Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2007
8. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
die HRRS-Ausgabe Oktober umfasst zwei Besprechungen zu jüngeren Entscheidungen des BGH. Zunächst behandeln Paeffgen/Grosse-Wilde kritisch die Individualierung beim Erfolg der Körperverletzungsdelikte, die der BGH mit einer Entscheidung zu § 226 StGB eingeleitet hat. Mansdörfer befasst sich zustimmend mit einer in dieser Ausgabe aufgenommenen Entscheidung des BGH, mit welcher der BGH die Sympathiewerbung für Terrororganisationen für straflos erachtet.
Weitere besonders nennenswerte Entscheidungen sind etwa diejenige des BVerfG zur Berücksichtigung eines bestehenden Arbeitsverhältnisses bei der Ladung in den geschlossenen Vollzug und der Vorlagebeschluss des BGH zur Art und Weise des Ausgleichs rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen.
Insgesamt werden mit der Ausgabe 134 Entscheidungen publiziert.
Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion
Dr. Karsten Gaede
1. Das Grundgesetz verlangt sowohl im Interesse der Rechtsgemeinschaft als auch im Interesse des einzelnen Strafgefangenen, dass der Strafvollzug auf das Ziel der sozialen Integration ausgerichtet ist. Das Interesse des Gefangenen an einer dem entsprechenden Vollzugsgestaltung ist grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützt (vgl. BVerfGE 35, 202, 235 f.; 116, 69, 85 f.).
2. Der offene Vollzug ist nach der Konzeption des Strafvollzugsgesetzes für geeignete Gefangene die Regelvollzugsform und nicht etwa eine besondere Vergünstigung.
3. Die mit dem Vollstreckungsplan als Verwaltungsvorschrift nach allgemeinen Merkmalen getroffene Festlegung der Vollzugszuständigkeit bedeutet für die Verwaltung eine Selbstbindung. Die Selbstbindung durch Verwaltungsvorschriften muss aber ihrerseits verfassungskonform sein und enthebt die Behörde nicht der
Verpflichtung, im Einzelfall zu überprüfen, ob die Voraussetzungen vorliegen, für welche die Selbstbindung gedacht war (vgl. BVerwGE 100, 335, 340 f.). Sie reicht grundsätzlich nicht so weit, dass sie nicht erlauben würde, wesentlichen Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung zu tragen (vgl. BVerwGE 70, 127, 142).
4. Der Gebrauch der Möglichkeit vor Beginn des Vollzuges durch Einweisung (§ 26 Abs. 2 Satz 1 StVollstrO) vom Vollstreckungsplan abzuweichen, ist von Verfassungs wegen geboten, wenn eine Entscheidung nach den Regelungen des Vollstreckungsplans grundrechtlich geschützte Belange des Verurteilten berühren und ihn dabei in unverhältnismäßiger Weise belasten würde.
5. Die Gefahr einer unverhältnismäßigen Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Belange dadurch, dass ein objektiv für den offenen Vollzug geeigneter Verurteilter zunächst in den geschlossenen Vollzug geladen wird, liegt besonders nahe im Hinblick auf den drohenden Verlust eines bestehenden Arbeitsplatzes.
6. Die Strafvollstreckungsbehörde kann vom Vollstreckungsplan abweichen. Sie trifft ihre Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen unter Beteiligung der jeweiligen Strafvollzugsbehörden. Dabei nehmen die Anforderungen an die Prüfung einer Abweichung vom Vollstreckungsplan in demselben Maße zu, in dem der Vollstreckungsplan auf differenziertere Regelungen verzichtet und nicht durch verfahrensmäßige Vorkehrungen im Vollzug sicher gestellt ist, dass der Verurteilte erforderlichenfalls auch kurzfristig in eine andere Justizvollzugsanstalt weiterverlegt werden kann.
7. Es ist nicht schon für sich genommen verfassungsrechtlich zu beanstanden, dass ein Vollstreckungsplan keine allgemeine Regelung enthält, nach der auf freiem Fuß befindliche Verurteilte - insbesondere wenn sie sich in einem festen Arbeitsverhältnis befinden - unter näher bestimmten Voraussetzungen von vornherein zum Strafantritt in eine Justizvollzugsanstalt des geschlossenen Vollzugs zu laden sind. Grundrechte bedürfen aber auch hier geeigneter Organisationsformen und Verfahrensregelungen sowie einer grundrechtskonformen Anwendung des Verfahrensrechts, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist (vgl. BVerfGE 56, 216, 236; 65, 76, 94; stRspr).
8. Soweit es um den Gesichtspunkt der Erhaltung eines bestehenden Arbeitsverhältnisses geht, ist zwingend geboten nur, dass dieser Gesichtspunkt mit dem ihm zukommenden erheblichen Gewicht effektive Berücksichtigung findet. Dies setzt unter anderem Vorkehrungen voraus, welche sicherstellen, dass die für die Erhaltung des Arbeitsverhältnisses relevanten Entscheidungen so rechtzeitig getroffen werden, dass sachlich nicht gerechtfertigte Arbeitsplatzverluste vermieden werden.
9. Das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG gilt nur im Rahmen der bundesstaatlichen Kompetenzordnung; es gewährleistet daher nicht, dass die Länder ihre Gesetzgebungskompetenzen sowie die Spielräume, die das einfache Bundesrecht ihnen für ihre Verwaltungstätigkeit einräumt, inhaltsgleich ausfüllen (vgl. BVerfGE 10, 354, 371; 76, 1, 73).
10. Ein auf Grundlage von § 22 Abs. 1 StVollstrO erlassener Vollstreckungsplan hat den Rechtscharakter einer Verwaltungsvorschrift und kann daher nicht unmittelbar Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein.
1. Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-)Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht.
2. Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich.
3. „Neu“ im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sind nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Das maßgebliche Kriterium für den Widerruf besteht mit anderen Worten in einem Wegfall der Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung. Ob dies der Fall ist, erfordert vor dem Hintergrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) eine Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls.
4. Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. Dazu sind nachvollziehbare Feststellungen erforderlich, von welcher Straferwartung der Beschuldigte im
Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausging
5. Neu hervorgetretene Umstände können sich dagegen nicht auf den (dringenden) Tatverdacht beziehen. Dieser ist bereits Grundvoraussetzung für Erlass und Aufrechterhaltung jeden Haftbefehls (vgl. § 112 Abs. 1 StPO). Demgemäß ist ohne Bedeutung, dass sich der dem Haftbefehl oder der Anklage zugrunde gelegte dringende Tatverdacht aufgrund der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung bestätigt hat und damit noch „dringender“ geworden ist.
6. Untersuchungshaft ist keine antizipierte Strafhaft. Sie steht dieser weder in ihren Wirkungen noch in ihren Voraussetzungen gleich. Der Begünstigte einer Haftverschonungsentscheidung hat grundsätzlich Anspruch, die Rechtskraft des Urteils in Freiheit zu erwarten. Diese verfassungsrechtliche Vorgabe ist auch für die Fachgerichte bindend; sie kann nicht unter Berufung auf eine wie auch immer geartete „richterliche Überzeugung“ außer Kraft gesetzt werden.
7. Allein der Umstand, dass der um ein günstigeres Ergebnis bemühte Angeklagte infolge des Schlussantrages der Staatsanwaltschaft oder gar durch das Urteil selbst die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, wenn ihm die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen stand und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachkam.
1. Allein der beharrliche und gröbliche Verstoß des Verurteilten gegen ihm erteilte Weisungen oder das beharrliche Sich-Entziehen der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers rechtfertigen nach § 56 f Abs. 1 Nr. 2 StGB den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nicht. Maßgeblich ist vielmehr, ob unter Berücksichtigung der gesamten Umstände der Verstoß zu der kriminellen Neigung oder Auffälligkeit des Verurteilten so in einer kausalen Beziehung steht, dass die Gefahr weiterer Straftaten besteht.
2. Der Verstoß gegen die Weisung, jeden Wohnungswechsel mitzuteilen und das Sich-Entziehen der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers lässt nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf eine kriminelle Prognose zu. Hierzu bedarf es weiterer konkreter und objektivierbarer Anhaltspunkte dafür, aus welchem Grund der Bewährungsverstoß Anlass zur Besorgnis der Begehung weitere Straftaten besteht.
3. Die Feststellung und Würdigung des Tatbestands, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (BVerfGE 18, 85, 92 f.; 34, 369, 379). Die Fachgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung von einfachem Recht den grundgesetzlichen Wertmaßstäben Rechnung zu tragen. Verfehlt ein Gericht diese Maßstäbe, so verletzt es als Träger öffentlicher Gewalt die außer acht gelassenen Grundrechtsnormen; sein Urteil oder Beschluss muss auf eine Verfassungsbeschwerde hin vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben werden.
4. Die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts sind nicht immer allgemein klar abzustecken; dem richterlichen Ermessen muss ein gewisser Spielraum bleiben, der die Berücksichtigung der besonderen Lage des Einzelfalls ermöglicht. Allgemein gilt, dass die üblichen Subsumtionsvorgänge innerhalb des einfachen Rechts so lange der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen sind, als Auslegungsfehler nicht sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Fall von einigem Gewicht sind (BVerfGE 18, 85, 93).
1. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) erfordert bei absehbar umfangreichen Verfahren stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umfassende Hauptverhandlungsplanung mit mehr als nur einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche.
2. Ist absehbar, dass das Gericht ein lang dauerndes Verfahren nicht mit der von Verfassungs wegen gebotenen Beschleunigung weiterführen kann, ist der Haftbefehl unverzüglich aufzuheben. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass auch erst noch bevorstehende, aber schon jetzt hinreichend deutlich absehbare Verfahrensverzögerungen bereits eingetretenen gleichstehen.
3. Bei der Geltendmachung einer Verletzung des Beschleunigungsgebots muss der Beschwerdeführer im Einzelnen die nach dem jeweiligen Verfahrensstand gebotene Maßnahme und die damit mutmaßlich zu erzielende Beschleunigung des Verfahrens konkret darlegen, sofern
sich dies nicht ausnahmsweise aus den sonstigen Umständen des Falles erschließt.
4. Die Mitteilung der Anzahl der Hauptverhandlungstage und der Dauer der jeweiligen Sitzungen ist für sich allein noch nicht geeignet, die Annahme einer Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen in der Sache nachvollziehbar aufzuzeigen. Vielmehr muss der Beschwerdeführer zusätzlich den Ablauf der jeweiligen Sitzungstage schildern, damit gegebenenfalls geprüft werden kann, ob die Ursache für eine frühzeitige Beendigung des Verhandlungstages im Verantwortungsbereich der Justiz oder des Beschwerdeführers wurzelt.
Ausländische gerichtliche Entscheidungen können mangels Zugehörigkeit zur deutschen öffentlichen Gewalt i.S.d Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein.