HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2007
8. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Rechtsmissbräuchlichkeit der unwahren Verfahrensrüge - Besprechung des Urteils des 3. Senats vom 11.8.2006 - 3 StR 284/05 (BGH HRRS 2006 Nr. 713)

Von Lucian Krawczyk, Bielefeld

Das zu besprechende Urteil des 3. Senats[1], das erwartungsgemäß bereits eine Reihe von Stellungnahmen nach sich gezogen hat,[2] ist für die Revisionspraxis und insbesondere für die Verteidigung im Revisionsverfahren von grundlegender Bedeutung. Es ist neben dem aktuellen Vorlagebeschluss des 1. Senats zur Beachtlichkeit nachträglicher rügevernichtender Protokollberichtigungen[3] als Höhepunkt einer in den letzten Jahren erfolgten Relativierung der absoluten Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls (§ 274 StPO) zu sehen und bildet zugleich wohl das Ende der alten - mal heftig tobenden, mal verstummten - Debatte um die Zulässigkeit der so genannten unwahren Verfahrensrüge. Der 3. Senat hat in seinem Urteil erstmalig höchstrichterlich entschieden, dass eine auf ein (fehlerhaftes) Protokoll gestützte Verfahrensrüge rechtsmissbräuchlich ist, wenn der Beschwerdeführer die Unrichtigkeit des Protokolls kennt und bewusst wahrheitswidrig einen Verfahrensverstoß behauptet.

I. Zum Ausgangspunkt der Problematik der unwahren Verfahrensrüge

1. Die Problematik der unwahren Verfahrensrüge - vom 3. Senat in seinem Urteil als "unwahre Protokollrüge" bezeichnet - ist eine Folge der Beweisregel des § 274 StPO. Bekanntlich stattet diese Norm das Hauptverhandlungsprotokoll im Hinblick auf das Revisionsverfahren und für bestimmte Verfahrensvorgänge (wesentliche/vorgeschriebene Förmlichkeiten i.S.d. § 273 I, 274 StPO) mit einer absoluten Beweiskraft aus. Sofern eine wesentliche bzw. vorgeschriebene Förmlichkeit der Hauptverhandlung betroffen ist, lassen sich die Wirkungen des § 274 StPO für das Revisionsverfahren am prägnantesten mit folgender Formel beschreiben: Ein im Protokoll dokumentierter Verfahrensvorgang gilt als geschehen, auch wenn er tatsächlich nicht geschehen ist (positive Beweiskraft) und ein nicht protokollierter Verfahrensvorgang gilt als nicht geschehen, auch wenn er tatsächlich geschehen ist (negative Beweiskraft).[4]

2. Dem Revisionsführer eröffnet die Regelung des § 274 StPO somit die Möglichkeit, gestützt auf den (unzutreffenden) Protokollinhalt einen Verfahrensverstoß zu behaupten, der sich tatsächlich gar nicht zugetragen hat - mit anderen Worten: die absolute Beweiskraft des Protokolls für eine unwahre Verfahrensrüge auszunutzen. Diese Möglichkeit steht prinzipiell jedem Revisionsführer offen, besteht also etwa auch bei Revisionen der Staatsanwaltschaft oder des Nebenklägers. Dennoch wird die Problematik der unwahren Verfahrensrüge fast ausschließlich im Zusammenhang mit Angeklagtenrevisionen diskutiert und dabei speziell auf den mit der Revision befassten Verteidiger abgestellt. Weil sich diese Problematik in der Praxis in der Tat ganz überwiegend nur in diesem Zusammenhang stellen dürfte, was auch das zu besprechende Urteil des 3. Senats zeigt, beschränken sich die nachfolgenden Überlegungen ebenfalls auf Angeklagtenrevisionen.[5]

3. Bereits an dieser Stelle darf aber darauf hingewiesen werden, dass die absolute Beweiskraft des Protokolls gem. § 274 StPO für die Verteidigung schon immer eine eher zwiespältige Angelegenheit war und weniger - wie es zum Teil dargestellt wird und wie es auch einige Formulierungen im Urteils des 3. Senats nahe legen - eine willkommene Hintertür, um sowohl materiell richtige als auch verfahrensgemäß zustande gekommene Urteile zu Fall zu bringen und so eine neue Tatsachenverhandlung "herauszuschinden". Dies folgte zunächst schon aus dem Umstand, dass § 274 StPO auch in die andere Richtung ausschlägt, wenn ein tatsächlich geschehener Verfahrensverstoß im Protokoll nicht dokumentiert ist und damit auch nicht - von dem grundsätzlich möglichen, aber wohl wenig Erfolg versprechenden Antrag auf Protokollberichtigung abgesehen[6] - bewiesen werden kann. Die Zwiespältigkeit des § 274 StPO für die Verteidigung ergab sich aber mehr noch aus der Rechtsprechung zur Unbeachtlichkeit der bloßen Protokollrüge. Denn danach durfte sich der Verteidiger nicht auf den bequemen Hinweis zurückziehen, dass das Protokoll einen bestimmten

Verfahrensverstoß ausweise; vielmehr, so verlangte es die Rechtsprechung spätestens seit der Grundsatzentscheidung BGHSt 7, 162, musste der Verteidiger stets bestimmt behaupten, dass sich der Verfahrensfehler in der Hauptverhandlung zugetragen habe. Dies schloss jedwede "halbweiche Formulierungen"[7] des Verteidigers aus. Der tiefere Grund für diese Rechtsprechung lässt sich der besagten Grundsatzentscheidung des BGH ebenfalls entnehmen: die Ausnutzung der absoluten Beweiskraft des Protokolls zur Rüge eines tatsächlich nicht geschehenen Verfahrensfehlers sollte möglichst erschwert werden.[8] Der Verteidiger musste also, wollte er eine Urteilsaufhebung für den Angeklagten erreichen, unter Umständen eine wahrheitswidrige Behauptung aufstellen. Er, so ist es treffend in einer Presseerklärung der Strafverteidigervereinigungen zum Urteil des 3. Senats formuliert, geriet "in ein Dilemma: Die Pflicht zur bestmöglichen Vertretung der Interessen des Mandanten kollidiert mit dem beruflichen Selbstverständnis."[9]

II. Die Entwicklung der Diskussion über die Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge bis in die neueste Zeit

Musste der Verteidiger - wenn er die Durchführung der Revision nicht an einen Kollegen abgab[10] - aus dem soeben aufgezeigten Dilemma selbst herausfinden und konnte ihm die Entscheidung für oder gegen das Erheben einer unwahren Verfahrensrüge niemand abnehmen, stellte sich daneben die Frage, ob eine unwahre Verfahrensrüge überhaupt (rechtlich) zulässig ist.

1. Bevor die Argumentation des 3. Senats, der sich mit dieser Frage im vorliegenden Urteil ausführlich beschäftigt hat, näher beleuchtet wird, lohnt sich zunächst ein Blick auf die bisherige Entwicklung der Diskussion über die Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge. Dieser Blick ist umso lohnenswerter, als die Diskussion zwar im Urteil des 3. Senats zwar in Kürze dargestellt wird, ihr Verlauf und die vorherrschende Meinung, die sich dabei in der Rechtsprechung sowie im Schrifttum herausgeschält hat, nicht recht deutlich werden. Überdies greift der 3. Senat viele der in der Vergangenheit für bzw. gegen die Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge vorgebrachten Gründe auf; insofern dient der folgende Abriss außerdem dazu, die Argumentation des 3. Senats vor dem Hintergrund der historischen Debatte nachvollziehbarer zu machen, sie aber auch kritisch zu hinterfragen. Bei der Frage nach Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge sind zunächst einmal zwei Ebenen auseinander zu halten: Zum einen geht es um die berufsrechtliche Zulässigkeit. Ist der Verteidiger, wie im Normalfall, Rechtsanwalt, kann eventuell das anwaltliche Berufsrecht, speziell die anwaltliche Wahrheitspflicht, dem Erheben einer unwahren Verfahrensrüge entgegenstehen. Zum anderen fragt sich, ob eine unwahre Verfahrensrüge ungeachtet eines etwaigen berufsrechtlichen Verstoßes jedenfalls prozessual zulässig ist.

2.a) Heftig umstritten - dies wird in dem Urteil des 3. Senats so nicht ganz deutlich - ist bei näherer Betrachtung eigentlich nur die berufsrechtliche Zulässigkeit gewesen, und das auch eher in der Vergangenheit. Der Streit wurde vornehmlich in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts ausgefochten - zu der Zeit, in der die grundlegende Entscheidung BGHSt 2, 125 fiel, die nachträgliche und rügevernichtende Protokollberichtigungen für unbeachtlich erklärte und damit an die vorangegangenen Grundsatzentscheidungen RGSt 43, 1 und OGHSt 1, 277 anknüpfte.[11] Während vereinzelt vertreten wurde, dass es sich bei der unwahren Verfahrensrüge bereits gar nicht um eine Lüge handele,[12] war es früher - und ist es auch heute noch - unter den Befürwortern der berufsrechtlichen Zulässigkeit verbreiteter, den (vermeintlichen) Widerspruch zwischen dem Erheben einer unwahren Verfahrensrüge und der anwaltlichen Wahrheitspflicht durch die Annahme eines eigenständigen prozessualen Wahrheitsbegriffs für das von § 274 StPO erfasste Verfahrensgeschehen aufzulösen. Diese Sichtweise geht zurück auf eine Passage in der alten reichsgerichtlichen Entscheidung RGSt 43, 1, die sich, wie gesagt, hauptsächlich mit der Beachtlichkeit nachträglicher Protokollberichtigungen befasst. In der Entscheidung heißt es, dass durch die Beurkundungen in dem von § 274 StPO mit einer besonderen Beweiskraft versehenen Hauptverhandlungsprotokolls ein Sachverhalt geschaffen werde, "der kraft gesetzlicher Vorschrift als Tatsache zu behandeln ist ohne Rücksicht darauf, wie der wirkliche Sachverhalt liegen mag (…)."[13] Daher, so diejenigen, sie sich an diese Passage angelehnt haben, gelte im Bereich des § 274 StPO der materielle Wahrheitsbegriff nicht. Vielmehr sei hier gem. § 274 StPO von dem protokollierten Verfahrensgeschehen und der so geschaffenen prozessualen Wahrheit auszugehen. Gemessen an dieser prozessualen Wahrheit sei eine auf das Protokoll gestützte Behauptung keine wahrheitswidrige Behauptung.[14]

2.b) Die Gegenposition, die in der unwahren Verfahrensrüge einen berufsrechtlichen Verstoß erblickt, lehnt es hingegen ab, einen eigenständigen, aus § 274 StPO folgenden Wahrheitsbegriff anzuerkennen. Am deutlichsten hat dies in der Vergangenheit Dallinger formuliert: § 274 StPO habe nicht die Wirkung einer Fiktion, durch die ein Sachverhalt geschaffen werde, sondern sei lediglich eine Beweisregel. Die Tatsache, dass man mit Hilfe der gesetzlichen Beweisregel etwas beweisen und dann mit einem Rechtsmittel durchdringen könnte, bedeute noch keineswegs, dass man eine entsprechende Behauptung aufstellen dürfe.[15] In jüngerer Zeit hat Tepperwien dieses Argument fortgeführt. Der Hinweis auf eine "konstitutive Wirkung" des Protokolls in dem Sinne, dass § 274 StPO einen für die Revisionsinstanz bindenden Sachverhalt schaffe, löse das Problem eines dem Verteidiger anzulastenden Verstoßes gegen die Wahrheitspflicht nicht.[16] Festzuhalten bleibt aber, dass die Auffassung, die eine unwahre Verfahrensrüge mit dem anwaltlichen Berufsrecht, speziell mit der Wahrheitspflicht des Rechtsanwalts für unvereinbar hält, vornehmlich in der Vergangenheit vertreten wurde.[17] Obwohl sie auch noch bis in die jüngste Zeit hinein ihre Anhänger findet,[18] wird heute überwiegend die berufsrechtliche Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge bejaht.[19]

3.a) Im Gegensatz dazu war die prozessuale Zulässigkeit, um die es bei dem Urteil des 3. Senats geht, bei weitem nicht so umstritten. Zwar finden sich in den älteren, die Beachtlichkeit nachträglicher Berichtigungen des Protokolls betreffenden Entscheidungen RGSt 43, 1 und OGHSt 1, 277 Wendungen, welche die unwahre Verfahrensrüge in die Nähe des Rechtsmissbrauchs rücken. Es ist insoweit die Rede von der Möglichkeit, "eine prozessrechtliche Befugnisse zu tatsächlich wahrheitswidrigen Zwecken zu missbrauchen"[20], bzw. von "der missbräuchlichen Ausübung der Befugnis"[21]. Zum Teil sind diese Wendungen dahin gehend verstanden worden, dass das Erheben einer unwahren Verfahrensrüge in den Augen der Rechtsprechung einen Rechtsmissbrauch darstellt[22] oder zumindest darstellen könnte[23]. Die Rechtsprechung des BGH hat sich gleichwohl in die andere Richtung entwickelt. Wegweisend ist hier wiederum die oben schon im Zusammenhang mit der Unbeachtlichkeit der bloßen Protokollrüge erwähnte Entscheidung BGHSt 7, 162 gewesen. Dort heißt es ausdrücklich, das Revisionsgericht könne "keinen Beschwerdeführer daran hindern, einen Verfahrensfehler, der durch die Niederschrift bewiesen wird, ohne Rücksicht auf die wirklichen Hergänge zu behaupten."[24] Dementsprechend ist die prozessuale Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge bis in die jüngere Zeit hinein in der Rechtsprechung nie angezweifelt worden; die gegenläufige Entwicklung in den letzten Jahren wird gleich noch aufgezeigt.

3.b) Auch für das Schrifttum stand die prozessuale Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge - nahezu ausnahmslos, kann man hier sagen - außer Frage.[25] Interessanterweise reihten sich hier auch diejenigen ein, die in der unwahren Verfahrensrüge einen berufsrechtlichen Verstoß des Verteidigers erblickten.[26] Ein zentrales Argument für viele Autoren war auch hier wieder der auf RGSt 43, 1 zurückgehende und schon für die Bejahung der berufsrechtlichen Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge verwendete prozessuale Wahrheitsbegriff[27], während andere auf den Formalismus des Revisionsrechts verwiesen, welcher auch die Ausnutzung eines Protokollfehlers durch den Verteidiger erlaube[28] und wiederum andere eher praktische Gesichtspunkte anführten. Der Nachweis wissentlich falschen Vortrags des Verteidigers, der ja für den Vorwurf der Rechtsmissbräuchlichkeit erforderlich sei, sei außerhalb besonders krasser Fälle, kaum zu führen.[29] Bemerkenswert ist an dieser Stelle noch, dass auch kein geringerer als der ehemalige Vorsitzende des 1. Senats Schäfer in einem im Jahre 2000 erschienenen wegweisenden Aufsatz, der sich ansonsten insgesamt wie ein Abgesang auf das Prinzip der absoluten Beweiskraft des Protokolls liest und der auch die argumentative Grundlage für das aktuelle Anliegen des 1. Senats ist, das Verbot der Rügeverkümmerung zu kippen,[30] sich dezidiert gegen eine Behandlung unwahrer Verfahrensrügen als prozessual unzulässig ausgesprochen hat. Schäfer sah "keine Möglichkeit, die

bewusste Wahrheitswidrigkeit der Rügebehauptung auch nur zu prüfen oder gar zu beweisen, denn das Gesetz lässt mit aller Eindeutigkeit in diesen Fällen gegen den Inhalt des Protokolls nur den Nachweis der Fälschung zu und nimmt es hin, dass das Revisionsgericht seine Entscheidung 'ohne Rücksicht auf die wirklichen Vorkommnisse in der Hauptverhandlung' zu treffen hat."[31] Es war Fahl, der in seiner 2004 erschienenen Habilitationsschrift diese geschlossene Meinungsfront durchbrach und als erster aus dem Schrifttum die unwahre Verfahrensrüge als Rechtsmissbrauch ansah.[32] Dieselbe Auffassung wird nunmehr auch in der Kommentierung von Meyer-Goßner vertreten, nachdem dort noch bis zur 47. Auflage von der Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge ausgegangen worden ist.[33]

3.c) Bereits einige Jahre früher, bevor mit den soeben genannten Autoren auch aus dem Schrifttum anders lautende Stimmen zu vernehmen waren, machten sich einige Senate des BGH erste Gedanken in diese Richtung. Für größeres Aufsehen sorgte hier ein im Urteil des 3. Senats erwähntes obiter dictum eben desselben Senats aus dem Jahre 1999. In seinem damaligen Beschluss zog der 3. Senat erstmals in Betracht, unwahre Verfahrensrügens zukünftig als rechtmissbräuchlich anzusehen und als prozessual unzulässig zu behandeln.[34] Dem folgten in den nächsten Jahren im Wesentlichen gleiche obiter dicta wiederum des 3. Senats[35] sowie des 5.[36] und des 2. Senats[37]. Insofern kommt das zu besprechende Urteil des 3. Senats nicht überraschend, und insofern liegt hier ein gutes Beispiel dafür vor, wie Gerichte ihre eigenen rechtspolitischen Vorstellungen zunächst im Rahmen von obiter dicta mitteilen und damit zugleich das Feld für die spätere Rechtsprechungsänderung bereiten.

II. Das Urteil des 3. Senats

1. Dem Urteil lag die Verfahrensrüge zugrunde, der Angeklagte sei in der Hauptverhandlung nicht verteidigt gewesen. Das Protokoll wies für den 126. (!) Verhandlungstag aus, dass von den beiden Verteidigerinnen des Angeklagten zunächst die eine und wenig später auch die andere Verteidigerin den Sitzungssaal verlassen hat, so dass der Angeklagte während der Vernehmung eines Zeugen unverteidigt gewesen ist. Ausweislich des Protokolls lag somit der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 i.V.m. § 140 I Nr. 1 StPO vor. Allerdings wurde, nachdem der Verfahrensverstoß gerügt worden ist, das Protokoll nachträglich dahingehend berichtigt, dass die zweite Verteidigerin während der Zeugenvernehmung doch anwesend gewesen sei. Auch die dem 3. Senat, der über die Revision zu entscheiden hatte, vorliegenden dienstlichen Erklärungen besagten übereinstimmend dasselbe.[38]

2. Blickt man auf frühere einschlägige revisionsgerichtliche Entscheidungen, gaben Fälle, in denen der Angeklagte in der tatrichterlichen Verhandlung zwei Verteidiger hatte und das Protokoll später (fälschlicherweise) für einen bestimmten Zeitraum die gleichzeitige Abwesenheit beider Verteidiger auswies, dem BGH bereits des Öfteren Anlass, sich mit den Wirkungen des § 274 StPO näher zu befassen.[39] Solche Fälle stellen neben der nicht im Protokoll vermerkten Verlesung des Anklagesatzes[40] oder der ausweislich des Protokolls erfolgten Augenscheineinnahme bzw. Verlesung einer Urkunde in Abwesenheit des nach § 247, 1 StPO für die Dauer einer Zeugenvernehmung entfernten Angeklagten[41] fast schon typische Konstellationen dar, die anscheinend für tatsächlich geschehene Verfahrensfehler oder auch nur für bloße Fehler bei der Abfassung des Protokolls besonders anfällig sind. Anlässlich solcher Konstellationen waren einige Senate des BGH - jeweils aus der Überzeugung heraus, dass lediglich eine fehlerhafte Protokollierung vorliege und der im Protokoll dokumentierte Verfahrensverstoß sich tatsächlich gar nicht zugetragen habe - bereits in der Vergangenheit wiederholt bestrebt, die wegen § 274 StPO an sich zwingende Urteilsaufhebung durch eine Relativierung der absoluten Beweiskraft des Protokolls zu vermeiden. Als wirksamstes "Korrektiv"[42] bzw. als wirksamste "Ersatzstrategie"[43] erwies sich dabei vor allem die auf das RG zurückgehende Rechtsprechung zum Wegfall der Beweiskraft bei offensichtlichen Mängeln des Protokolls,[44] die einen Weg in das Freibeweisverfahren eröffnet und somit die Aufklärung des "wirklichen" und - wie vom Revisionsgericht in den betreffenden Fällen vermutet - vom Protokollinhalt abweichenden Verfahrensgeschehens ermöglicht. Da diese "Ersatzstrategie" jedoch nicht in jedem Fall angewendet werden kann - das Protokoll muss dann zumindest einen (entfernten) Ansatzpunkt für die Herleitung eines offensicht-

lichen, zum Wegfall der absoluten Beweiskraft führenden Mangels bieten -, hat der BGH in den letzten Jahren immer auch nach anderen Möglichkeiten gesucht, um die einschneidenden Wirkungen des § 274 StPO einzugrenzen.

3. Der 3. Senat - damit ist wieder die Brücke zurück zum vorliegenden Urteil geschlagen - hat nun erstmalig den bislang nur angedachten und bislang noch nicht beschrittenen Weg gewählt, eine von ihm als bewusst wahrheitswidrig ausgemachte Verfahrensrüge als rechtsmissbräuchlich zu behandeln und damit als prozessual unzulässig zurückzuweisen. Dabei bekräftigt der 3. Senat zunächst einmal das, was seit der insoweit grundlegenden Entscheidung BGHSt 38, 111 zumindest in der Rechtsprechung anerkannt ist: nämlich die Existenz eines über die wenigen gesetzlich geregelten Fälle hinausgehenden allgemeinen Verbots des Rechtsmissbrauchs im Strafprozess. Ausgehend von der ebenfalls seit BGHSt 38, 111 geläufigen Standarddefinition, wonach ein Missbrauch prozessualer Rechte dann anzunehmen sei, "wenn ein Verfahrensbeteiligter die ihm durch die StPO eingeräumten Möglichkeiten zur Wahrung seiner verfahrensrechtlichen Belange benutzt, um gezielt verfahrensfremde oder verfahrenswidrige Zwecke zu verfolgen"[45], führt der Senat dafür, dass auch eine bewusst unwahre Verfahrensrüge einen Rechtsmissbrauch darstellt, keine nennenswerten neuen Gesichtspunkte an. Er greift vielmehr die für bzw. gegen die prozessuale Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge bereits ins Feld geführten und oben skizzierten Gründe auf und gewichtet diese lediglich neu. Die nachfolgende (kritische) Stellungnahme lässt einige ergänzende und flankierende Argumente außen vor und konzentriert sich auf die argumentativen Grundpfeiler des Urteils.

III. Kritik an der Argumentation des 3. Senats

1. Der kritischen Beleuchtung der Argumentation des 3. Senats sei zweierlei vorangeschickt: Es ist sicherlich nicht so, dass sich sachliche Gründe für eine Behandlung unwahrer Verfahrensrügen als rechtsmissbräuchlich und damit als prozessual unzulässig überhaupt nicht anführen ließen. Solche Gründe gibt es durchaus, so dass man der Argumentation des 3. Senats sicherlich nicht jedwede Stichhaltigkeit absprechen kann.[46] Wie gesehen, findet sich der Gedanke, dass eine unwahre Verfahrensrüge einen Rechtsmissbrauch darstellen kann, zumindest im Ansatz in den beiden historischen Grundsatzentscheidungen RGSt 43, 1 und OGHSt 1, 277. Weiterhin kann sich der Senat bei seiner Auffassung auch auf Vorüberlegungen und Vorarbeiten aus dem Schrifttum - hier ist vor allem die Habilitationsschrift von Fahl zu nennen - stützen. Was jedoch an dem Urteil des 3. Senats Kritik hervorruft und nicht unwidersprochen bleiben kann, ist zum einen die Einseitigkeit, mit welcher der Senat alle bislang vorgebrachten Argumente gewichtet, und zum anderen der Befund, dass er die gesetzgeberische Grundentscheidung, die in § 274 StPO ihren Niederschlag gefunden hat, vernachlässigt.[47]

2. Letzteres wird schon zu Beginn der Begründungskette des Senats deutlich, wenn der Senat seiner Argumentation die pauschale Aussage voranstellt, der Verteidiger verfolge mit einer unwahren Verfahrensrüge verfahrenswidrige Zwecke, weil eine Verfahrensrüge allein dazu diene, tatsächlich geschehene Verfahrensfehler zu korrigieren, und es diesem Zweck der Verfahrensrüge zuwiderlaufen würde, "wenn man einem Revisionsführer gestatten würde, durch die bewusst wahrheitswidrige Behauptung eines Verfahrensfehlers ein Urteil zu Fall zu bringen (…)."[48] Dieser Aussage kann man gerade wegen ihrer Pauschalität schwerlich etwas entgegen halten - wer würde auch schon behaupten wollen, dass eine Verfahrensrüge und ein Rechtsmittel dazu dienen, tatsächlich nicht geschehene Verfahrensfehler zu korrigieren? Gleichwohl muss sich diese Aussage mehrere Gegenfragen gefallen lassen: 1. Wie lässt sich das tatsächliche Geschehen in der tatrichterlichen Hauptverhandlung nachträglich, in der Regel mehrere Monate später, am besten aufklären? 2. Auf welche Weise darf das Verfahrensgeschehen kraft Gesetz überhaupt nur aufgeklärt werden? 3. Dürfen Erkenntnisse über das Verfahrensgeschehen, die nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form gewonnen wurden, überhaupt berücksichtigt werden? Auf all diese Fragen bieten das Gesetz selbst in Form des § 274 StPO sowie die Erwägungen des Gesetzgebers, die diesen zur Einführung jener Vorschrift veranlasst haben, eine hinreichende Antwort: (1.) Das Hauptverhandlungsprotokoll ist zuerst einmal nur eines von mehreren Beweismitteln, mit denen sich das Verfahrensgeschehen später feststellen lässt. Neben dem Protokoll kommen insbesondere nachträgliche Bekundungen der an der Hauptverhandlung mitwirkenden Richter, des Protokollführers oder des Vertreters der Staatsanwaltschaft ebenso in Betracht wie deren eigene schriftliche Aufzeichnungen über den Verfahrenshergang; diese weiteren Beweismittel haben ja auch im vorliegenden Fall eine entscheidende Rolle gespielt und dem 3. Senat zu der Überzeugung verholfen, dass es sich um eine unwahre Verfahrensrüge handele. Der Gesetzgeber hat sich mit diesen verschiedenen Beweismitteln ausführlich auseinander gesetzt, ebenso wie mit der Frage, ob es ein Nebeneinander der Beweismittel geben oder das Protokoll insoweit eine exklusive Stellung einnehmen solle.[49]

Diese Frage ist seinerzeit auch deswegen intensiv diskutiert worden, weil sich unter den der StPO vorhergehenden partikularstaatlichen Verfahrensordnungen sowohl die eine als auch die andere Variante fand.[50] Mit dem § 274 StPO hat sich der Gesetzgeber für das Protokoll als ausschließliches Beweismittel entschieden, vor allem deshalb, weil er nicht genug Vertrauen in nachträgliche Bekundungen der mitwirkenden Richter und der Verfahrensbeteiligten gehabt hat.[51] Damit hat der Gesetzgeber auch bewusst die Entscheidung verbunden, dass das Geschehen bzw. Nichtgeschehen von bestimmten Verfahrensvorgängen nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (2.) und dass anderweitige Erkenntnisse über das Verfahrensgeschehen den Protokollinhalt nicht widerlegen können (3.). Der 3. Senat hätte daher im vorliegenden Fall die nachträglichen Erklärungen der in der tatrichterlichen Verhandlung mitwirkenden Richter sowie des Bundesanwalts, die er in seinem Urteil ausführlich wiedergibt und auf die er sich maßgeblich beruft, schlicht nicht berücksichtigen dürfen.

3. Es mag zwar jene offensichtlichen Fälle geben, die der Senat stets vor Augen hat und in denen in der Tat sehr viel oder auch alles dafür spricht, dass sich der aus dem Protokoll ersichtliche Verfahrensverstoß tatsächlich zugetragen hat - den vorliegenden Fall kann man wohl dazu zählen. Es mag weiterhin auch sein, dass sich gerade angesichts solcher offensichtlichen Fälle für viele die Unzulänglichkeit der Regelung des § 274 StPO zeigt. Jedoch setzt auch die Annahme, dass ein offensichtlicher Fall vorliegt, die freibeweisliche Aufklärung des Verfahrensgeschehens voraus. Eben dies verwehrt aber die Regelung des § 274 StPO,[52] und es ist gar nicht so lange her, dass die Rechtsprechung dies in Anerkennung der Gewaltenteilung auch akzeptiert hat, wie das folgende Zitat aus einer Entscheidung eben des 3. Senats belegt: "Auch wenn dieses Ergebnis (Anm.: Dass also ein durch das Protokoll ausgewiesener Verfahrensverstoß als geschehen gilt) der wahren Sachlage widersprechen sollte, muss es als Konsequenz der dem § 274 StPO zugrunde liegenden gesetzgeberischen Entscheidung hingenommen werden."[53] Diese Akzeptanz der gesetzgeberischen Entscheidung weist das vorliegende Urteil des 3. Senats aber nicht mehr aus. Um diese Erkenntnis kommt man nicht herum, auch wenn man sicherlich Verständnis für das Unbehagen der Revisionsgerichte, das diese im Umgang mit der Regelung des § 274 StPO beschleicht, aufbringen kann. Dass sich der 3. Senat jedoch über die eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers hinwegsetzt,[54] ist der entscheidende Schwachpunkt, der auch die weitere Argumentation des 3. Senats überschattet.

4. Dies gilt unmittelbar für eines der Folgeargumente des 3. Senats, wonach die Beweiskraft des Protokolls bei Anwendung des Missbrauchsverbots nicht ausgehöhlt werde, weil diese auch in Zukunft zumeist ihre Bedeutung behalten und die Berufung auf sie nur in den seltenen Fällen verwehrt werde, "in denen die objektive Unwahrheit so klar zu Tage tritt, dass sie auch dem Verteidiger schlechterdings nicht verborgen geblieben sein kann."[55] Zum einen setzt jedoch schon die Feststellung der objektiven Unwahrheit des - gleichwohl durch das Protokoll belegten - Rügevortrags die von § 274 StPO verwehrte freibeweisliche Aufklärung des Verfahrensgeschehens voraus, so dass allein dadurch § 274 StPO ausgehöhlt wird.[56] Und zum anderen lässt sich eine einigermaßen klare Grenze zwischen den vom 3. Senat ins Auge gefassten eindeutigen Fällen und allen übrigen Fällen wohl kaum ziehen. Zudem steht zu befürchten, dass diese Grenze - sofern sie sich überhaupt ziehen lässt - in Zukunft weiter verschoben wird, so dass nach und nach immer mehr Verfahrensrügen dem Missbrauchsverbot unterfallen und die Aushöhlung des § 274 StPO weiter voranschreitet.[57]

5. Die Begründung, mit welcher der Senat den von vielen Befürwortern der prozessualen Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge angeführten prozessualen Wahrheitsbegriff[58] verwirft, hat dagegen auf den ersten Blick einiges für sich. Mit Bezug auf eine in der Vergangenheit vertretene Gegenmeinung führt der Senat aus, die Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO verändere nicht die Tatsachen, mache aus der Unwahrheit keine Wahrheit. Die Vorschrift enthalte vielmehr eine Beweisregel. Die Ebenen der Behauptung eines Verfahrensfehlers und seines Beweises dürften nicht vermengt, sondern müssten streng getrennt werden. Eine zulässige Verfahrensrüge erfordere zunächst die bestimmte Behauptung eines Verfahrensfehlers, erst danach stelle sich die Frage des Beweises. Deshalb besage die Beweisbarkeit einer unwahren Behauptung nichts über deren Zulässigkeit.[59] Dieser in der Vergangenheit von Dallinger und Dünnebier[60] vertretenen Auffassung ist zunächst einmal zuzugestehen, dass § 274 StPO in der Tat nur eine Beweisre-

gel ist und man durchaus bezweifeln kann, ob durch diese Vorschrift eine eigene prozessuale Wahrheit geschaffen wird.[61] Dennoch ergibt sich daraus - unabhängig von der Frage, ob sich die Differenzierung zwischen Beweis- und Behauptungsebene letztlich überhaupt durchhalten lässt[62] - nicht die prozessuale Unzulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge. Dabei muss man sich allerdings noch einmal vergegenwärtigen, dass der prozessuale Wahrheitsbegriff von den Vertretern der berufsrechtlichen Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge zu dem Zweck eingeführt worden ist, um darzulegen, dass zwischen anwaltlicher Wahrheitspflicht und dem Erheben einer unwahren Verfahrensrüge kein Widerspruch besteht.[63] Der prozessuale Wahrheitsbegriff ist also ein Kind der Debatte um die berufsrechtliche Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge, auch wenn er bisweilen auch für deren prozessuale Zulässigkeit angeführt wird. Jedenfalls haben die Autoren, die in der Vergangenheit den prozessualen Wahrheitsbegriff verworfen haben, stets nur die berufsrechtliche Zulässigkeit im Auge gehabt. Auf diese Weise haben sie zu begründen versucht, dass eine unwahre Verfahrensrüge einen Verstoß gegen die anwaltliche Wahrheitspflicht und damit gegen das anwaltliche Berufsrecht darstellt - eben weil § 274 StPO nicht mehr als eine Beweisregel sei und nichts darüber aussage, ob der Anwalt die Behauptung, welche die gesetzliche Beweisregel auslöse, überhaupt aufstellen dürfe.[64] Um die prozessuale Zulässigkeit ging es in der damaligen Diskussion gar nicht, und die vom Senat in Bezug genommenen Dallinger und Dünnebier haben auch an keiner Stelle gesagt, dass die unwahre Verfahrensrüge auch prozessual unzulässig sei. Vielmehr stand für diejenigen, die das Erheben einer unwahren Verfahrensrüge als berufsrechtlichen Verstoß ansahen, die prozessuale Zulässigkeit außer Frage, wie es etwa Dünnebier ausdrücklich gesagt hat: "Die Standeswidrigkeit berührt indessen nicht die prozessuale Wirksamkeit der Rüge."[65]

6. Weiterhin hat die Anwendung des Missbrauchsverbots auf unwahre Verfahrensrüge wohl doch eine zu Lasten des Angeklagten gehende Unausgewogenheit zur Folge. Diese Unausgewogenheit bei der Anwendung des § 274 StPO war bislang eines der Hauptargumente gegen die Behandlung unwahrer Verfahrensrügen als rechtsmissbräuchlich und damit als prozessual unzulässig. Der Revisionsführer müsse es ja auch hinnehmen, dass tatsächlich geschehene Verfahrensfehler ungerügt bleiben, wenn sie nicht im Protokoll dokumentiert seien. Umgekehrt müsse es ihm eben aus Gründen der Ausgewogenheit auch erlaubt sein, sich auf einen unzutreffenden Protokollinhalt zu stützen.[66] Der 3. Senat versucht nun, diesen zentralen Einwand durch zwei Gegenargumente zu zerstreuen: Erstens werde die Berufung auf ein objektiv unrichtiges Protokoll in den meisten Fällen auch weiterhin möglich sein und dem Missbrauchsverbot nur bei einer bewusst wahrheitswidrigen Rüge unterfallen.[67] Zweitens bestehe die beklagte Unausgewogenheit gar nicht. Denn einer bewusst "unwahren Protokollrüge" entspreche nicht ein zu Lasten des Angeklagten lediglich irrtümliches, sondern ein bewusst wahrheitswidriges Protokoll, bei dem die Unterzeichner den Nachweis eines tatsächlich ereigneten Verfahrensfehlers durch entsprechende Formulierung des Protokolls bewusst vereitelten. Überdies bestehe die Pflicht zur Berichtigung eines unrichtigen Protokolls, auf die die Verfahrensbeteiligten hinwirken könnten, und es ergebe sich für die Unterzeichner eines bewusst unrichtigen Protokolls eine Strafbarkeit nach § 348 I StGB.[68]

Das erste Argument des Senats setzt freilich voraus, dass es auch in Zukunft für den Revisionsführer bzw. die Verteidigung in ähnlichem Maße wie bislang möglich sein wird, sich auf ein objektiv unrichtiges Protokoll zu berufen. Das darf indes bezweifelt werden,[69] denn mit seinem Urteil hat der 3. Senat eine Tür aufgestoßen, und man kann sich vorstellen, wie die Revisionsgerichte zukünftig in vielen Fällen vorgehen könnten: Sobald das Revisionsgericht die Vermutung hegt, das Protokoll gebe das tatsächliche Verfahrensgeschehen nicht zutreffend wieder, holt es die üblichen dienstlichen Stellungnahmen ein, aus denen sich oftmals ergeben wird, dass der gerügte Verfahrensverstoß sich gar nicht zugetragen und im Gegenteil alles seinen verfahrensgemäßen Gang genommen habe. Der für den Vorwurf der Rechtsmissbräuchlichkeit noch erforderliche Nachweis der Kenntnis des Verteidigers von der Wahrheitswidrigkeit seines Vortrags stellt dann auch keine große Hürde mehr dar. Denn - und daraus ergibt sich eine zusätzliche Verschärfung - der 3. Senat stellt in seinem Urteil ausdrücklich klar, dass die entsprechende Kenntnis des Verteidigers (auch des in der tatrichterlichen Verhandlung nicht anwesenden Revisionsverteidigers!) nicht unbedingt schon im Zeitpunkt der Rügeerhebung vorliegen müsse, es vielmehr ausreiche, "wenn das sichere Wissen um die Unwahrheit später erworben" werde. Es sei kein Grund ersichtlich, "einen erst im Laufe des Revisionsverfahrens entstehenden Rechtsmissbrauch folgenlos hinzunehmen."[70] Das heißt

nichts anderes, als dass man dem Verteidiger (nochmals: auch dem Revisionsverteidiger) das Wissen von der Unwahrheit des Rügevortrags unterstellt, wenn dieser von den dienstlichen Stellungnahmen, die den Protokollinhalt widerlegen, erfährt.[71] Wenn der Verteidiger seine auf das Protokoll gestützte, bislang nur objektiv unwahre Verfahrensrüge weiter aufrechterhält, wird diese nunmehr bewusst unwahr und damit rechtsmissbräuchlich. Genauso hat der 3. Senats übrigens auch im vorliegenden Urteil das Wissen der Revisionsverteidigerin um die Unwahrheit der Rügebehauptung nachgewiesen.[72] Mit der Ausgewogenheit bei der Anwendung des § 274 StPO hätte es angesichts dessen jedenfalls sein Ende, was dann auch zum zweiten Argument des Senats überleitet:

Zunächst einmal findet sich hier der altbekannte Verweis auf die Möglichkeit, einen Antrag auf Berichtigung des Protokolls zu stellen, so dass die Verteidigung eine Handhabe dagegen hat, dass tatsächlich geschehene, im Protokoll jedoch fälschlicherweise nicht dokumentierte Verfahrensverstöße folgenlos bleiben, weil sie im Revisionsverfahren nicht bewiesen werden können. Dieser Verweis, der implizieren soll, dass sich aus § 274 StPO keine nennenswerten Nachteile und schon gar nicht das Recht zur unwahren Verfahrensrüge ergeben,[73] hat indes nur dann seine Berechtigung, wenn man den Protokollberichtigungsantrag als effektive Option der Verteidigung ansieht. Gerade dies ist jedoch sehr fraglich, weil eine Protokollberichtigung (nach bisheriger Rechtslage) stets eine übereinstimmende Erinnerung der beiden Urkundspersonen (Vorsitzender und Protokollführer) voraussetzt[74] und der Antragsteller hier kaum Einflussmöglichkeiten hat. Nicht ohne Grund wird ein Protokollberichtigungsantrag von Praktikern als ein Unterfangen mit recht geringen Erfolgsaussichten bezeichnet.[75]

Scharfsinniger ist da schon das weitere Argument des 3. Senats, Spiegelbild der bewusst unwahren Verfahrensrüge sei nicht der Fall, dass das Protokoll objektiv, also lediglich irrtümlich unrichtig sei und ein tatsächlich geschehener Verfahrensverstoß nicht bewiesen werden könne, sondern allein der Fall, dass das Protokoll von den Urkundspersonen bewusst inhaltlich falsch erstellt werde. Ebenso wie Letzteres bzw. wie das spätere Unterlassen der Berichtigung eines als unrichtig erkannten Protokolls aber nicht erlaubt und nach § 348 I StGB gar strafbar sei, sei, so ist der Senat hier zu verstehen, auch die bewusst unwahre Verfahrensrüge nicht erlaubt. Für diese Schlussfolgerung mag Einiges sprechen, man wird jedoch eines zu bedenken haben: Während es auf der einen Seite wohl kaum möglich sein dürfte, den Urkundspersonen nachzuweisen, dass sie das Protokoll bewusst falsch abgefasst haben bzw. dass sie später in sicherer Kenntnis der Unrichtigkeit des Protokolls dessen Berichtigung unterlassen, wird es den Revisionsgerichten wohl ungleich leichter fallen, dem Verteidiger die Kenntnis von der Unwahrheit seines Rügevorbringens nachzuweisen oder zu unterstellen - das vorliegende Urteil ist ein Beleg hierfür. Zu der vom 3. Senat negierten Unausgewogenheit käme es dann unweigerlich doch.

IV. Einige Bemerkungen zur Figur des Rechtsmissbrauchs

1. Die Besprechung des vorliegenden Urteils kann sich nicht in einer argumentativen Auseinandersetzung mit einzelnen Teilen des Urteils erschöpfen, sondern macht einige weitergehende Bemerkungen speziell zur Figur des Rechtsmissbrauchs im Strafprozess erforderlich. Diese sollen nicht die dogmatische Herleitung und Begründung eines allgemeinen Missbrauchsverbots betreffen; dazu ist in den letzten Jahren in einer großen Zahl von Publikationen Vieles gesagt worden.[76] Man kann hier trotz beachtlicher Einwände[77] mit der Rechtsprechung (BGHSt 38, 111) und der wohl überwiegenden Auffassung davon ausgehen, dass ein allgemeines Missbrauchsverbot auch im Strafprozess gilt,[78] denn nicht die Existenz eines allgemeinen Missbrauchsverbots ist das Problem, sondern dessen Anwendung in der Praxis. Die Gerichte, die ja ausgehend von der herkömmlichen Definition von Rechtsmissbrauch darüber zu befinden haben, ob ein Recht zu verfahrensfremden bzw. verfahrenswidrigen Zwecken eingesetzt wird, halten mit dem allgemeinen Missbrauchsverbot ein mächtiges Instrument in der Hand. Und insoweit besteht die grundsätzliche Befürchtung, dass bei der Grenzziehung zwischen noch erlaubter Rechtsausübung und der Verfolgung verfahrensfremder bzw. verfahrenswidriger Zwecke und damit einem

Rechtsmissbrauch die Entscheidungen des Gesetzgebers - auf die es ja eigentlich allein ankommt - etwa durch die Vorstellung des Gerichts, welche Richtung ein Prozess nehmen bzw. welches Ergebnis er haben soll, überlagert wird.[79] Das allgemeine Missbrauchsverbot ist nicht davor gefeit, als eine Art Allroundwaffe instrumentalisiert zu werden - sei es zur Durchsetzung besagter Vorstellungen, sei es dazu, den Unmut über eine Verteidigung, die gegen das anvisierte Ergebnis des Prozesses agiert, auszudrücken und dieser deutlich die Grenzen aufzuzeigen.[80] Der 3. Senat nimmt diese vielfach geäußerte Befürchtung vor einem "Missbrauch des Missbrauchsverbots" durch die Gerichte, die seinerzeit auch ja auch ein Hauptgrund war, von der gesetzlichen Regelung einer allgemeinen Missbrauchsklausel abzusehen,[81] zwar auf, schenkt ihr aber allenfalls am Rande Beachtung. Die Gerichte seien, so der 3. Senat, im Umgang mit dem Missbrauchsverbot ausgesprochen zurückhaltend, was durch die sehr seltenen Entscheidungen, in denen davon Gebrauch gemacht worden sei, belegt werde.[82]

2. Einige Passagen des vorliegenden Urteils und weitere Entscheidungen aus jüngster Zeit lassen indes vermuten, dass die Gerichte im Begriff sind, diese Zurückhaltung aufzugeben. Unverkennbar ist das Urteil in einem gereizten Klima entstanden, und offensichtlich hat sich beim 3. Senat ein gehöriges Maß an Verärgerung über zunächst bestimmte einzelne Verteidigungsaktivitäten und dann vielleicht auch über die Verteidigung als solche angestaut. In Teilen der Rechtsprechung besteht anscheinend die Einschätzung, dass sich die Verteidigung "dem traditionellen Ziel des Strafprozesses, der Wahrheitsermittlung in einem prozessordnungsgemäßen Verfahren nicht mehr verpflichtet fühlt (…)" mit der Folge, "dass die Strafjustiz auf Dauer an ihre Grenzen stößt." Solche Unmutsäußerungen[83] finden in zwei jüngeren Beschlüssen gerade des 3. Senats.[84] Und man erkennt, dass das vorliegende Urteil - auch wenn hier eine ähnliche Formulierung nicht ausdrücklich auftaucht - von demselben Unmut getragen ist, mit dem einzigen Unterschied, dass der 3. Senat in jenen beiden Fällen noch von einer "formal korrekt" geführten Verteidigung ausgegangen ist, während er im vorliegenden Fall die Grenze zum Rechtsmissbrauch eindeutig für überschritten hält. Es soll dabei nun nicht in Abrede gestellt werden, dass der Unmut der Rechtsprechung in einzelnen Fällen nicht auch seine Berechtigung hat und durch bestimmte Verteidigeraktivitäten veranlasst ist. Diesen Eindruck kann man jedenfalls angesichts der Sachverhalte gewinnen, die in den beiden besagten Beschlüssen des 3. Senats mitgeteilt sind[85] - bei aller Vorsicht, die geboten ist, wenn man die näheren Umstände der jeweiligen Verfahren nicht kennt und auf die Sachverhaltsschilderung in den Entscheidungen verwiesen ist. Letztlich aber dürfte es sich bei den Fällen, an denen sich der Unmut der Gerichte entzündet, immer noch um krasse Einzelfälle handeln, die nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass Verteidigung ganz überwiegend sachlich und auf der Grundlage des Rechts geführt wird. Das Urteil des 3. Senats allerdings, so merkt Widmaier kritisch an, erwecke "den Eindruck eines von lügenhaften Verfahrensrügen bedrängten Revisionsgerichts, dem nur noch radikale Mittel helfen können."[86] Wenn dieser Eindruck, der sich in der Tat einstellt, beabsichtigt gewesen ist, so ist das eine zu einseitige Darstellung des Verfahrensalltags. Für die Problematik der unwahren Verfahrensrügen kann von hier aus nicht eingeschätzt werden, wie oft diese in der Praxis vorkommen. Ob es sich dabei um eine ernstzunehmende Gefahr für die Strafjustiz und um, wie es von Fahl behauptet worden ist, einen "massenhaft auftretenden Missbrauch"[87] handelt, darf indes bezweifelt werden. Fahl bezieht sich insoweit, nebenbei bemerkt, auf eine Anmerkung von Niethammer aus dem Jahre 1949. Niethammer, dem man laut Fahl Glauben schenken dürfe, hat dort in Bezug auf die Entscheidung RGSt 70, 241 aus dem Jahre 1936, mit der das bis dahin geltende Verbot der Rügeverkümmerung gekippt wurde, gesagt, maßgebend für diese Entscheidungen seien Erfahrungen gewesen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten angesammelt hätten. Die starre Gebundenheit an den zur Zeit der Erhebung einer Verfahrensbeschwerde gegebenen Inhalt der Sitzungsniederschrift sei von Beschwerdeführern immer wieder missbraucht worden.[88] Liest man jedoch die aus der nationalsozialistischen Zeit stammende Entscheidung RGSt 70, 241, drängt sich der Eindruck auf, maßgebend für die damalige Aufgabe des Verbots der Rügeverkümmerung ist in erster Linie das Bestreben der NS-Strafjustiz gewesen, rechtsstaatliche Einrichtungen aus dem Strafverfahren zu verbannen und mit dem Angeklagten möglichst kurzen Prozess zu machen.[89] Nicht ohne Grund distanziert sich etwa der 1. Senat des BGH in seinem aktuellen Vorlagebeschluss zum Verbot der

Rügeverkümmerung eindeutig von RGSt 70, 241.[90] Niethammer aber hat jene reichsgerichtliche Entscheidung noch mit den Worten verteidigt, sie sei "allein durch sorgfältige, auf eine gesunde Fortentwicklung des Rechts bedachte Erwägung" zustande gekommen.[91] Insofern erscheint Fahls Bezug auf Niethammer als äußerst fragwürdig, zumal Niethammer seinerzeit die nationalsozialistische Strafjustiz gepriesen und auch nach 1945 in Schutz genommen hat.[92] Und insofern liegt hier ein Beispiel dafür vor, wie einseitig zum Teil in der Missbrauchsdebatte argumentiert wird und welche zweifelhaften Gewährsleute man dabei anführt.

3. Hält man das Missbrauchsverbot gleichwohl für unverzichtbar, so muss seine Anwendung auf die seltenen Fälle beschränkt sein, in denen sich die Durchführbarkeit des Strafverfahrens andernfalls nicht mehr sicherstellen lässt. Was unwahre Verfahrensrügen angeht, kam die Revisionsrechtsprechung bislang stets ohne den gravierenden Vorwurf des Rechtsmissbrauchs aus; auch Revisionsrichter sahen die unwahre Verfahrensrüge als Folge des strengen Formalismus des Revisionsrechts an, der von der Verteidigung ausgenutzt werden dürfe, weil er in vielen anderen Fällen auch zu deren Lasten gehen könne.[93] Dass diese ausgewogene Sichtweise nun nicht mehr gelten soll, liegt wohl weniger darin begründet, dass sich die Revisionsgerichte unwahrer Verfahrensrügen nicht mehr erwehren können und dass die Funktionsfähigkeit der Strafjustiz auf dem Spiel steht, sondern beruht wohl mehr auf einer von Empörung und Unmut geprägten Haltung. Empörung und Unmut sind jedoch keine hinreichende Rechtfertigung für die Anwendung des Missbrauchsverbots und für damit verbundene Vorwürfe an Verteidiger.[94]

4. Manches an dem Urteil des 3. Senats erklärt sich aber auch aus den konkreten Umständen des zugrunde liegenden Strafverfahrens. Darin ging es um Sprengstoffanschläge, welche die Gruppierung "Revolutionäre Zellen" in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts verübt hatte.[95] Die Hauptverhandlung vor dem Tatgericht zog sich über einige Jahre hin und hatte zu dem Zeitpunkt der Zeugenvernehmung, bei der der Angeklagte laut Protokoll unverteidigt gewesen war, bereits den 126. Verhandlungstag erreicht. Angesichts dessen und der nachträglich eingeholten eindeutigen dienstlichen Erklärungen kam es für den 3. Senat offenbar schlicht nicht in Frage, das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung zurückzuverweisen.[96] In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung zum vorliegenden Fall wird der Richter am BGH Winkler, Mitglied des 3. Senats, mit den folgenden Worten zitiert: "Wir sitzen hier als Gericht und sollen sehenden Auges dem Unrecht zum Sieg verhelfen?"[97] Ersichtlich tritt hinter dieser rhetorischen Frage das auch in vielen anderen Fällen erkennbare Bestreben hervor, die durch den Formalismus des Revisionsrechts gezogenen Grenzen zu durchbrechen und auf möglichst schnellem Wege materielle Gerechtigkeit herzustellen. Die heute die Praxis der Strafjustiz dominierenden Anliegen der Ressourceneinsparung und auch des Opferschutzes mögen ein Übriges tun, um dieses Bestreben zu intensivieren. Man mag dieses Bestreben aus Sicht der Revisionsrichter für nachvollziehbar halten - auch und gerade angesichts des Strafverfahrens hier. Man muss sich aber im Klaren darüber sein, dass gerade dieses Bestreben dazu verleiten kann, (vorschnell und unberechtigt) den Vorwurf des Rechtsmissbrauchs gegen denjenigen (oftmals: den Verteidiger) zu erheben, der sich dem angestrebten Ergebnis in den Weg stellt, weil er eine eigene Sichtweise und eine vom Gericht abweichende Vorstellung von Gerechtigkeit hat.[98] Das Missbrauchsverbot ist aber kaum dafür da, um materielle Gerechtigkeit im Einzelfall durchzusetzen, vor allem dann nicht, wenn der Gesetzgeber, wie beim § 274 StPO, der Rechtssicherheit und -klarheit den Vorrang vor der materiell richtigen Entscheidung im Einzelfall eingeräumt hat.

V. Konsequenzen des Urteils und Ausblick

1. Das Urteil des 3. Senats zieht eine erhebliche Relativierung der absoluten Beweiskraft des Protokolls nach sich; diese steht nunmehr stets unter dem Vorbehalt, dass nicht ein - wie auch immer gearteter - offensichtlicher Fall vorliegt, bei dem das Revisionsgericht von der Unrichtigkeit des Protokolls ausgeht und auch das entsprechende Wissen des Verteidigers vermutet. Nimmt man den aktuellen Vorlagebeschluss des 1. Senats zur Beachtlichkeit nachträglicher Protokollberichtigungen hinzu und geht man davon aus - wofür nach den Stellungnahmen der übrigen Senate auf den Anfragebeschluss des 1. Senats Vieles spricht[99] -, dass der Große Senat bald das Verbot der Rügeverkümmerung aufgibt, kann man sich fragen, was von der absoluten Beweiskraft des Protokolls noch übrig bleibt. Welche von beiden Methoden, die Behandlung unwahrer Verfahrensrüge als rechtsmissbräuchlich oder die Berücksichtigung nachträglicher Protokollberichtigungen im Revisionsverfahren, sich für das Revisionsrecht nun nachhaltiger auswirken wird,

lässt sich schwer abschätzen.[100] Für die Verteidigung haben jedenfalls beide Methoden, die Wirkungen der absoluten Beweiskraft des Protokolls einzuschränken, gravierende Einschnitte zur Folge; auf das Protokoll gestützte Verfahrensrügen werden es in der Zukunft ungleich schwerer haben. Die Rechtsprechung dagegen scheint das erreicht zu haben, was ihr schon seit Längerem ein Anliegen gewesen ist: die Beweiskraft des Protokolls flexibler zu handhaben.

2. Wagt man eine Prognose, so werden nachträgliche Protokollberichtigungen und deren Berücksichtigung im Revisionsverfahren (sofern der Große Senat dies zulassen wird) in der Praxis wohl eine größere Bedeutung haben als die Behandlung unwahrer Verfahrensrügen als rechtsmissbräuchlich. Um im Revisionsverfahren das im Protokoll nicht zutreffend wiedergegebene "wahre Verfahrensgeschehen" zugrunde legen zu können, hat der erste Weg gegenüber dem zweiten zwei entscheidende Vorteile: Zum einen muss dem Verteidiger nicht die für den Missbrauchsvorwurf erforderliche Kenntnis von der Unwahrheit seiner Rügebehauptung nachgewiesen werden - es genügt ja, dass die Urkundspersonen nachträglich übereinstimmend bekunden, dass sich ein bestimmter Verfahrensvorgang tatsächlich anders als im Protokoll dokumentiert zugetragen hat. Zum anderen sind nachträgliche Protokollberichtigungen von vornherein nicht nur auf jene offensichtlichen Fälle beschränkt, auf die der 3. Senat das Missbrauchsverbot anwenden will. Dass der 3. Senat trotz der wohl bevorstehenden Änderung der Rechtsprechung zur Beachtlichkeit nachträglicher rügevernichtender Protokollberichtigungen den Weg über das Missbrauchsverbot gewählt hat, lässt sich wohl damit erklären, dass er gerade in dem zugrunde liegenden Verfahren das Urteil auf keinen Fall aufheben und die Sache zurückverweisen wollte[101] sowie damit, dass ihm, wie es Mikolajczyk in einer ersten Anmerkung zu dem Urteil gesagt hat, "schlicht und einfach der Geduldsfaden mit dieser Art der (Revisions-) Verteidigungspraxis gerissen" ist.[102]

3. Die Verteidigung wird sich jedenfalls auch auf das Urteil des 3. Senats und die sich daraus ergebenden Konsequenzen einstellen müssen. Fraglos verschärft und verschlechtert sich die Situation aus Sicht der Verteidigung. Hat man bislang schon von einer Konfliktsituation im Zusammenhang mit dem Erheben einer unwahren Verfahrensrüge gesprochen,[103] so konnte sich die Verteidigung auf eines noch stets verlassen: dass die absolute Beweiskraft des Protokolls, sofern das Revisionsgericht nicht einen offensichtlichen und zum Wegfall der Beweiskraft führenden Mangel des Protokolls angenommen hat, im Revisionsverfahren Bestand hat. Kritischen Nachfragen der Revisionsrichter sowie den dem Protokollinhalt und der Rügebehauptung entgegen stehenden dienstlichen Erklärungen konnte die Verteidigung damit beikommen, "die unberührt bleibende Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls verfahrensrechtlich in Erinnerung zu rufen."[104] Das Erheben einer unwahren Verfahrensrüge war für den Verteidiger bislang kein rechtliches Problem, sondern - bedingt durch die Rechtsprechung zur Unbeachtlichkeit der bloßen Protokollrüge - ein berufsethisches. Dies hat sich mit dem Urteil des 3. Senats geändert; nun kommt auch eine rechtliche Unsicherheit hinzu. Der Verteidiger muss jetzt in Rechnung stellen, dass das Revisionsgericht unter Umständen einen offensichtlichen Fall annimmt, in dem, so der 3. Senat, "die objektive Unrichtigkeit (Anm.: des Protokolls) so klar zu Tage tritt, dass sie auch dem Verteidiger schlechterdings nicht verborgen geblieben sein kann"[105], und er sich damit den Vorwurf des Rechtsmissbrauchs einhandelt. Wann es hierzu kommen kann, lässt sich im Voraus aus Verteidigersicht wohl nur sehr schwer einschätzen. Zwar zeigt ein Blick auf einige Entscheidungen der letzten Jahre, dass die Senate oftmals in den gleichen Konstellationen eine (bewusst) unwahre Verfahrensrüge vermutet haben. Neben der auch im vorliegenden Urteil einschlägigen Konstellation der gleichzeitigen Abwesenheit der Verteidiger des Angeklagten während einer auch für die Verteidigung wichtigen Beweiserhebung ist dies vor allem die unterbliebene Verlesung des Anklagesatzes gewesen.[106] Man wird jedoch nicht darauf vertrauen dürfen, dass es bei diesen wenigen Konstellationen bleiben wird.

4. Abschließend muss daher gesagt werden: Zwar hat der 3. Senat in der konkreten Sache, in der er zu entscheiden hatte, materielle Gerechtigkeit durchgesetzt und darüber hinaus seinen allgemeinen Unmut über eine Verteidigung geäußert, die sich (angeblich) nicht mehr dem Recht und den Zielen des Strafprozesses verpflichtet fühlt.

Zum sachlichen und unaufgeregten Umgang zwischen Gericht und der Verteidigung hat das Urteil jedoch kaum beitragen, es hat im Gegenteil wohl eher die Fronten verhärtet. Rechtsklarheit ist durch das Urteil ebenfalls nicht gewonnen, weil die an sich eindeutige Regelung des § 274 StPO erheblich relativiert wird. Obendrein wird das Revisionshandwerk für die Verteidigung weiter erschwert.


[1] BGH HRRS 2006 Nr. 713 = NJW 2006, 3579 = NStZ 2007, 49 = StV 2006, 627.

[2] Diese sind überwiegend ablehnend; siehe Gaede, StraFo 2007, S. 29 ff.; Hollaender, JR 2007, S. 6 ff.; Jahn, JuS 2007, S. 91 ff.; Kudlich, HRRS 2007, S. 9 ff.; Mikolajczyk, ZIS-online 2006, S. 541 ff; Widmaier, NJW 2006, S. 3587 f. Ausdrückliche Zustimmung erhält das Urteil hingegen von Fahl, JR 2007, S. 34 ff.

[3] BGH HRRS Nr. 858 = NJW 2006, S. 3582 ff. Siehe dazu den Beitrag von Gaede, HRRS 2006, S. 409 ff.

[4] Zu den Wirkungen des § 274 StPO siehe ausführlich mit Beispielen Löwe/Rosenberg-Gollwitzer (25. Aufl.), § 274 Rn. 18-20 sowie Systematischer Kommentar-Schlüchter/Frister (Stand: Mai 2005), § 274 Rn. 13 f.

[5] Die Problematik der unwahren Verfahrensrüge bei Revisionen der Staatsanwaltschaft beleuchten aber Detter, StraFo 2004, S. 329, 333 und Park, StraFo 2004, S.335, 337.

[6] Vgl. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl., Rn. 843 sowie Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl., Rn. 240.

[7] Dahs (Fn. 6), Rn. 919.

[8] BGHSt 7, 162, 164. Siehe dazu auch Fahl, Rechtmissbrauch im Strafprozess, 2004, S. 665 f., der insoweit von einer "abschreckenden Funktion" spricht.

[9] Presseerklärung "Unwahre Verfahrensrügen" der Strafverteidigervereinigungen vom 18.8.2006; im Internet abrufbar unter: www.strafverteidigervereinigungen.org/Verfahrensr%FCgen.htm .

[10] In der Fachliteratur wird dies als Ausweg aus der Konfliktsituation empfohlen; siehe Dahs (Fn. 6), Rn. 920 sowie Sarstedt/Hamm (Fn. 6), Rn. 293. Diesen Ausweg hat der 3. Senat mit seinem Urteil nun ebenfalls verbaut; dazu noch unten III.6.

[11] Siehe dazu Krawczyk, HRRS 2006, S. 344, 345 f. sowie zum aktuellen Vorlagebeschluss des 1. Senats in dieser Sache Gaede (Fn. 3).

[12] So Cüppers, NJW 1950, S. 930, 931.

[13] RGSt 43, 1, 6.

[14] Diese Begründung geht maßgeblich auf Kalsbach, Standesrecht des Rechtsanwalts, 1956, S 305 ff. zurück; siehe auch zuvor schon ders. in AnwBl. 1950/51, S. 110, 111. Eine ganz ähnliche Argumentation findet sich auch bei Schmid, DRpfl. 1962, S. 301, 304 und bei Park (Fn. 5), S. 338.

[15] Dallinger, NJW 1951, S. 256, 257; ähnlich auch Dahs sen., AnwBl. 1950/51, S. 90.

[16] Tepperwien, Festschrift für Lutz Meyer-Goßner, 1001, S. 595, 598. Ganz ähnlich haben sich auch Detter (Fn. 5), S. 334 und Fahl (Fn. 8), S. 687 f. geäußert.

[17] Siehe neben den in Fn. 14 genannten Autoren Jescheck, GA 1956, S. 97, 119 sowie Löwe/Rosenberg-Dünnebier (23. Aufl.), vor § 137 Rn. 17 f. und Löwe/Rosenberg-Meyer (23. Aufl.), § 337 Rn. 80.

[18] Detter (Fn. 5), S. 334; Ranft, JuS 1999, S. 867, 868; Tepperwien (Fn. 16), S. 595, 598 ff.

[19] Dahs (Fn. 6), Rn. 918; Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozess, 6. Aufl., Rn. 490; Karlsruher Kommentar-Laufhütte (5. Aufl.), vor § 137 Rn. 10; Kempf in: Brüssow u.a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, Band I, 3. Aufl., § 1 Rn. 69; Park (Fn. 5), S. 338; Sarstedt/Hamm (Fn. 5), Rn. 292 sowie aus dem berufsrechtlichen Schrifttum Feuerich/Weiland, Bundesrechtsanwaltsordnung (6. Aufl.), § 43a Rn. 42; Hennssler/Prütting-Eylmann, Bundesrechtsanwaltsordnung (2. Aufl.), § 43a Rn. 116.

[20] RGSt 43, 1, 6.

[21] OGHSt 1, 277, 282.

[22] Dallinger (Fn. 15), S. 258.

[23] So etwas vorsichtiger Fahl (Fn. 8), S. 682.

[24] BGHSt 7, 162, 164.

[25] Siehe u.a. Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 157; Dahs, StraFo 2000, S. 181, 185; ders. (Fn. 6), Rn. 918; Dahs/Dahs (Fn. 19), Rn. 490; Detter (Fn. 5), S. 335; Karlsruher Kommentar-Laufhütte, vor § 137 Rn. 13; Park (Fn. 5), S. 337; Systematischer Kommentar-Schlüchter/Frister, § 274 Rn. 24.

[26] So z.B. Löwe/Rosenberg-Dünnebier (23. Aufl.), vor § 137 Rn. 18.

[27] Dahs (Fn. 25), S. 185 sowie ders. (Fn. 6), Rn. 918; weiterhin Park (Fn. 5), S. 337.

[28] Detter (Fn. 5), S. 335.

[29] Tepperwien (Fn. 16), S. 601.

[30] BGH HRRS 2006 Nr. 858 = NJW 2006, S. 3582 ff.

[31] Schäfer, Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, 2000, S. 707, 727.

[32] Fahl (Fn. 8), S. 700 ff. Dem Urteil des 3. Senats kann Fahl (Fn. 2) daher voll und ganz zustimmen.

[33] Meyer-Goßner, Strafprozessordnung (49. Aufl. bzw. 47. Aufl.), jeweils § 274 Rn. 21.

[34] BGH NStZ 1999, 424 = StV 1999, 582.

[35] BGH NStZ-RR 2002, 530 = StV 2002, 530.

[36] BGH NStZ 2000, 216 sowie BGH NStZ 2004, 451 = StV 2004, 297.

[37] BGH NJW 2001, 3794 = StV 2002, 525.

[38] BGH HRRS 2006 Nr. 713, Rn. 2-27 = NJW 2006, S. 3579 (Ziff. 2-12).

[39] Aus jüngerer Zeit können hier die Entscheidungen NJW 2001, 3794 und NStZ 2005, 46 genannt werden.

[40] Siehe z.B. BGH NStZ 1999, 424; NStZ 2000, 214; NStZ 2004, 451 sowie den Vorlagebeschluss des 1. Senats zur Beachtlichkeit nachträglicher rügevernichtender Protokollberichtigungen HRRS 2006 Nr. 858 = NJW 2006, 3582.

[41] Siehe z.B. BGH NStZ 2001, 262; NJW 2003, 597; StraFo 2004, 319; StV 2005, 6.

[42] Schäfer (Fn. 31), S. 710 ff.

[43] Fahl (Fn. 8), S. 705 ff. und ders. (Fn. 2), S. 36.

[44] Zur Herleitung dieser Rechtsprechung RGSt 63, 408, 410 f.; BGHSt 17, 220, 222 sowie Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess, 5. Aufl., S. 890; Löwe/Rosenberg-Gollwitzer, § 274 Rn. 23 und 26; Meyer-Goßner, 49. Aufl., § 274 Rn. 17.

[45] BGH HRRS 2006 Nr. 713, Rn. 31 = NJW 2006, 3579, 3580 (Ziff. 16) unter Verweis auf die insoweit grundlegende Entscheidung BGHSt 38, 111.

[46] Ähnlich auch Gaede (Fn. 2), 30.

[47] Siehe auch Jahn (Fn. 2), S. 93, der die Ausführungen des 3. Senats "im Ganzen" für nicht überzeugend hält.

[48] BGH HRRS 2006, Nr. 713, Rn. 32 = NJW 2006, 3579, 3580 (Ziff. 17).

[49] Die Überlegungen anlässlich der Gesetzgebungsberatungen lassen sich gut nachvollziehen bei Hahn, Die gesamten Materialien zur Strafprozessordnung, Erste Abteilung, 1880, S. 257 f.

[50] Hahn (Fn. 48), S. 257. Siehe auch die ausführliche Dokumentation der Gesetzgebungsgeschichte bei Ott, Die Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls im Strafverfahren und das Verbot der Rügeverkümmerung, 1970, S. 20 ff. sowie den Überblick bei Schäfer (Fn. 31), S. 708 f.

[51] Hahn (Fn. 48), S. 258.

[52] In diesem Sinne auch Gaede (Fn. 2), S. 30 und Mikolajczyk (Fn. 2), S. 543.

[53] BGHR StPO § 274 Beweiskraft 13.

[54] Siehe auch Widmaier, NJW (Fn. 2), S. 3588: Das Revisionsgericht sollte sich "nicht in solcher Radikalität über verbindliche Vorschriften des Gesetzes hinwegsetzen."

[55] BGH HHRS 2006 Nr. 713, Rn. 43 = NJW 2006, 3579, 3581 (Ziff. 28).

[56] So zutreffend Mikolajczyk (Fn. 2), S. 543.

[57] Diese Befürchtung äußert auch Mikolajczyk (Fn. 2), S. 544.

[58] Oben II.3.b).

[59] BGH HRRS 2006 Nr. 713, Rn. 40 = NJW 2006, 3579, 3581 (Ziff. 25) mit Verweis auf Dallinger (Fn. 15), S. 257, Dünnebier (Fn. 17), Rn. 17 f. sowie Fahl (Fn. 8), S. 687, der die Argumentation der beiden genannten Autoren aufgegriffen hat.

[60] Oben II.2.b).

[61] Entschieden für den prozessualen Wahrheitsbegriff aber Widmaier (Fn. 2), S. 3588; ähnlich auch Kudlich (Fn. 2), S. 14 f., der von einer "eigenen Revisionsrealität" ausgeht.

[62] Dass diese Frage zu verneinen ist, weil die Beweisregel des § 274 StPO auf die Behauptungsebene "vorwirken" müsse, legt Gaede (Fn. 2), S. 30 überzeugend dar.

[63] Oben II.2.a)

[64] So vor allem Dallinger (Fn. 15), S. 257.

[65] Dünnebier (Fn. 17), Rn. 18.

[66] In diesem Sinne etwa Rieß in einer Rezension von Fahls Habilitationsschrift, ZStW Band 117 (2005), S. 175, 188.

[67] BGH HRRS 2006 Nr. 713, Rn. 44 = NJW 2006, 3579, 3581 (Ziff. 29), Hervorhebung durch Verf.

[68] BGH HRRS 2006 Nr. 713, Rn. 44 = NJW 2006, 3579, 3581 (Ziff. 29), Anführungszeichen im Original.

[69] Auch Fahl (Fn. 2), S. 38 räumt ein, dass es den Gerichten in Zukunft nicht schwer fallen werde, einen Missbrauch immer zu bejahen, wenn das Protokoll falsch sei, so dass § 274 StPO "viel von seinem bisherigen Anwendungsbereich verliert."

[70] BGH HRRS 2006 Nr. 713, Rn. 47 f. = NJW 2006, 3579, 3582 (Ziff. 32 f.).

[71] Der Schritt, für den Vorwurf der Rechtsmissbräuchlichkeit keine positive Kenntnis mehr, sondern bloße Fahrlässigkeit hinsichtlich der Unwahrheit der Rügebehauptung zu verlangen, scheint dann auch nicht mehr allzu weit entfernt zu sein; vgl. Gaede (Fn. 2), S. 33, der abschließend diese Befürchtung hegt.

[72] BGH HRRS 2006 Nr. 713, Rn. 30 = NJW 2006, 3579, 3580 (Ziff. 15).

[73] So Fahl (Fn. 8), S. 678 f. und ders. (Fn. 2), S.35.

[74] Vgl. dazu OLG Frankfurt StV 1993, 463; Karlsruher Kommentar-Engelhardt, § 271 Rn. 17 und Löwe-Rosenberg-Gollwitzer, § 271 Rn. 47.

[75] Siehe dazu schon oben I.3. und die Nachweise in Fn. 6.

[76] Vgl. nur die Literaturnachweise bei Kudlich (Fn. 2), S. 10 und dort in Fn. 11.

[77] Ein Einwand stellt schon auf den Vorbehalt des Gesetzes ab, vgl. Jahn (Fn. 2), S. 92, ein weiterer darauf, dass der Gesetzgeber sich in der großen Diskussion der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts ausdrücklich gegen die Einführung einer allgemeinen Missbrauchsklausel entschieden hat, vgl. Kühne, StV 1996, S. 684, 686. Siehe insoweit auch Gaede (Fn. 2), S. 31, der einen Rekurs auf ein ungeschriebenes, also gesetzlich nicht geregeltes Missbrauchsverbot mit Blick auf das Recht auf ein faires Verfahren für bedenklich und verfehlt hält, weil jenes Recht beinhalte, dass das Verfahren als solches und insbesondere belastende Rechtseinschränkungen gesetzlich ausgeprägt sein müssten.

[78] Obwohl der 3. Senat sicherlich Einiges mehr hätte sagen können (und müssen), um die Existenz eines allgemeinen Missbrauchsverbots zu begründen, wie Kudlich (Fn. 2), S. 11, kritisch anmerkt.

[79] Siehe Kühne (Fn. 74), S. 687, der daher auch mit Recht von der relativen Beliebigkeit des Missbrauchsvorwurfs spricht.

[80] Ähnlich auch Gaede (Fn. 2), S. 32 f., der Vorsicht im Umgang mit dem allgemeinen Missbrauchsverbot anmahnt.

[81] Vgl. Kühne (Fn. 74), S. 686 mit den entsprechenden Nachweisen.

[82] BGH HRRS 2006 Nr. 713, Rn. 31 = NJW 2006, 3579, 3580 (Ziff. 16). Dem stimmen Fahl (Fn. 2), S. 36 und Kudlich (Fn. 2), S. 11, zu.

[83] Schärfer Ventzke, HRRS 2005, S. 233, der insoweit von "Verteidigerbeschimpfungen" spricht.

[84] BGH HRRS 2005 Nr. 162, Rn. 3 und HRRS 2006 Nr. 841, Rn. 4.

[85] In BGH HRRS 2005 Nr. 162 war es eine fast schon als haarsträubend anmutende Einlassung des Angeklagten, die vom Verteidiger verlesen wurde, und in HRRS 2006 Nr. 841 eine offenbar belastende und vielleicht auch verletzende Befragung einer Zeugin durch die Verteidigung.

[86] Widmaier (Fn. 2), S. 3587. Widmaier bezieht in seiner Anmerkung auch den Vorlagebeschluss des 1. Senats zur Beachtlichkeit nachträglicher rügevernichtender Protokollberichtigungen mit ein.

[87] Fahl (Fn. 8), S. 702 und noch einmal ders. (Fn. 2), S. 37 und dort Fn. 44.

[88] Niethammer, DRZ 1949, S. 451 f.

[89] Siehe RGSt 70, 241, 242.

[90] BGH HRRS 2006 Nr. 858, Rn. 16 = NJW 2006, 3583 (Ziff. 15).

[91] Niethammer (Fn. 88), S. 451.

[92] Siehe zur Person Niethammers das aufschlussreiche Buch von Godau-Schüttke, Der Bundesgerichtshof, Justiz in Deutschland, 2005, S. 166 und 229.

[93] So Detter (Fn. 5), S. 335; Siehe dazu schon oben II.3.b).

[94] Dass der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs aber gerade mit Vorurteilen und Schuldzuweisungen zusammenhängen kann, zeigt Kühne (Fn. 74), S. 684 ff. auf, der insoweit auch von einer psychologischen Falle spricht (S. 685).

[95] Zu den Hintergründen des Strafverfahrens siehe auch den Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 12./13.8.2006, Seite 5.

[96] Vgl. auch Kudlich (Fn. 2), S. 15.

[97] Süddeutsche Zeitung vom 11.8.2006, S. 8.

[98] Kühne (Fn. 74), S. 687. Zu den Versuchungen, die vom allgemeinen Missbrauchsverbot ausgehen, siehe auch Gaede (Fn. 2), S. 32 f.

[99] Dazu Krawczyk (Fn. 11), S. 350 ff.

[100] Siehe aber Widmaier (Fn. 2), S. 3587 f., der der Auffassung ist, dass die Missbrauchslösung des 3. Senats dem Revisionsrecht weniger schade. Auch Kudlich (Fn. 2), S. 15 am Ende, geht davon aus, dass die Alternativen zur Missbrauchslösung - er nennt hier die Rügeverkümmerung durch Protokollberichtigung, ein generelles Zurückstutzen der absoluten Revisionsgründe oder eine generelle Aufweichung der Beweiskraft des Protokolls - für die Verteidigung noch einschneidender wären. Dazu ist zu sagen, dass diese Alternativen entweder schon seit Längerem praktiziert oder bald ergriffen werden, denn die absoluten Revisionsgründe sind in der Praxis längst nicht mehr so absolut, die Beweiskraft des Protokolls wurde in den letzten Jahren durch die Rechtsprechung zum Wegfall der Beweiskraft bei offensichtlichen Mängeln des Protokolls spürbar aufgeweicht und das Verbot der Rügeverkümmerung wird wohl auch bald fallen.

[101] Dazu oben IV.4.

[102] Mikolajczyk (Fn. 49), S. 542.

[103] Dazu schon oben I.3.

[104] So Ventzke, StV 1999, S. 189, 192.

[105] BGH HRRS 2006 Nr. 713, Rn. 43 = NJW 2006, 3579, 3581 (Ziff. 28).

[106] Siehe dazu schon die Nachweise in Fn. 39 und 40.