Falles ausreichen oder ob erst das Hinzutreten des vertypten Milderungsgrundes die Tat als minder schweren Fall erscheinen lässt, oder ob der wegen des vertypten Milderungsgrundes nach § 49 StGB gemilderte Strafrahmen besser zur Ahndung des Unrechts geeignet ist (vgl. BGH NStZ 1999, 610).


Entscheidung

852. BGH 4 StR 237/07 - Beschluss vom 24. Juli 2007 (Nürnberg-Fürth)

Gesamtstrafenbildung (Strafzumessung; Härteausgleich bei Zäsur); Hinweise zur Abfassung der Urteilsgründe und zur Tenorierung bei der Bildung zweier Gesamtstrafen.

§ 46 StGB; § 55 StGB; § 267 StPO

1. Nötigt die Zäsurwirkung einer einzubeziehenden Verurteilung zur Bildung mehrerer Gesamtstrafen, muss das Gericht einen sich daraus möglicherweise für den Angeklagten ergebenden Nachteil in Folge eines zu hohen Gesamtstrafübels ausgleichen. Es muss also darlegen, dass es sich dieser Sachlage bewusst gewesen ist und erkennen lassen, dass es das Gesamtmaß der Strafen für schuldangemessen gehalten hat (vgl. BGHSt 41, 310, 313; BGH, Beschluss vom 8. Februar 2000 - 4 StR 488/99 m.w.N.).

2. Wenn zwei Gesamtfreiheitsstrafen zu verhängen sind, ist die Urteilsformel so zu fassen, dass sie erkennen lässt, welchen Taten die jeweilige Gesamtstrafe zuzuordnen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2000 - 4 StR 377/00).


Entscheidung

893. BGH 5 StR 282/07 - Beschluss vom 1. August 2007 (LG Potsdam)

Strafzumessung (Aufklärungshilfe; begrenzte Berücksichtigung ausländischer Vorstrafen).

§ 46 StGB; § 31 BtMG; § 49 Abs. 2 StGB; § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG

Bei der Strafzumessung dürfen grundsätzlich auch ausländische Vorstrafen berücksichtigt werden, selbst wenn sie nicht in das Bundeszentralregister eingetragen worden sind (BayObLG MDR 1979, 72: Sie sind Teil des Vorlebens des Täters (vgl. § 46 Abs. 2 StGB). Indes müssen die Feststellungen auch zu diesen strafrechtlichen Vorbelastungen der Angeklagten die Prüfung ermöglichen, ob die Verwertung der Vorstrafen rechtsfehlerfrei erfolgt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Februar 1999 - 5 StR 705/98).


Entscheidung

890. BGH 5 StR 267/07 - Beschluss vom 28. August 2007 (LG Braunschweig)

Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung (neue Tatsache bei einer Äußerung im Vollzug: Deutungsobliegenheiten, Pädophilie, gebotene Gesamtwürdigung).

§ 66b StGB

Zwar können neue Tatsachen im Sinne des § 66b StGB auch innere Tatsachen, wie Umstände und Veränderungen in der Persönlichkeit oder der Motivation des Verurteilten sein (BGH StraFo 2007, 120, 121), ebenso wie die Drohung des Verurteilten, nach der Entlassung weitere Straftaten zu begehen. Grundsätzlich ist daher eine erst nach der Verurteilung durch entsprechende Drohungen erkennbare Bereitschaft, zukünftige Opfer von Straftaten zu töten, ein zulässiger Anknüpfungspunkt für die besondere Gefährlichkeit im Sinne des § 66b StGB. Dafür ist jedoch eine erhebliche Indizwirkung festgestellter Äußerungen für eine solche Bereitschaft und damit für die Gefährlichkeit des Verurteilten darzulegen, welche die Feststellung der Ernsthaftigkeit der Äußerungen erfordert.


Entscheidung

826. BGH 1 StR 327/07 - Beschluss vom 15. August 2007 (LG Ravensburg)

Anordnung der Sicherungsverwahrung (frühere Tat nach § 66 Abs. 4 Satz 3 und 4 StGB: Fristberechnung bei zwischenzeitlicher Haft und zeitweiser Flucht).

§ 66 Abs. 4 Satz 3 und 4 StGB

Der Vorschrift des § 66 Abs. 4 Satz 4 StGB liegt der Gedanke zugrunde, dass in die Fünf-Jahresfrist die Zeit nicht eingerechnet werden soll, in der der Täter keine Gelegenheit hat, sich in der Freiheit zu bewähren (BGH NJW 1969, 1678, 1679). Vollzugslockerungen, die (lediglich) zu einer Verminderung der Kontrolle über den Gefangenen führen, bedeuten keine Beendigung oder

Unterbrechung der Verwahrung in der Anstalt. Wer kontrolliert wird, ist nicht frei (BGHR StGB § 66 Abs. 4 Fristberechnung 2 = BGH NStZ 2005, 265, 266). Die Zeit, in der ein Angeklagter flüchtig ist, ist jedoch in die Verwahrungszeit nicht einzubeziehen (vgl. BGH NJW 2000, 2830, 2831 - insoweit in BGHSt 46, 81 nicht abgedruckt).


Entscheidung

829. BGH 1 StR 332/07 - Beschluss vom 25. Juli 2007 (LG Nürnberg-Fürth)

Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (Hang auch ohne Depravation).

§ 64 StGB

Von einem Hang ist auszugehen, wenn eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung besteht, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad physischer Abhängigkeit erreicht haben muss. „Im Übermaß“ bedeutet, dass der Täter berauschende Mittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt wird (BGH NStZ-RR 2006, 103; 2003, 106 st. Rspr.). Ein Hang im Sinne des § 64 StGB setzt keine Depravation voraus. Dem Fehlen einer Depravation kann jedoch, ebenso wie dem Vorliegen einer Depravation, in diesem Zusammenhang eine nicht unerhebliche indizielle Bedeutung zukommen (vgl. in diesem Sinne BGHR StGB § 64 Nichtanordnung 1).


Entscheidung

854. BGH 4 StR 242/07 - Beschluss vom 17. Juli 2007 (LG Bielefeld)

Verminderte Schuldfähigkeit bei Pädophilie (erforderliche Feststellungen zur Persönlichkeitsstörung); Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 21 StGB; § 63 StGB

Steht für die Beurteilung der Schuldfähigkeit eine von der Norm abweichende sexuelle Präferenz im Vordergrund, muss diese den Täter im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert haben, dass er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen aufbringt (vgl. BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 33, 37 und § 63 Zustand 23). Daher ist nicht jedes abweichende Sexualverhalten, auch nicht eine Devianz in Form einer Pädophilie, die zwangsläufig nur unter Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter verwirklicht werden kann, ohne Weiteres gleichzusetzen mit einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB. Hingegen kann die Steuerungsfähigkeit etwa dann beeinträchtigt sein, wenn abweichende Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz, durch Ausbau des Raffinements und durch gedankliche Einengung auf diese Praktiken auszeichnen.