HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2006
7. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen


"Strafverteidigung vor neuen Herausforderungen" - Zum Internationalen Kolloquium vom 3. bis 5.11.2005 in Köln

Von Rechtsanwalt Dr. Björn Gercke (Krefeld) und wiss. Mit. Sebastian Wollschläger (Köln).

Zu einem internationalen Kolloquium "Strafverteidigung vor neuen Herausforderungen" luden die Kölner Hochschullehrer Prof. Dr. Barbara Grunewald, Prof. Dr. Susanne Walther und Prof. Dr. Thomas Weigend vom 3. bis 5. November 2005 in die Universität zu Köln. Zahlreiche namhafte Teilnehmer aus Deutschland, verschiedenen Ländern der Europäischen Union und aus den USA folgten der Einladung zu der von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Veranstaltung.

I. Fachübergreifender Ansatz

Schon aus dem Kreis der Einladenden und Eingeladenen ergibt sich der übergreifende Ansatz des Kolloquiums: Während Prof. Dr. Walther und Prof. Dr. Weigend Inhaber strafrechtlicher Lehrstühle sind, ist Prof. Dr. Grunewald nicht nur Inhaberin eines Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht, sondern auch geschäftsführende Direktorin des Instituts für Anwaltsrecht. Die Teilnehmer des Kolloquiums stammten vorwiegend aus dem Kreis der Strafverteidiger, aber auch Richter, Staatsanwälte, in- und ausländische Hochschullehrer sowie Mitarbeiter rechtswissenschaftlicher Lehrstühle folgten Beiträgen und Aussprachen. Die Herausforderungen, vor denen Strafverteidigung heute steht, wurden demgemäß nicht nur aus Verteidigersicht oder unter Beschränkung auf straf- und strafprozessrechtliche Fragestellungen erörtert, sondern auch unter Einbeziehung einer berufs- und haftungsrechtlichen Sichtweise. Durch die Teilnahme ausländischer Strafrechtslehrer konnten darüber hinaus auch Erfahrungen und Lösungsansätze aus anderen Ländern in die Diskussion eingeführt werden.

Sämtliche besprochenen Themen der drei Veranstaltungstage darzustellen, würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen.[1] Exemplarisch sollen die Vorträge von Salditt, Tak und Kilian sowie die Thesen der Veranstalter mit den Schwerpunkten der jeweils anschließenden Diskussionsrunden nachgezeichnet werden. Neben diesen wurden folgende Beiträge vorgetragen und diskutiert: "Ethische Probleme der Strafverteidigung: Zwischen Beistandspflicht und Wahrheitspflicht" (Prof. Dr. Stephan Barton, Bielefeld); "Strafverteidigung und die Interessen von Opfern und Zeugen" (Prof. Dr. Walter Perron, Freiburg); "Defence lawyer´s role in negotiated justice" (Prof. Richard Frase, Minneapolis, USA); "The role of the defence in adversarial and inquisitorial procedure" (Dr. Jacqueline Hodgson, Coventry); "Strafverteidigung vor internationalen Gerichtshöfen" (Rechtsanwalt Stefan Kirsch, Frankfurt).

II. "Strafverteidigung im 21. Jahrhundert"

In seinem Eröffnungsbeitrag "Strafverteidigung im 21. Jahrhundert" beschrieb Rechtsanwalt Prof. Dr. Franz Salditt anhand von sechs Thesen verschiedene Entwicklungen, die derzeit die Lage der Strafverteidigung prägen und die, so Salditt, auf einen "tiefen Wandel" hindeuten.

Er führte zunächst aus, dass sich die Verteidigung künftig auf einen neuen Gegner einstellen müsse: Die polizeiliche Aufgabe der Gefahrenabwehr werde mit dem Ziel ausgeweitet, schon hier - also nicht erst im repressiven Ermittlungsverfahren - Beweise für eine spätere Strafverfolgung zu sichern.[2] Diese präventiven Ermittlungen müssten sich später jedoch nicht unbedingt in den Strafakten wiederfinden, die nur die von der Staatsanwaltschaft (und ihren polizeilichen Hilfsbeamten) im Ermittlungsverfahren vorgenommenen Untersuchungshandlungen enthalten müssten, § 168b StPO. Die Verteidigung könne also nicht (mehr) auf die Transparenz der Akten vertrauen.

1. Vorverlagerung in das Ermittlungsverfahren: Gefahren eines Transfers von Beweiserhebungen

Eine weitere Entwicklungslinie, die die Rahmenbedingungen der Strafverteidigung beeinflusse, sei die Verlagerung des Schwerpunktes des Strafprozesses von der Hauptverhandlung in das Vorverfahren, die mit einem erleichterten Transfer erhobener Beweise einhergehe. Eine Verlesung von Protokollen über die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen, die bislang grundsätzlich nur bei Zustimmung von Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Angeklagtem möglich war, sei nun durch § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO für die insbesondere in Betrugs- und Untreueverfahren wichtige Frage, ob ein Vermögensschaden eingetreten oder wie hoch er ausgefallen sei, allein durch Anordnung des Gerichts möglich. Gleiches gelte für die Verlesung von Gutachten allgemein vereidigter Sachverständiger, § 256 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) StPO. Salditt hatte Zweifel, ob derart "entleerte Hauptverhandlungen" noch den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 S. 1 und Abs. 3 lit. d) EMRK genügten. Ein Transfer von Texten ohne unmittelbare Beweiserhebung werde zu einem "Transfer von Defiziten und Fehlern". Die Bedeutung der Hauptverhandlung werde zudem von einer Zunahme von Absprachen schon im Ermittlungsverfahren geschmälert; der Bestand "überlieferter" schützender Formen werde immer mehr nur dem Anschein nach gewahrt.

Auch die Rolle des Opfers im Strafprozess verändere sich zum Nachteil der Verteidigung. Die Stärkung von Opferrechten[3] liefen auf einen normativen Appell an die Richter hinaus, den betroffenen Zeugen von vornherein in seine besondere Fürsorge einzuschließen. Dies aber führe im Ergebnis zu einer Befangenheit des Gerichts und der Aufgabe der Unschuldsvermutung.

2. Absprachepraxis: Vom Drängen zum "Deal"

Salditt kritisierte eine immer weiter um sich greifende Praxis der Gerichte, den Angeklagten durch das Anbieten einer geringen Strafe zu einem Geständnis zu drängen. Als (abschreckendes) Beispiel nannte der Redner den Beschluss des 1. Strafsenats des BGH vom 11.9.2002[4], dem ein Urteil zugrunde lag, bei dem das LG den bestreitenden Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren in Aussicht gestellt hatte und ihn dann angesichts seines weiteren Bestreitens zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt hatte, ohne dass sich - abgesehen vom Fehlen des Geständnisses - in der Hauptverhandlung eine neue Sach- und Rechtslage ergeben hätte. Durch diese Form von "Kommunikation" solle der Angeklagte "fremdbestimmt und gesteuert" werden, ihm solle die Gelegenheit genommen werden, sich zu verteidigen. Dementsprechend kritisch sah Salditt auch das Rechtsgespräch am Beispiel des "Mannesmann-Verfahrens"[5], in dem das LG eine "vorläufige Kammermeinung" vorgetragen hatte. Der dadurch auf die Staatsanwaltschaft ausgeübte Druck, die verkündete Meinung des Gerichts zu widerlegen oder den Weg für ein rasches Ende des Prozesses frei zu machen, könne in dem nächsten Verfahren ebenso die Verteidigung treffen. Der Redner wandte sich deshalb gegen den Versuch des Gesetzgebers, das Rechtsgespräch als Institut innerhalb der Hauptverhandlung einzuführen[6]; es klinge zwar prima facie paradox, aber informelle Kontakte außerhalb der Hauptverhandlung würden dem Grundsatz des fairen Verfahrens eher gerecht.

Eine weitere Entwicklung, mit der sich Strafverteidigung heute auseinandersetzen müsse, sei die immer weiter voranschreitende Vereinzelung der Richter; mittlerweile fänden 97,5 % der bis zum Urteil durchgeführten Strafverfahren vor nur einem Berufsrichter statt. Diese Tendenz, die durch die geplante Einschränkung der Berufung gegen amtsgerichtliche Urteile noch fortgesetzt werden solle[7], führe zum Wegfall interner Kontrolle, Diskurs und Abstimmung und lasse "eine individuelle Persönlichkeit mit ihren individuellen Lebenserfahrungen und ihren Wertmaßstäben zum zufälligen Glück oder Unglück der Menschen werden". Auf dieses Richterbild, das "autistische Züge" trage, müsse sich die Verteidigung ebenfalls einstellen.

3. Abnahme des öffentlichen Interesses an Strafverteidigung

All dies gehe einher mit einem abnehmenden öffentlichen Interesse an Strafverteidigung. Die alltägliche Kriminalität gut integrierter Bürger werde in der Regel im Strafbefehlsverfahren oder im Wege einer Opportunitätseinstellung erledigt. Strafrecht werde von diesen deshalb nicht mehr als Drohung betrachtet, für sie sei Strafverteidigung kein eigenes Anliegen mehr, und dies mache mehr als alle zuvor dargestellten Entwicklungen die Lage der Strafverteidigung besonders labil.

4. Diskussion

Die Teilnehmer der dem Vortrag folgenden Diskussion waren sich über die Problematik der von Salditt geschilderten Tendenzen einig. Besonders kritisiert wurde die Möglichkeit des Transfers von Beweisstücken vom Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung. Hierzu vertrat Salditt, dass ein Transfer von ihm nicht generell abgelehnt werde, dem Verteidiger, der an der Beweisgewinnung zu beteiligen sei, müsse aber ein Widerspruchsrecht gegen den Transfer zustehen. Diskutiert wurde das Institut des Rechtsgesprächs, dem man sich grundsätzlich nicht verschließen könne. Es dürfe jedoch kein Mittel zur

Drohung sein und auch keine Präjudizwirkung entfalten; zudem müsse die Vertretung durch einen Verteidiger Voraussetzung dieser Form von Kommunikation im Strafverfahren sein, ansonsten sei "echte Kommunikation" nicht möglich. Deutlich wurde schließlich auch, dass in anderen europäischen Ländern die Erledigung von Verfahren durch Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung die Regel sei; die Entwicklung gehe auch in Deutschland in diese Richtung, stehe hierzulande aber noch am Anfang.

III. Polizeiliche Vernehmungspraxis und die "mini instructie" in den Niederlanden

Prof. Dr. Peter Tak von der Universität Nijmegen beschäftigte sich in seinem Vortrag "Defence lawyer´s role in pretrial investigation" mit der Rolle des Verteidigers im Ermittlungsverfahren in den Niederlanden. Nachdem Tak zunächst auf die Bedeutung einer finanziell gut gestellten Verteidigung für die effiziente Wahrnehmung der Beschuldigteninteressen hingewiesen hatte, äußerte er sich kritisch zur Vernehmungspraxis der Ermittlungsbeamten bei der polizeilichen Festnahme. Er hob besonders hervor, dass die Vernehmungsbeamten den Angeklagten zwar regelmäßig pro forma über sein Schweigerecht belehrten, es aber gleichwohl gängige Praxis sei, dass "einfach weiter gefragt" werde und der Beschuldigte - so Tak wörtlich - auf diese Weise "zum Reden gebracht" werde. Folgerichtig bekomme man in den Niederlanden "fast immer ein Geständnis". Diese Ausführungen waren naturgemäß Anknüpfungspunkt für eine intensive Diskussion über die jeweilige Rechtspraxis in den Heimatstaaten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kolloquiums.

Von besonderer Bedeutung war weiterhin die Darstellung der sogenannten mini-instructie, einer quasi "vorgeschalteten" kleinen Hauptverhandlung im Stadium des Ermittlungsverfahrens. Dies führe - angesichts eines möglichen Transfers - zu einer erheblichen "Entschlackung" der Hauptverhandlung. Folgerichtig hob Tak hervor, dass auch Kapitalstrafverfahren oft nur einen Hauptverhandlungstag dauern würden. In diesem Zusammenhang wurden unterschiedliche Rechtssysteme im Hinblick auf ihre Gewichtung der jeweiligen Verfahrensstadien miteinander verglichen. Auch wurde hier an den Vortrag von Salditt zur bundesdeutschen Praxis und Perspektive im Hinblick auf den Transfer von Beweisergebnissen angeknüpft und die Entwicklung in beiden Ländern verglichen.

Perron hob in der Diskussion zu diesem Beitrag hervor, dass das niederländische System sicherlich den Vorteil habe, dass die Verfahren bzw. jedenfalls die Hauptverhandlung schneller ablaufen würde und dass Beweise, insbesondere auch Zeugenaussagen, die direkt nach der Tat erhoben werden, "frischer" seien. Auf diese könnte dann in der späteren Hauptverhandlung verwiesen werden. Die Teilnehmer des Kolloquiums waren sich jedoch auch einig, dass die Geschwindigkeit der mini-instructie negative Konsequenzen für den Beschuldigten haben könne, insbesondere im Hinblick auf sein Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung.

IV. Sicherstellung der Qualität von Strafverteidigung

Rechtsanwalt Dr. Matthias Kilian setzte sich in seinem Vortrag unter der Überschrift "Berufsrechtliche Verantwortlichkeit von Strafverteidigern" mit der Qualität anwaltlicher Dienstleistungen am Beispiel der Strafverteidigung und Anreizsystemen zu ihrer Verbesserung auseinander. Der Redner stellte verschiedene Möglichkeiten zur Qualitätssicherung für Anwaltsdienstleistungen vor, wobei er zwischen negativen und positiven Anreizen zur Verhaltenssteuerung unterschied.

1. Negative Anreize

Negative Anreize könnten sich aus der Statuierung berufsrechtlicher Pflichten und der zivilrechtlichen Haftung des Anwalts bei einer Verletzung vertraglicher Pflichten oder von Schutzgesetzen zugunsten des Mandanten ergeben. Beiden Möglichkeiten komme jedoch nur eine eingeschränkte Bedeutung zu: Das Berufsrecht habe zwar seine Berechtigung, da es Problembewusstsein schaffen und den Berufsethos stärken könne; spezifische, die Leistungserbringung gegenüber dem Mandanten betreffende Berufspflichten seien aber kaum vorhanden. Einer zivilrechtlichen Haftung der Rechtsanwälte komme im Bereich der Strafverteidigung praktisch kaum eine Bedeutung zu, da Strafverteidiger nur sehr eingeschränkt Regressrisiken ausgesetzt seien und zudem der Nachweis haftungsausfüllender Kausalität kaum je gelinge.

Für effektiver hielt Kilian ein präventiv-regulatorisches Modell, angesiedelt zwischen Berufsrecht und zivilrechtlicher Haftung. Beispiel für ein solches vom Redner als Ombudswesen bezeichnetes Anreizsystem sei das englische Modell der Supervision. Im Falle eines vom Mandanten gerügten "inadequate professional service" könne die Beschwerdestelle beispielsweise Anweisungen erteilen, einen Missstand abzustellen oder Maßnahmen anordnen, wie auf Kosten des Anwalts die entstandenen Probleme gelöst werden könnten.

2. Positive Anreize

Auch bei der Darstellung positiver Anreizsysteme ging Kilian auf eine Entwicklung im englischen Recht ein, insbesondere die Verhaltenssteuerung durch staatlich finanzierte Rechtsdienstleistungen für bedürftige Bürger. Solche Dienstleistungen könnten in England und Wales - anders als im deutschen System der Pflichtverteidigung - nur von Rechtsanwälten erbracht werden, die sich bestimmten Verhaltensstandards unterwürfen. Nur Kanzleien, die die Grundsätze des Criminal Defence Service der Legal Services Commission erfüllten, würden beauftragt, staatlich finanzierte Mandate zu übernehmen. Dafür sei zunächst der Erwerb eines sogenannten Quality Mark und schließlich der Abschluss eines Contract zwischen Legal Service Commission und Rechtsanwalt erforder-

lich, was an die Erfüllung zahlreicher qualitätssichernder Anforderungen geknüpft sei, wie z.B. die Aufstellung eines Business Plans mit Angaben zur Organisations- und Finanzplanung der Kanzlei, schriftliche Managementgrundsätze, die regelmäßige Schulung des Personals und ein definiertes System der Mandats- und Aktenbearbeitung. Auf der einen Seite führten all diese Maßnahmen tatsächlich zu einer erhöhten Qualität der Rechtsdienstleistungen, sie seien aber andererseits mit einer enormen Bürokratie und einer hohen Kostenbelastung verbunden. Das englische System des Contracting könne aber dennoch wertvolle Anregungen für Steuerungssysteme geben, denen sich Rechtsanwälte freiwillig unterwerfen.

Neben verschiedenen Formen der anwaltlichen Vergütung - der Redner sprach sich in diesem Zusammenhang für die Ermöglichung erfolgsorientierter Vergütungselemente durch den Gesetzgeber aus - könnten positive Anreize für eine Steigerung der Qualität anwaltlicher Leistungen auch durch mehr Wettbewerb geschaffen werden. Zum einen sei eine Öffnung des Beratungsmarktes für andere Anbieter denkbar, zum anderen komme die Schaffung staatlicher Konkurrenz zu bislang ausschließlich von Rechtsanwälten zu erbringenden Dienstleistungen in Betracht. Als Beispiel nannte Kilian den staatlichen Public Defender Service in England und Wales, der durch seine Angestellten Pflichtverteidigungen übernehme und damit in Konkurrenz zu den mit einem Contract ausgestatteten (privaten) Strafverteidigern stehe.

3. "Gute Strafverteidigung kostet Geld" - Qualität durch Marktregulierung?

In der Diskussion zu dem Beitrag wurde deutlich, dass Deutschland in Sachen Legal Aid noch "Entwicklungsland" ist. Während der Gesamtetat in Großbritannien bei etwa 2,5 Mrd. € liege, wovon etwa 80 % für Strafverteidigung ausgegeben werde, gebe der deutsche Staat lediglich 500 Mio. € für Prozesskostenhilfe und Pflichtverteidigungen aus, für letztere nur etwa 20 % dieses Etats, mithin lediglich 100 Mio. €. Fraglich erschien den Teilnehmern der Diskussion insbesondere, wie geeignete Maßstäbe für die Qualität anwaltlicher Leistungen gefunden werden könnten. "Gute" Verteidiger sollten zwar besser bezahlt werden als "schlechte", ob aber bei einem freien Beruf wie dem des Strafverteidigers Qualitätsprüfungen möglich seien, werfe doch etliche Fragen auf. Möglicherweise könne eine Regulierung letztlich doch nur über den Markt erfolgen.

V. Thesen der Veranstalter

Zum Abschluss des Kolloquiums präsentierten die Veranstalter ihre Thesen für eine Schlussdiskussion.

1. Ausbau des Beweisantragsrechts und der sonstigen Beteiligungsrechte der Verteidigung

Prof. Dr. Weigend wies darauf hin, dass eigene Ermittlungen des Verteidigers zwar rechtlich zulässig, wegen fehlender Eingriffsbefugnisse und aus finanziellen Gründen aber häufig nicht praktikabel seien. Dem Verteidiger müsse deshalb schon im Ermittlungsverfahren ein umfangreiches Beweisantragsrecht ermöglicht werden. Zudem solle der Verteidiger die Möglichkeit erhalten, an jeder Vernehmung des Beschuldigten und an von der Verteidigung beantragten Ermittlungshandlungen teilzunehmen, was mit Ausnahmen auch für alle sonstigen Ermittlungshandlungen gelten müsse. In der Diskussion der Teilnehmer wurde dieser Vorschlag allgemein begrüßt. Hingewiesen wurde in diesem Zusammenhang darauf, dass bessere Beteiligungsrechte des Verteidigers im Ermittlungsverfahren nicht zu einer Entwicklung hin zu einer Präjudizwirkung für eine spätere Hauptverhandlung führen dürften. Auch Weigend machte deutlich, dass ein Transfer gegen den Willen der Beteiligten von ihm nicht gewünscht sei und aus der Teilnahme des Verteidigers an Ermittlungshandlungen dem Beschuldigten keine Nachteile entstehen dürften.

Weigend forderte außerdem, dass einem Beschuldigten, der sich selbst verteidigen wolle, nur dann ein Verteidiger aufgezwungen werden dürfe, wenn der Beschuldigte seine Verteidigung nicht sinnvoll selbst führen könne. Hierzu wurde insbesondere von den anwesenden Strafverteidigern darauf hingewiesen, dass die Autonomie des Beschuldigten in der Praxis tatsächlich häufig zu wenig beachtet werde. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf die Wahl des Verteidigers in den Fällen der §§ 140, 141 StPO. Soweit der Beschuldigte jedoch gänzlich auf Rechtsbeistand verzichte, wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit jener in Extremsituationen wie der Haft überhaupt zu autonomem Handeln in der Lage sei. Weigend sprach sich dafür aus, dass die Autonomie des Beschuldigten nicht aufgehoben werden dürfe, räumte aber ein, dass dies situationsabhängig, z.B. bei Polizeigewahrsam, gegebenenfalls einzuschränken sei.

Überwiegend kritisch setzte sich Weigend in seinen Thesen mit der Praxis der Verfahrensabsprachen auseinander: Der Konsens der Verfahrensbeteiligten allein könne einem Strafurteil keine hinreichende Legitimation verschaffen; Strafe als Reaktion auf Unrecht müsse immer durch eine rechtliche Basis legitimiert sein. Unzulässig sei es, den Angeklagten durch die Zusage einer Strafmilderung zu einem Verzicht auf seine Verfahrensrechte (z.B. Beweisantragsrecht, Recht auf Einlegung von Rechtsmitteln) zu veranlassen. Sofern eine vollständige Sachaufklärung in der Hauptverhandlung von den Beteiligten als entbehrlich angesehen werde, solle der Angeklagte die der Anklage zugrunde liegenden Tatsachen anerkennen können, und das Gericht solle auf dieser Basis einen Entscheidungsvorschlag unterbreiten, den Angeklagter und Staatsanwaltschaft akzeptieren oder ablehnen könnten. Im Falle eines Scheiterns solle der Entscheidungsvorschlag grundsätzlich auch Obergrenze für eine Sanktion nach einer Hauptverhandlung sein. Weigend wies zudem darauf hin, dass der Strafverteidiger

auch bei Abspracheverhandlungen verpflichtet sei, einseitig die Interessen seines Mandanten wahrzunehmen. Zunächst müssten alle Möglichkeiten einer Erledigung ohne Schuldspruch ausgeschöpft werden; auch bei einem Angebot des Gerichts müsse der Verteidiger mit dem Mandanten zunächst eingehend die Risiken und Chancen einer "streitigen" Hauptverhandlung abwägen und in jedem Fall von erfolgversprechenden Rechtsmittelmöglichkeiten Gebrauch machen. Als Mitautor des Entwurfs für eine gesetzliche Regelung der Absprachepraxis wies Rechtsanwalt Prof. Dr. Schlothauer in der Diskussion der Thesen darauf hin, dass die Möglichkeiten für Absprachen durch den Entwurf stark beschränkt würden; Ziel sei es nicht, Absprachen generell zu verbieten, diese aber gut "einzubetten".

2. Berufsrechtliche Sanktionen und zivilrechtliche Haftung bei "schlechter" Verteidigung

Frau Prof. Dr. Grunewald setzte sich in ihren Thesen mit der berufsrechtlichen Sanktionierung und zivilrechtlicher Haftung im Falle einer fehlerhaften Erbringung von Dienstleistungen durch den Rechtsanwalt auseinander. Aufgrund des im deutschen Recht geltenden Bestimmtheitsgrundsatzes, der besage, dass die Freiheit der Berufsausübung nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden könne, seien Pflichtverletzungen des Rechtsanwalts im Verhältnis zu seinem Mandanten hierzulande berufsrechtlich nicht zu sanktionieren. Die generalklauselartig ausgestalteten Tatbestände von BRAO und BORA seien als Rechtsgrundlage für eine Sanktionierung letztlich nicht geeignet. Der Blick auf andere Länder zeige jedoch, dass auch im Falle "schlechter Verteidigung" standesrechtliche Maßnahmen in einem umfassenderen Maße möglich seien. Im Bereich der zivilrechtlichen Haftung des Anwalts bei der Verletzung von Pflichten aus dem Mandatsvertrag bestehe das Hindernis, dass es allgemeine Regeln für eine ordnungsgemäße Verteidigung nicht gebe (und wegen der situationsabhängigen und auch auf strategischen Überlegungen beruhenden Vorgehensweise eines Verteidigers wohl auch nicht geben könne). Probleme bei der Feststellung der haftungsausfüllenden Kausalität sollten wie im Arzthaftungsprozess bei grober Fehlerhaftigkeit im Wege einer Beweislastumkehr gelöst werden. Zu überlegen sei außerdem die Einrichtung von Schlichtungsstellen bei den Rechtsanwaltskammern; einen aktuellen Handlungsbedarf sah Grunewald jedoch nicht. In der anschließenden Diskussion setzten sich die Teilnehmer des Kolloquiums insbesondere mit der von Grunewald gezogenen Parallele zum Arzthaftungsrecht kritisch auseinander. Als Organ der Rechtspflege habe der Verteidiger im deutschen Strafprozess auch eigene Rechte, die nicht von denen des Beschuldigten abgeleitet seien; ein Verstoß gegen Anweisungen des Mandanten könne deshalb keine Pflichtverletzung sein. Demgegenüber wies Grunewald darauf hin, dass der Verteidiger deshalb eigene Rechte habe, um sie im Interesse seines Mandanten einzusetzen; wenn der Mandant eine bestimmte Richtung vorgebe, müsse die Verteidigung in dieser Weise erfolgen, andernfalls bleibe dem Verteidiger nur, aus dem Mandantenvertrag auszusteigen und sein Mandat - ohne Angabe von Gründen - niederzulegen.

3. Qualitätsanforderungen an "effektive Strafverteidigung"

Frau Prof. Dr. Walther setzte sich in ihren Thesen zum Kolloquium ebenfalls mit den Qualitätsanforderungen für eine "gute Strafverteidigung" auseinander, betonte dabei jedoch mehr die Stellung des Verteidigers als Organ der Rechtspflege. Effektive Strafverteidigung sei elementarer Bestandteil des Anspruchs des Beschuldigten auf rechtliches Gehör und des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 20 Abs. 3, 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK). Hierbei handele es sich um ein Leistungsrecht des Beschuldigten, das Rechte, aber auch Pflichten des Strafverteidigers begründe. Insbesondere vor dem Hintergrund der großen Bedeutung von Absprachen im Strafverfahren und der Entwicklung zu einem Transfer von Beweismitteln vom Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung sei die Verantwortung des Strafverteidigers noch gestiegen. Walther schlug vor, einen Katalog von (sanktionslosen) Verhaltensrichtlinien für eine "gute" Praxis zu entwickeln, der auch Eingang in die Strafverteidigerausbildung finden müsse. Mit der Zeit könne auf diese Weise eine Basis für eine Verrechtlichung entwickelt werden, die das Grundrecht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung konkretisiere. Unter anderem solle es zu den Pflichten professioneller Verteidigung gehören, in Haftsachen "sofort und energisch" tätig zu werden, frühzeitig Akteneinsicht zu verlangen, eigeninitiativ Entlastungsbeweise zu ermitteln, frühzeitig mit der Staatsanwaltschaft eine Einstellung des Verfahrens oder andere Schonungsmaßnahmen zu erörtern und die vorhandenen Anwesenheits- und Konfrontationsrechte umfassend wahrzunehmen. Überdies sprach sich Walther für einen grundsätzlichen Vorrang der Verteidigungsrechte gegenüber Schutzanliegen des Verletzten aus; der Verteidiger müsse sich mit der Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit des Verletzten bzw. Zeugen auseinandersetzen und diese im Interesse seines Mandanten in Frage stellen. Dem Verteidiger müsse es auch erlaubt sein, auf eigene Initiative entlastende Aussagen zu gewinnen; da es hierfür an gefestigten Verhaltensregeln fehle, müsse auch hier eine rechtliche Klärung eingeleitet werden. Verletzungen des Grundrechts des Beschuldigten auf effektive Verteidigung müssten auch mit der Revision angreifbar sein.

In der anschließenden Diskussion der Thesen zeigten die Teilnehmer einerseits Sympathie für eine Qualitätskontrolle von Verteidigerleistungen, bezüglich der Bestimmung verbindlicher Standards wurde allerdings auf Schwierigkeiten hingewiesen; insbesondere die rechtliche Überprüfung der Qualität der Verteidigung durch den Richter wurde von Praktikerseite abgelehnt. Insofern wies auch Walther darauf hin, dass der Richter nicht derjenige sein dürfe, der im Strafprozess den Verteidiger "zensiere". Grundsätzlich zwinge aber das Strafverfahren mit immer mehr adversatorischen Elementen dazu, die Stellung des Verteidigers neu zu überdenken und dementsprechend seine Organstellung neu zu diskutieren.

VI. Resümee

Die Organisatoren haben es geschafft, wesentliche Punkte, die derzeit die Praxis der Strafverteidigung beschäftigen, in einer gelungenen Mischung aus in- und ausländischen Beiträgen, aus Wissenschaft und Praxis sowie schließlich aus straf-, zivil- und standesrechtlichen Themen zur Diskussion zu stellen. Bereits bei der Abschlussdiskussion wurde von den Teilnehmern die Erwartung geäußert, dass das Kolloquium nicht ohne Fortsetzung bleibe. Zum besonderen Charakter der Veranstaltung trug sicherlich bei, dass sie nur im kleinen Rahmen von rund 60 geladenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern blieb. Auch wenn dieser "intime" Charakter dem Kolloquium natürlich einen besonderen Charme verlieh, hätte es die Qualität der Beiträge sicherlich verdient gehabt, einem breiteren Publikum präsentiert zu werden. Insgesamt bleibt zu hoffen, dass diese Veranstaltung nicht die letzte ihrer Art gewesen ist.


[1] Insofern kann auf einen ausführlichen Tagungsband verwiesen werden, dessen Herausgabe die Veranstalter des Kolloquiums für das Jahr 2006 planen.

[2] Zur verfassungsrechtlichen Problematik sogenannter vorbeugender Strafverfolgung: BVerfG NJW 2005, 2603; vgl. hierzu: Kutscha, NVwZ 2005, 1231.

[3] Vgl. nur das OpferrechtsreformG vom 24.6.2004 (BGBl. I 2004, S. 1354 ff.).

[4] BGH StraFo 2003, 97 m. Anm. Salditt.

[5] Vgl. LG Düsseldorf NJW 2004, 3275 und BGH NJW 2006, 522.

[6] Vgl. den Diskussionsentwurf des BMJ für eine Strafprozessreform vom 18.2.2004, § 257b E-StPO.

[7] Vgl. z.B. den Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom 23.11.2004 "Größte Justizreform seit 1877" zur Herbsttagung der Justizministerkonferenz im November 2004.