HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2006
7. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die HRRS-Ausgabe Februar greift mit dem Aufsatz von Jochen Bung einmal mehr das Thema „Feindstrafrecht“ auf. Ein weiterer Beitrag von RA Christoph Klein befasst sich mit der Zuständigkeit im weiteren Verfahren gemäß § 122 IV StPO. Im Rahmen der Rezensionen bespricht die im Strafzumessungsrecht besonders ausgewiesene Prof. Dr. Tatjana Hörnle zwei jüngere Dissertationen zu diesem Rechtsgebiet.

Unter den Entscheidungen dieser Ausgabe ragt vor allem das wohl als fulminant zu bezeichnende Urteil des BGH im Fall Mannesmann heraus. Auch die problematische Entscheidung des EGMR im Fall Haas erweist sich als besonders bedeutsam. Zahlreiche weitere Entscheidungen insbesondere des BGH etwa zum Rechtsmissbrauch bei Befangenheitsanträgen lohnen das Studium dieser Ausgabe.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

63. EGMR Nr. 73047/01 - Zulässigkeitsentscheidung der 3. Kammer des EGMR vom 23. November 2005 (Haas v. Deutschland).

Konfrontationsrecht (Verwertungsverbot hinsichtlich einer entscheidenden Verwertung unkonfrontierter Aussagen; anonyme Zeugen; Mitangeklagte als Zeugen; Hörensagen; Fragerecht; verhältnismäßige Einschränkungen; erweiterte Einschränkungen bei unmöglicher Befragung: Unerreichbarkeit; besonders vorsichtige Beweiswürdigung; Hinwirkungspflichten des Staates; Rechtshilfe; Unmittelbarkeitsprinzip); Recht auf ein faires Strafverfahren (Gesamtbetrachtung und Gesamtrecht); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. d EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 96 StPO (analog); § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO; § 251 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 StPO; § 261 StPO

1. Wenn eine Verurteilung nur oder in entscheidendem Ausmaß auf Aussagen beruht, die von einer Person gemacht worden sind, hinsichtlich derer der Angeklagte weder während der Ermittlungsphase noch während des gerichtlichen Hauptverfahrens eine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen, sind die Verteidigungsrechte - abgesehen vom Fall der tatsächlichen Unerreichbarkeit der Person - in einem Ausmaß beschränkt, das mit den von Art. 6 EMRK gewährten Garantien unvereinbar ist.

2. Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK verlangen den Vertragsstaaten ab, aktive Schritte zu unternehmen, um den Angeklagten in die Lage zu versetzen, Belastungszeugen insbesondere durch eine in seiner Anwesenheit erfolgenden Befragung prüfen zu können oder prüfen zu lassen. Allerdings verpflichtet dies nicht zu Unmöglichem; vorausgesetzt, dass den Behörden keine mangelnde Sorgfalt bei ihren Bemühungen vorgeworfen werden kann, dem Angeklagten eine Gelegenheit zur Prüfung des fraglichen Zeugen zu ermöglichen, macht es die Unerreichbarkeit des Zeugen als solche nicht erforderlich, die Strafverfolgung einzustellen. Beweismittel, die von einem Zeugen unter Bedingungen erlangt worden sind, in denen die Rechte der Verteidigung nicht im normalerweise von der Konvention geforderten Umfang gewahrt worden sind, sollten jedoch mit außergewöhnlicher Sorgfalt behandelt werden. Die Verurteilung eines Angeklagten darf - in jedem Falle - nicht allein auf den Aussagen eines solchen Zeugen beruhen.

3. Angaben, die von anonymen Informanten gemacht worden sind, können unter Umständen dann verwertet

werden, wenn die nationalen Behörden relevante und hinreichende Gründe für die Geheimhaltung ihrer Identität vorweisen. Die der Verteidigung hieraus erwachsenden Erschwernisse sind jedoch zur Wahrung der Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. d EMRK hinreichend durch die von den Justizorganen angewendeten Verfahren auszugleichen. Bei der Prüfung, ob diese Verfahren einen hinreichenden Ausgleich darstellen, um die für die Verteidigung verursachten Erschwernisse auszugleichen, muss dem Ausmaß gebührendes Gewicht beigemessen werden, in welchem die anonymen Zeugenaussagen für die angegriffene Verurteilung entscheidend gewesen sind.

4. Alle Beweismittel müssen grundsätzlich in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Hauptverhandlung mit der Möglichkeit zur Erörterung durch die Prozesskontrahenten erhoben werden. Es gibt von diesem Prinzip Ausnahmen, doch dürfen diese nicht die Rechte der Verteidigung verletzen. In der Regel erfordern diese Rechte, dass der Angeklagte eine adäquate und geeignete Gelegenheit erhält, einen Belastungszeugen in Frage zu stellen und ihn zu befragen, entweder wenn er seine Aussage macht oder zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens.

5. Dem Begriff des Zeugen in Art. 6 Abs. 3 lit. d kommt im Konventionssystem eine autonome Bedeutung zu. Folglich stellt eine Aussage dann, wenn sie zu einem erheblichen Grad als Grundlage für eine Verurteilung dienen kann, ein Beweismittel dar, auf das die von Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. d EMRK eröffneten Garantien Anwendung finden, unbeschadet dessen, ob sie nach nationalem Recht von einem Zeugen in oder außerhalb des Gerichts oder von einen Mitangeklagten gemacht worden ist.


Entscheidung

65. BVerfG 2 BvR 2056/05 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 1. Februar 2006 (HansOLG Hamburg)

Freiheit der Person; Widerruf der Aussetzung eines Haftbefehls (neue Umstände; wesentlicher Punkt; hohe Straferwartung; Strafantrag der Staatsanwaltschaft; Urteil nach Haftverschonung; nachvollziehbare Feststellungen zur Straferwartung des Beschuldigten; Prognose; Fluchtanreiz; Bestätigung des Vertrauens der Aussetzungsentscheidung); Fall El Motassadeq.

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 GG; § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO

1. Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben, gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-)Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht.

2. Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich.

3. Der erneute Vollzug des Haftbefehls durch den Richter kommt nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nur dann in Betracht, wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen. Dabei kann lediglich eine andere Beurteilung des unverändert gebliebenen Sachverhalts einen Widerruf nicht rechtfertigen.

4. "Neu" im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sind nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Das maßgebliche Kriterium für den Widerruf besteht in einem Wegfall der Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung. Ob dies der Fall ist, erfordert vor dem Hintergrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) eine Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls.

5. Angesichts der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist die Schwelle für eine Widerrufsentscheidung grundsätzlich sehr hoch anzusetzen. Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung stets zu berücksichtigen ist deshalb vor allem, dass der Angeklagte inzwischen Gelegenheit hatte, sein Verhalten gegenüber dem Strafverfahren zu dokumentieren.

6. Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar durchaus geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht.

7. War im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung mit der später ausgesprochenen - auch höheren - Strafe zu rechnen und hat der Beschuldigte die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt, so liegt kein Fall des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vor.


Entscheidung

64. BVerfG 2 BvR 1737/05 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. November 2005 (OLG Köln)

Freiheit der Person (keine Aufrechterhaltung eines außer Vollzug gesetzten Untersuchungshaftbefehls trotz ungewissen Verfahrensfortgangs; Abwägung; Freiheitsanspruch; wirksame Strafverfolgung; verfassungsgemäße Ausstattung der Gerichte durch den Staat); Beschleunigungsgebot (Unterbrechung der Hauptverhandlung; Mutterschutz; überobligationsmäßiger Einsatz der Richter-

bank); Haftsache (Behandlung bei Außervollzugsetzung; Verhältnismäßigkeit).

Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 116 StPO; § 120 Abs. 1 Satz 2 StPO

1. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich regelmäßig gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (vgl. BVerfGE 36, 264, 270; 53, 152, 159).

2. Dies gilt nicht nur für den vollstreckten Haftbefehl, sondern darüber hinaus auch für einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl (§ 116 StPO). Beschränkungen, denen der Beschuldigte durch Auflagen und Weisungen nach § 116 StPO ausgesetzt ist, dürfen nicht länger andauern, als es nach den Umständen erforderlich ist. Allein schon die Existenz eines Haftbefehls kann für den Beschuldigten eine erhebliche Belastung darstellen, weil sich mit ihm regelmäßig die Furcht vor einem (erneuten) Vollzug verbindet (vgl. BVerfGE 53, 152, 161).

3. Eine Haftsache ist deshalb auch dann wie eine Haftsache zu behandeln, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil er außer Vollzug gesetzt ist.

4. Das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verankerten Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Entscheidung über den Anklagevorwurf mit der gebotenen Schnelligkeit herbeizuführen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50); kommt es aufgrund vermeidbarer Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verzögerung, so steht dies der Aufrechterhaltung des Haftbefehls regelmäßig entgegen.

5. Der inhaftierte Beschuldigte hat es nicht zu vertreten, wenn seine Strafsache nicht binnen angemessener Frist zum Abschluss gebracht werden kann, weil familiär bedingte personelle Veränderungen auf der Richterbank mit einer ordnungsgemäßen Bewältigung des Geschäftsanfalls in Haftsachen kollidieren. Es handelt sich insoweit weder um einen unvorhersehbaren Zufall noch um ein schicksalhaftes Ereignis (vgl. BVerfGE 36, 264, 275). Jede andere Beurteilung ist mit der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) unvereinbar.

6. Aufgrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist allgemein anerkannt, dass erst noch bevorstehende Verzögerungen von völlig ungewisser Dauer nicht anders behandelt werden dürfen, als bereits eingetretene. Sind Beginn, Dauer und Beendigung eines Verfahrens gegenwärtig in keiner Weise zeitlich konkret absehbar, so ist dies bei der gebotenen Abwägung zwischen dem Interesse der Rechtspflege an der Aufrechterhaltung des Haftbefehls und den nach § 116 StPO erteilten Weisungen mit dem Freiheitsrecht des Beschuldigten nicht mehr hinnehmbar und muss zur Aufhebung des Haftbefehls und des Aussetzungsbeschlusses führen.

7. Lassen sich Strafverfahren, in denen ein Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist, nicht in angemessener Zeit durchführen, weil der Staat der Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte - aus welchen Gründen auch immer - nicht nachkommt, so hat das unabweisbar die Aufhebung von Haftentscheidungen zur Folge. Hilft der Staat der Überlastung der Gerichte nicht ab, so muss er es hinnehmen und gegebenenfalls auch seinen Bürgerinnen und Bürgern erklären, dass mutmaßliche Straftäter auf freien Fuß kommen, sich der Strafverfolgung und Aburteilung entziehen oder erneut Straftaten von erheblichem Gewicht begehen.


Entscheidung

66. BVerfG 2 BvR 2057/05 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. Dezember 2005 (OLG Koblenz)

Freiheit der Person; Beschleunigungsgebot in Haftsachen (Untersuchungshaft über fünf Jahre und zehn Monate; Detailprüfung; geringe Hauptverhandlungsdichte; Urteilsabsetzungsfrist; verzögerte Zustellung des Urteils; verzögerte Revisionsgegenerklärung); Beschwerdeentscheidung (Würdigung tatsächlicher Grundlagen; Abwägung; Gewicht des staatlichen Strafanspruchs; gerichtliche Verurteilung; Anrechnung der Untersuchungshaft; Strafhaft; Resozialisierung); redaktioneller Hinweis.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 213 StPO; § 275 Abs. 1 StPO; § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstärkt sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 53, 152, 158 f.). Vor diesem Hintergrund kommt es im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann.

2. Erforderlich ist eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft sind dabei stets höhere Anforderungen an das Vorliegen eines rechtfertigenden Grundes zu stellen. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermag aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.

3. Bei absehbar umfangreichen Verfahren in denen sich der Angeklagte in Untersuchungshaft befindet, fordert das Beschleunigungsgebot in Haftsachen stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlungsplanung mit mehr als nur einem

durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche.

4. Ausdruck des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebotes bildet nach Ergehen eines strafrechtlichen Urteils auch die Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 StPO. Diese Höchstfrist entbindet vor allem in Haftsachen das Gericht nicht von der Verpflichtung, die Urteilsgründe des bereits verkündeten Urteils unverzüglich, das heißt ohne vermeidbare justizseitige Verzögerungen, schriftlich niederzulegen. Mit dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen ist demnach eine Vorgehensweise nicht vereinbar, die die Urteilserstellung von vornherein auf das zeitlich fixierte Ende der Frist des § 275 Abs. 1 StPO ausrichtet.

5. Da die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen, sind in jedem Haftfortdauerbeschluss aktuelle Ausführungen zum Vorliegen eines solchen Grundes, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände, vor allem angesichts der seit der letzten Entscheidung verstrichenen Zeit in ihrer Gewichtigkeit verschieben können.

6. Mit einer gerichtlichen Verurteilung vergrößert sich auch das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, weil aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden ist. Gleichwohl rechtfertigt dieser Gesichtspunkt noch nicht, dass der Verurteilte jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Vollverbüßung der ausgesprochenen Strafe in Untersuchungshaft gehalten werden kann. Die verhängte Freiheitsstrafe stellt grundsätzlich nur ein Indiz für das Gewicht der zu verfolgenden Straftat dar. Sie kann auch deshalb nicht ohne weiteres als Maßstab für die mögliche Länge der Untersuchungshaft dienen, weil dies mit dem Resozialisierungszweck der Strafhaft in ein Spannungsverhältnis tritt.


Entscheidung

67. BVerfG 2 BvR 2233/04 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 31. Oktober 2005 (BayObLG/LG München I/AG München)

Freiheit der Person; Haftbefehl (Aufhebung; Ersetzung; Beschwerde; weitere Beschwerde; Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untersuchungshaft von Anfang an; Zeitraum; gegenwärtige Beschwer; Rechtsschutzbedürfnis); Feststellungsinteresse bei tief greifenden Grundrechtseingriffen (Effektivität des Rechtsschutzes; Rechtsweggarantie); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (weitere Beschwerde im Falle eines aufgehobenen Haftbefehls).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 310 Abs. 1 StPO; § 112 StPO

1. Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leer laufen" lassen (vgl. BVerfGE 78, 88, 98 f.; 104, 220, 232). Hiervon muss sich das Rechtsmittelgericht bei der Antwort auf die Frage leiten lassen, ob im jeweiligen Einzelfall für ein nach der Prozessordnung statthaftes Rechtsmittel ein Rechtsschutzinteresse besteht.

2. Zwar ist es mit der durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG sowie durch Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten Effektivität des Rechtsschutzes grundsätzlich vereinbar, ein Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben anzusehen, wie eine gegenwärtige Beschwer ausgeräumt, einer Wiederholungsgefahr begegnet oder eine fortwirkende Beeinträchtigung beseitigt werden kann. Jedoch kann ein Feststellungsinteresse vor allem bei schwerwiegenden, tatsächlich aber nicht mehr fortwirkenden Grundrechtseingriffen fortbestehen. Solche kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die das Grundgesetz vorbeugend dem Richter vorbehalten hat.

3. Das Feststellungsinteresse hängt nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen bestehende Rehabilitierungsinteresse weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme, noch davon ab, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der (Untersuchungs-)Haft erlangt werden kann. Die Beschwerde darf in solchen Fällen nicht wegen prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden; vielmehr ist die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich erledigten Maßnahme zu prüfen und gegebenenfalls deren Rechtswidrigkeit festzustellen (vgl. BVerfGE 96, 27, 41 f.; 104, 220, 235 f.).

4. Das Feststellungsinteresse des von der Untersuchungshaft Betroffenen umfasst dabei nicht nur den Zeitraum nach Erhebung der Haftbeschwerde, sondern auch den Zeitraum zwischen dieser und dem Erlass des Haftbefehls.

5. Rechtsweg im Sinne von § 90 Abs. 2 BVerfGG ist zunächst jeder in einer Rechtsvorschrift vorgesehene Instanzenzug, der als Rechtsweg ausgestaltet ist (BVerfGE 4, 193, 198; 42, 252 257). Der Grundsatz der Subsidiarität gebietet es, dass der Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpft, um die geschehenen Grundrechtsverletzungen zu beseitigen (BVerfGE 81, 97, 102 f.).

6. Zwar ist strittig, ob § 310 Abs. 1 StPO auch im Falle eines aufgehobenen Haftbefehls anwendbar ist und es wird in der Rechtsprechung angenommen, dass bei mehreren aufeinander folgenden, denselben Gegenstand betreffenden Haftentscheidungen grundsätzlich nur jeweils die letzte Haftentscheidung angefochten werden kann, jedoch muss der Beschwerdeführer nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde von diesem Rechtsmittel zunächst Gebrauch machen.