HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2006
7. Jahrgang
PDF-Download

Schrifttum

Urs Kindhäuser, Ulfrid Neumann und Hans-Ullrich Paeffgen (Hrgs.): Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, 2. Aufl., Nomos, Baden-Baden, 2005, 5952 Seiten, geb., ISBN 3-8329-0904-4, EUR 348,-.

I. Nach langen Vorankündigungen und mit einer gegenüber dem ursprünglich anvisierten Erscheinungstermin doch gewissen Verspätung ist er nun endlich da: Der gebundene Nomos-Kommentar zum StGB. Als Nachfolger des in fünf Ordnern erschienenen Loseblattwerks kommt der Kommentar nun in einer gediegenen zweibändigen Ausführung daher, die rein optisch spontan einen guten Eindruck macht. An die Stelle der (als Kommentatoren nach wie vor beteiligten, aber) als Herausgeber ausgeschiedenen Wolfgang Schild und Ingeborg Puppe sind mit Urs Kindhäuser und Hans-Ullrich Paeffgen zwei renommierte Bonner Strafrechtslehrer getreten, die auch schon als Kommentatoren der Loseblattausgabe dem Werk an verschiedenen Stellen eindrucksvoll ihren Stempel aufgedrückt hatten.

II. Wesentlicher Unterschied und wesentliche Neuerung gegenüber der Erstauflage ist zunächst einmal schlicht die Tatsache, dass das Werk nun in gebundener Form vorliegt. Als eingestandener Freund von gebundenen Werken (was durchaus nur strukturell, nicht individuell zu verstehen ist - man denke nur an die mitunter hohe Kunst der Kommentierung, die sich in den ebenfalls in Loseblattform erscheinenden Systematischen Kommentaren findet, insbesondere in demjenigen zur StPO) muss es nicht verwundert, dass aus Sicht des Rezensenten die Vorteile einer gebundenen Ausgabe insgesamt überwiegen: Diese sind - zumindest auf lange Sicht betrachtet unter Berücksichtigung der Kosten für Nachlieferung und Nachsortieren - unter dem Strich wahrscheinlich preisgünstiger; sie erscheinen jedenfalls dem Rezensenten persönlich deutlich angenehmer zu handhaben; und sie müssen (zumindest im Mittelwert) nicht notwendig wesentlich weniger aktuell sein, wie die durchaus teilweise auch veralteten Bearbeitungen einzelner Vorschriften in so manchem Loseblattwerk eindrucksvoll unter Beweis stellt.

So ist m.E. nun auch der Nomos-Kommentar tatsächlich "schön" geworden: Trotz eines Umfangs von knapp 6000 Seiten in zwei Bänden wirkt er nicht "unangenehm wuchtig", sondern ist letztlich gut handhabbar. Die äußere Gestaltung kann gefallen: Eine gute Lesbarkeit ergibt sich durch ein angenehmes und insbesondere auch hinreichend großes Schriftbild sowie durch die von den meisten (leider nicht allen, Negativbeispiel insoweit etwa die rund 150 Seiten starke Kommentierung des 12. und 13. Abschnitts durch Frommel) Verfassern vorgenommene Verlagerung zumindest der umfangreicheren Nachweise in einen Fußnotenapparat. Weniger glücklich gelöst ist dagegen nach meinem persönlichen Eindruck die nur ganz schwach "grau-schattierte" Gestaltung der Randziffern, die (zwar "elegant" wirkt, aber) die Randziffern etwa beim Durchblättern einer längeren Kommentierung auf der Suche nach einer bestimmten Stelle tendenziell eher schwer lesbar machen.

III. Was den Inhalt angeht, so lässt sich - trotz der Aktualisierungen sowie einiger Neubearbeitungen und Straffungen bei der Kommentierung - letztlich gegenüber der bekannten Loseblattausgabe wenig Neues feststellen: Dass die Kommentierung im Nomos-Kommentar sich bei einer Reihe von Vorschriften wissenschaftlich auf ausgesprochen hohem Niveau befindet, ist bekannt; um die rein subjektive Auswahl bei der Nennung solcher Autoren wenigstens durch ein objektives Element begründen zu können, sei hier exemplarisch nur auf die drei Herausgeber verwiesen, die unter anderem etliche zentrale Vorschriften kommentieren: Neumann, der mit großem Scharfsinn die bekanntlich nicht immer geglückten und schon seit langem auf eine gesetzgeberische Reform wartenden Tötungsdelikte systematisiert; Paeffgen, der kenntnisreich und auf der Grundlage einer ungewöhnlich breiten, auch die Geschichte einbeziehenden Materialauswertung die Körperverletzungsdelikte kommentiert und dabei manchen seit langem hergebrachten und kaum noch kritisch hinterfragten Gedanken der herrschenden Meinung in Frage stellt; und nicht zuletzt Kindhäuser, der eine Systematik des strafrechtlichen Vermögensschutzes entwickelt, aus der er immer wieder originelle und überzeugende Argumente zur Behandlung von Streitfragen ableiten kann. Aber auch andere Autoren verdienen Hervorhebung, die zu Vorschriften, welche augenscheinlich auch sonst zu ihren Hauptinteressensgebieten zählen, gut lesbare und anregende Kommentierungen liefern (so etwa Merkel zum Recht der Schwangerschaftsunterbrechung sowie Hellmann zu den Wirtschaftsstraftaten des §§ 264  - 265b). Puppe, die im Allgemeinen Teil wie im Bereich der Urkundsdelikte teilweise eigenwillig, aber mit dem bekannten Scharfsinn und Gedankenreichtum arbeitet, wurde bereits erwähnt. Hervorhebung verdient schließlich noch - da in der Loseblattausgabe als zentrale Vorschrift bis zum Schluss nicht kommentiert - die im gebundenen Werk nunmehr erfolgte Behandlung des § 46, die in der umfangreichen Kommentierung von Streng keine Wünsche offen lässt.

IV. Freilich ändert auch die äußere Fassung in einer gebundenen Ausgabe nichts daran, dass aufgrund des Umfangs der Bearbeiterzahl eine gewisse Heterogenität der Kommentierungen (in Durchführung und Gestaltung, aber teilweise auch in der Qualität) besteht. Berücksichtig man, dass der Nomos-Kommentar aufgrund des größeren Druckbildes vom Umfang her insgesamt wohl näher am "Schönke/Schröder" als am Leipziger Kommentar oder am Münchener-Kommentar liegt, sind über 30 beteiligte Personen doch ein relativ großer Autorenstab. Dies kann freilich nicht wirklich als Vorwurf formuliert werden, sondern ist möglicherweise aufgrund der

Literaturflut bei einem gegenwärtig oder in der jüngeren Vergangenheit neu entstehenden Werk unvermeidbar.

Hinzu kommt jedoch noch ein weiterer Schönheitsfehler: Die eingangs bereits erwähnte gewisse Verzögerung bei der Fertigstellung des Werkes hat leider zu einem doch recht unterschiedlichen Bearbeiterstand der Kommentierungen geführt, der - auch wenn man bei einem Großkommentar Solidität über Aktualität stellt - zu einem für den Zeitpunkt des Erscheinens nicht ganz befriedigenden Ergebnis führt: So ist der grundsätzlich erreichte Gesetzesstand vom 15.12.2004 (vgl. Vorwort S. 5) für ein im Herbst 2005 erscheinendes Werk nicht wirklich "spektakulär". Insbesondere fehlen die bereits am 19. 2. 2005 durch das 37. Strafrechtsänderungsgesetz (BGBl 2005 I, 239) in Kraft getretenen neu gefassten Vorschriften gegen den Menschenhandel der §§ 232 f. (vgl. dazu Schroeder, NJW 2005,1393), obwohl ihr Inkrafttreten in der Kommentierung zu § 181 Rn. 1 bereits angekündigt wird - hier wurde die Chance verpasst, die (durchaus diskussionsbedürftigen, vgl. Schroeder, GA 2005, 307 ff.!) Neufassung einer ersten profunden Deutung zuzuführen.

Naturgemäß setzt sich dieses "Problem" auch bei den Kommentierungen zu bereits existierenden Vorschriften fort: So ist etwa - soweit ersichtlich - bei § 69 StGB die wichtige Entscheidung des Großen Strafsenats zur Entziehung der Fahrerlaubnis bei Delikten der Allgemein-Kriminalität (vom 27.04.2005) ebenso wenig eingearbeitet wie die Entscheidung des BGH zum Fall Bremer Vulkan (vom 13.05.2004) sowie des LG Düsseldorf zum Fall Mannesmann (vom 22.07.2004) in der Kommentierung zu § 266 StGB. Auch der Münchner Kommentar als wichtiger neuer Großkommentar ist in verschiedenen Kommentierungen - angesichts der Verzahnung zwischen beiden Verlagen wohl nicht aus generellen "Boykott-Erwägungen"  - nicht berücksichtigt, obwohl die entsprechenden Teilbände mit Blick auf ein Erscheinungsdatum Herbst 2005 durchaus noch Erwähnung hätten finden können. Indes müssen insoweit "Schuldzuweisungen" sehr behutsam erfolgen - nicht selten sind bei Sammelwerken ja diejenigen Bearbeiter scheinbar "weniger aktuell", die ursprüngliche Termine am besten eingehalten haben, angesichts endloser Verzögerungen der Co-Autoren aber irgendwann (zumindest menschlich verständlich) die Lust zum ständigen "Nach-Aktualisieren" verloren haben.

V. Die Kommentierungen im "NK" sind - aufgrund der Konzeption des Werkes, aufgrund des fast ausschließlich aus der Wissenschaft stammenden Autorenkreises sowie aufgrund der Belegung der einzelnen Vorschriften vielfach mit besonders ausgewiesenen Spezialisten zu den entsprechenden Teilbereichen - über weite Strecken gewiss "wissenschaftlich gesättigt". Es wird aber auch derjenige, der in der Praxis Strafrecht nicht nur "ganz nebenbei", sondern auf einem gewissen Niveau betreibt, für die eigene Argumentation von der fundierten und teilweise auch originellen Kommentierung vieler Vorschriften profitieren können. Verbunden mit der nunmehr leichteren Handhabbarkeit einer gebundenen Ausgabe könnte dies dazu führen, dass der Nomos-Kommentar sich noch stärker als bisher auf dem Markt positionieren wird (wenngleich für den öffentlichen Bereich - etwa Universitäten und Gerichte - der in Relation zum Umfang zwar sicher vertretbare, absolut betrachtet jedoch durchaus beachtliche Preis eine gewisse "Verbreitungsgrenze" bilden könnte). Insoweit ist zu erwarten, dass wir auch in Zukunft Zitate aus dem Nomos-Kommentar in der höchstrichterlichen Rechtsprechung finden werden - allerdings dürfte der Verlag gut damit beraten sein, auf deren Nachweis nach Art der Werbebroschüren für die hier angezeigte Auflage in Zukunft zu verzichten; mutet es doch etwas seltsam an, wenn der Verlag selbst es nicht für selbstverständlich zu befinden scheint, dass eine Kommentierung dieses Umfangs gelegentlich auch Erwähnung in höchstrichterlichen Entscheidungsbegründungen findet.

Prof. Dr. Hans Kudlich, Universität Erlangen-Nürnberg.

***

Katja Mestek-Schmülling: Mittelbare Straftatfolgen und ihre Berücksichtigung bei der Strafzumessung, Diss. Köln 2002, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2004, 167 S., 50,80 €; und Ute Ahlers-Grzibek: Der normative Normalfall in der Strafzumessung, Diss. Osnabrück 2002, Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2003, 238 S., 78,- €.

Zu den vernachlässigten Feldern der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem materiellen Strafrecht hat lange Zeit (in erstaunlichem Kontrast zur praktischen Relevanz) das Strafzumessungsrecht gehört. Erfreulicherweise zeichnet sich in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an den Rechtsfragen der Strafzumessung ab. Zu den neueren Arbeiten gehören die beiden hier zu besprechenden Monographien.

I. Die Arbeit von Mestek-Schmülling hat die Berücksichtigung von mittelbaren Straftatfolgen zum Thema. Es geht dabei nicht um mittelbare Straftatfolgen für das Opfer, sondern um solche, die für den Täter als negative Konsequenzen seiner Straftat entstehen können. Die Verf. widmet sich der Frage, ob es sich strafmildernd auswirken soll, dass der Täter zusätzlich zu einer Kriminalstrafe Nachteile beruflicher, wirtschaftlicher oder sonstiger Art in Kauf nehmen musste bzw. in Zukunft mit derartigen Nachteilen rechnen muss. Im ersten Kapitel ihrer Arbeit erläutert Mestek-Schmülling, welche Straftatfolgen den Täter treffen können. Dazu gehören finanzielle Einbußen (etwa durch die Sperrung von Arbeitslosengeld), Mehrfachbestrafungen durch die Kombination von Strafverfolgung im In- und Ausland, berufliche Beeinträchtigungen durch verwaltungsrechtliche Maßnahmen und fakultative oder obligatorische disziplinarrechtliche Folgen, Verlust von Amtsfähigkeit und Wählbarkeit sowie ausländerrechtliche Konsequenzen, vor allem die Ausweisung. Anschließend schildert sie die

Entwicklungslinien in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die nach anfänglicher Zurückhaltung mittlerweile nicht nur zwingenden, sondern auch möglichen belastenden mittelbaren Straftatfolgen grundsätzlich strafmildernde Wirkung beimisst und derartige Folgen auch bei der Einstufung als "minder schwerer Fall" heranzieht. Mestek-Schmülling macht allerdings darauf aufmerksam, dass die Rechtsprechung die drohende Ausweisung eines Ausländers anders behandelt als sonstige mittelbare Nachteile. Ihre Kritik daran ist überzeugend: Es ist inkonsequent, beamtenrechtliche Nachteile strafmildernd zu berücksichtigen, die drohende Ausweisung aber nicht, obwohl diese für hier geborene oder jedenfalls familiär und sozial verwurzelte ausländische Täter in gleicher Weise oder sogar noch stärker existenzvernichtend sein kann. Im zweiten und dritten Kapitel stellt die Autorin außerdem den Stand der Diskussion im Schrifttum dar. Dazu gehören Stimmen, die sich gegen eine Einstufung als minder schwerer Fall wegen mittelbarer Straftatfolgen für den Täter aussprechen sowie Kritiker, die auch von Strafminderungen innerhalb des Normalstrafrahmens eine Schwächung der generalpräventiven Wirkung des Strafrechts befürchten und in der Gerichtspraxis eine (z.B. Beamte milder behandelnde) Klassenjustiz sehen.

Im vierten Kapitel entwickelt Mestek-Schmülling schließlich ihren eigenen Ansatz, mit dem sie im Ergebnis die strafmildernde Berücksichtigung mittelbarer Straftatfolgen befürwortet. Im ersten Unterkapitel geht sie der Frage nach, ob eine strafmildernde Anrechnung auf disziplinarische Maßnahmen mit Strafcharakter beschränkt werden sollte. Hierzu erörtert die Verf., welche Art der Zufügung von Nachteilen durch den Staat als Strafe eingestuft werden soll. Im Einklang mit einer starken Strömung in der deutschen Strafrechtswissenschaft akzentuiert sie den Gedanken der Normbestätigung: Eine staatliche Maßnahme sei dann Strafe, wenn sie mit dem Ziel, die verletzte Norm wiederherzustellen, die defizitäre Einstellung des Betroffenen zur Norm verbindlich feststelle, ihm und anderen dies vorhalte und ihm als Reaktion auf den Widerspruch zur Norm ein materielles Übel auferlege (S. 102). Mestek-Schmülling geht davon aus, dass es neben Disziplinarstrafen (etwa Gehaltskürzungen) auch disziplinarische Maßnahmen mit ausschließlich präventivem Charakter gebe, darunter die Entfernung eines Beamten aus dem Dienst. Diese Unterscheidung überzeugt nicht: Es ist inkonsequent, eine mildere disziplinarrechtliche Reaktion als Strafe einzuordnen, die den Betroffenen wesentlich härter treffende Entfernung aus dem Dienst dagegen nicht. Die härtere Disziplinarsanktion wird dann verhängt werden, wenn der Beamte besonders gravierend die für ihn geltenden Verhaltensnormen missachtet hat, ist also nach der Theorie von der Normbestätigung erst recht als Strafe einzustufen. In den folgenden Passagen kommt die Verf. (in Abweichung von der ganz h.M.) dazu, dass schon Art. 103 Abs. 3 GG Betroffene davor schützen müsse, sowohl mit Disziplinarstrafe als auch mit Kriminalstrafe belangt zu werden. Über dieses Ergebnis lässt sich debattieren - mir erscheint es zweifelhaft, dass die hinter Art. 103 Abs. 3 GG stehenden Wertungen (Rechtssicherheit, Berechenbarkeit von Sanktionen für den Einzelnen) es erfordern, das Disziplinarrecht einzuschließen. Betroffene Beamte wissen, dass sie neben den für jedermann geltenden Sanktionsnormen zusätzlich den Regeln des Disziplinarrechts unterfallen.

Nachdem sie ihren Vorschlag dargestellt hat, bei strafenden Disziplinarsanktionen mittels Art. 103 Abs. 3 GG eine doppelte Belastung des Straftäters zu vermeiden, untersucht Mestek-Schmülling, wie sonstige belastende Maßnahmen bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. Sie befürwortet eine strafmindernde Anrechnung mit folgendem Argumentationsgang: Inhalt des Schuldprinzips sei die Festlegung, dass der mit der Strafe verfolgte Zweck in der Normrehabilitierung liege. Die verhängte Strafe müsse nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip darauf überprüft werden, ob sie nicht für diesen Zweck übermäßig sei (S. 118). Bedauerlich ist, dass sie ihre straftheoretische Festlegung nicht näher begründet, insbesondere auch nicht auf Meinungen eingeht, die eine Reduktion der Strafzwecke allein auf Normbestätigung kritisch untersuchen (s. etwa Aufsätze in dem von Schünemann/von Hirsch/Jareborg herausgegebenen Sammelband: Positive Generalprävention, C.F. Müller Verlag, 1998). Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit kommt Mestek-Schmülling zum Ergebnis, dass es nicht erforderlich sei, beim Eintritt mittelbarer Straftatfolgen die Strafe in voller Höhe zu verhängen. Dem Zweck der Normbestätigung dienten auch mittelbare Straftatfolgen; ein dahin gehender allgemeiner Rechtsgedanke könne § 60 StGB entnommen werden. Im Rahmen der gewählten, wenn auch nicht eingehend begründeten straftheoretischen Herleitung ist dieses Ergebnis mit gut vertretbaren Argumenten begründet. Wenn man Strafzumessung allerdings nicht nur aus der Perspektive "erforderliche Normbestätigung" betrachtet, sondern auch den Aspekt der Gleichmäßigkeit und des tatproportionalen Strafmaßes betont, bleibt das Problem, dass mildere Strafen für manche Täter als notwendige Kehrseite die härtere Behandlung anderer bedeutet, die auch diesen gegenüber zu begründen ist (vgl. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, 1999, S. 346 f.).

Im letzten Abschnitt ihrer Arbeit kommt Mestek-Schmülling mittels einer historischen Interpretation des Begriffs "minder schwerer Fall" dazu, dass damit nicht nur die retrospektive Bewertung der Tat gemeint sei, sondern allgemein auf die Strafwürdigkeit verwiesen werde. Sie pflichtet deshalb der Rechtsprechung bei, die zu erwartende mittelbare Straftatfolgen für den Täter zum Anlass nimmt, wenn die gesetzliche Rechtsfolgenbestimmung diese Möglichkeit eröffnet, den Strafrahmen für minder schwere Fälle anzuwenden. Es ließe sich in Frage stellen, ob man der Strafzumessungstradition, die lange Zeit auf ein dünnes theoretisches Fundament gestützt war, diesen Grad der Verbindlichkeit für die Auslegung beimessen muss. Aber die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, schmälert nicht den Wert von Mestek-Schmüllings Analyse. Insgesamt handelt es sich um eine gut geschriebene Arbeit, die mit vertretbaren Begründungen einen Teilaspekt der Strafzumessung systematisch aufarbeitet und damit zur besseren dogmatischen Fundierung dieses Rechtsgebiets beiträgt.

II. Ahlers-Grzibek beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit dem "normativen Normalfall". Im ersten Teil der Arbeit finden sich knappe Ausführungen zu Strafzwecken und Strafzumessungstheorien, die wegen ihrer Knappheit oberflächlich bleiben. Diese Vorgehensweise ist leider in vielen Dissertationen zu finden. "Der Vollständigkeit halber" beginnen die Verfasser mit einer kurzen Schilderung von theoretischen Grundlagen des zu untersuchenden Gebietes, ohne sich aber mit hinreichender Intensität damit beschäftigen zu können. Derartige, an Repetitoriumsskripten erinnernde Abschnitte sind durchaus verzichtbar. Merkwürdig mutet es an, dass Ahlers-Grzibek mehrfach (S. 15, S. 100) ohne kritische Distanz die Bemerkung von Bruns (zitiert nach seinem 1974 erschienen Lehrbuch) anführt, dass die Strafzumessung ein "irrational bedingter Gestaltungsakt" des Tatrichters sei. Es ist schließlich Anliegen auch ihrer Arbeit, dazu beizutragen, dass die früher unterentwickelte Dogmatik des Strafzumessungsrechts schärfere Konturen bekommt. Leicht ermüdend wirken auf den Leser die ausschließlich deskriptiven Kapitel im ersten Teil der Arbeit. Hier schildert die Verf. zum einen die Rechtsprechung verschiedener Senate des Bundesgerichtshofs zum Thema "Normalfall". Die Darstellung dieser in sich widersprüchlichen Rechtsprechung ist für die Arbeit natürlich wichtig. Meine Bewertung als "ermüdend" bezieht sich auf die Art der Präsentation, nämlich die strikte Trennung zwischen Beschreibung und eigenem Ansatz. Dasselbe gilt für die folgende Darstellung der Strafzumessungslehre, bei der die Verf. nicht Thesen zusammenfasst oder beurteilt, sondern einzelnen Autoren jeweils Abschnitte widmet, die aneinander gereiht werden. Auch diese Darstellungsform ist zwar durchaus verbreitet in Dissertationen. Eine anregendere Lektüre ist aber eine Darstellung und Bewertung verbindende Analyse.

Die ergiebigeren Abschnitte des Buches finden sich im Hauptteil (S. 72 ff.). Hier untersucht die Verf. die Relevanz des normativen Normalfalls für drei Aspekte der Strafzumessungsentscheidung: erstens für die Frage, ob der Verwertung einer bestimmten Tatsache das Doppelverwertungsverbot (§ 46 Abs. 3 StGB) entgegensteht, zweitens für die Bewertung einzelner Strafzumessungstatsachen als strafschärfend oder -mildernd und drittens für die Verortung des Falles im gesetzlichen Strafrahmen. In überzeugender Weise schließt sich Ahlers-Grzibek der Ansicht im Schrifttum an, die einzelnen Ansätzen in der Rechtsprechung widerspricht, welche bei einem "normalen Erscheinungsbild" des Delikts das Doppelverwertungsverbot anwenden wollen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, für ein abstrakt umschriebenes Delikt im StGB einen bestimmten Strafrahmen festzusetzen, gilt für sämtliche Erscheinungsformen, die dieses Delikt in der Lebensrealität annehmen kann. Tatumstände einer "normalen Ausprägung" waren daher nicht maßgeblich für den Gesetzgeber. Geht der Richter auf eine solche "normale Ausprägung" ein, verwertet er nicht einen Umstand, den bereits der Gesetzgeber gewürdigt hatte.

Am besten gelungen sind die Ausführungen von Ahlers-Grzibek dazu, dass es für die isolierte Bewertung und Gewichtung von Strafzumessungstatsachen notwendig sei, mit der Figur des normativen Normalfalles zu arbeiten. Die Vorstellung, dass es einer isolierten Bewertung von Strafzumessungstatsachen nicht bedürfe, weil eine "Gesamtbetrachtung" zugrunde zu legen sei, weist sie zu Recht zurück. Um die Bewertungsrichtung einer Tatsache (mildernd oder schärfend) zu festzulegen, bedarf es eines Vergleichswertes, für den sich der normative Normalfall anbietet. Die Verf. geht davon aus, dass sich aus dem Gesetz Wertungen entnehmen lassen, sowohl aus dem Allgemeinen Teil des StGB als auch aus den Tatbeständen des Besonderen Teils. Daraus könne geschlossen werden, wie sich der Gesetzgeber den Normalzustand eines bestimmten Umstands vorgestellt habe und welche abweichenden Erscheinungsformen schärfend oder mildernd berücksichtigt werden sollten. Diesen Ansatz verdeutlicht sie anhand zahlreicher Beispiele. So führt die Verf. etwa aus, dass das Fehlen von wirtschaftlicher Not "normativ normal" und deshalb strafzumessungsneutral sei. Die Ausgestaltung von § 34 StGB als Erlaubnisnorm zeige, dass Erscheinungsformen von Not unrechtsmindernd seien (auch schon unterhalb der Schwelle, ab der eine Rechtfertigung nach § 34 eingreift), dass aber das Fehlen von Not normal sei. Im Hinblick auf einzelne Ausprägungen des normativen Normalfalls lässt sich zwar über die Ausführungen der Verf. debattieren. So wird beim Thema "Vorstrafen" nicht klar, warum sie fehlende Vorstrafen als "normativen Normalfall" einordnet (mit der Folge, dass dies strafzumessungsneutral ist, während vorhandene Vorstrafen zu Straferhöhungen führen sollen). Ahlers-Grzibek weist selbst darauf hin, dass die Rückfallvorschriften aufgehoben wurden und führt nicht weiter aus, wo sie nunmehr dem Gesetz einen "normativen Normalfall" entnehmen will (S. 157). Des Weiteren wäre zu diskutieren, ob beim sexuellen Missbrauch von Kindern eine nachfolgende Schädigung der Kinder tatsächlich als "normativer Normalfall" ein strafzumessungsneutraler Umstand ist (so S. 183 f.). Abgesehen von solchen Einzelpunkten ist aber festzuhalten, dass Ahlers-Grzibek einen überzeugenden Ansatz begründet, wie man Relevanz und Bewertungsrichtung bestimmter Tatumstände festlegen kann.

Sehr knapp fallen Ahlers-Grzibeks Überlegungen zum dritten Komplex aus, nämlich zu der Frage, ob die Figur des "normativen Normalfalls" bei der Einordnung in den Strafrahmen weiter hilft. Ahlers-Grzibeks Vorstellung, dass auch hier der "normative Normalfall" das geeignete Instrument sei, ist nicht hinreichend durchdacht. Der Einstieg in den Strafrahmen ist so, wie sie es skizziert (S. 195 f.) nicht möglich: Man kann nicht einem normativen Normalfall einen Punkt unterhalb der Mitte des gesetzlichen Strafrahmens zuordnen und dann auf die Besonderheiten des abzuurteilenden Falles mit Verschiebungen nach oben oder unten reagieren. Die Autorin verkennt, dass für den Kern der Unrechtsbewertung Umstände wichtig sind, die mit dem Maßstab "normativer Normalfall" nicht zu erfassen sind. Für Eigentums- und Vermögensdelikte, die den Großteil der abzuurteilenden Fälle ausmachen, kommt es entscheidend auf das Ausmaß des angerichteten finanziellen Schadens an. Dem StGB ist aber nicht zu entnehmen, wie der "normative Normalfall"

eines Diebstahls oder Betrugs im Hinblick auf die Schadenshöhe ausfallen soll. Dasselbe gilt für viele andere zentrale Strafzumessungsfaktoren. Wie soll etwa der "normative Normalfall" einer Gewaltanwendung aussehen, oder einer körperlichen Verletzung? Die Bezugnahme auf den "normativen Normalfall" ist nicht, wovon Ahlers-Grzibek ausgeht, der Schlüssel für eine rationalere Strafzumessung. Sie kann vielmehr nur für einen eng umgrenzten Teil der Strafzumessungsentscheidung relevant werden, nämlich soweit es darum geht, die Bewertungsrichtung einiger Begleitumstände festzulegen. Für die vergleichende Bewertung der Tatschwere in einer Ordinalskala vor allem anhand des angerichteten Schadens und für die Umsetzung dieser Bewertung in ein numerisches Strafmaß muss anders vorgegangen werden (s. dazu Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, 1999, S. 364 ff.).

Prof. Dr. Tatjana Hörnle, Universität Bochum

***