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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 175

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 394/24, Beschluss v. 01.10.2024, HRRS 2025 Nr. 175


BGH 6 StR 394/24 - Beschluss vom 1. Oktober 2024 (LG Bayreuth)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose: symptomatischer Zusammenhang).

§ 63 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 26. Februar 2024 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten von den Tatvorwürfen der exhibitionistischen Handlungen, der Leistungserschleichung in zwei Fällen, des Hausfriedensbruchs sowie des Diebstahls wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

1. Das Landgericht hat ? soweit für die Entscheidung von Bedeutung ? im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Der in den Jahren 2018 bis 2023 wegen Erschleichens von Leistungen, Diebstahls und Besitzes von Betäubungsmitteln mehrfach zu Geldstrafen verurteilte Angeklagte leidet an einer inzwischen chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Die Erkrankung äußert sich in inhaltlichen Denkstörungen in Form von Wahnerleben sowie in affektiven Veränderungen mit gesteigerter Anspannung und verbaler Aggressivität. Der Angeklagte ist krankheitsbedingt unter anderem der Überzeugung, an einer schweren Herzkrankheit zu leiden, die durch Masturbation geheilt werden könne.

Am 23. März 2023 fuhr der Angeklagte ohne gültigen Fahrausweis in einem Regionalexpress der DB Regio AG; bereits bei Fahrtantritt hatte er vor, den Fahrpreis in Höhe von 12,46 Euro nicht zu entrichten (Anlasstat 1). Kurz nach Abfahrt des Zuges setzte er sich in ein Abteil der Zeugin T. gegenüber, sah sie an und lachte. Sodann entblößte er seinen Penis und masturbierte, während er die Geschädigte weiterhin ansah. Als diese das Abteil verließ, weil sie sich durch das Verhalten des Angeklagten belästigt fühlte, folgte er ihr hartnäckig, bis sie sich hilfesuchend an einen weiteren Fahrgast wandte, woraufhin der Angeklagte die Flucht ergriff (Anlasstat 2).

b) Sachverständig beraten ist das Landgericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Steuerungsfähigkeit des zur Tatzeit durchgehend unter dem Eindruck psychotischen Erlebens stehenden Angeklagten bei drei der Anklage zugrundeliegenden weiteren Taten (Hausfriedensbruch, Diebstahl, Erschleichen von Leistungen) nicht ausschließbar, bei den beiden Anlasstaten hingegen sicher aufgehoben gewesen sei. Die exhibitionistische Handlung sei als wahnhafter Versuch zu interpretieren, die vermeintliche Herzerkrankung zu heilen.

c) Das Landgericht ist ? dem Sachverständigen folgend ? weiter davon ausgegangen, dass der Angeklagte aufgrund seiner Erkrankung für die Allgemeinheit gefährlich sei. Zwar seien die beiden Anlasstaten nicht als erhebliche Taten im Sinne von § 63 Satz 1 StGB zu werten; es lägen aber besondere Umstände im Sinne des § 63 Satz 2 StGB vor, welche die Erwartung rechtfertigten, dass der Angeklagte in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde. Es seien künftig nicht nur erneut exhibitionistische Handlungen zu erwarten; vielmehr bestehe darüber hinaus die Gefahr, dass der Angeklagte künftig erhebliche Körperverletzungsdelikte begehen werde. Denn er habe am 18. Oktober 2022 seinen fünfzehnjährigen Bruder mit einem Brotmesser bedroht und angekündigt, ihn zu töten. Am 31. Oktober 2022 habe er seinen Bruder im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Faust auf den Hinterkopf geschlagen, ihn kraftvoll mit beiden Händen gewürgt und im Rahmen der anschließenden Rangelei mit einem Messer eine Schnittverletzung an der Hand zugefügt. Ihm sei in Konfliktsituationen aufgrund seines psychotischen Zustands „eine Affinität zu Messern zu attestieren“. Ferner sei er in der Justizvollzugsanstalt durch gereiztes, aufbrausendes, unkooperatives und zum Teil fremdaggressives Verhalten aufgefallen. Er habe angegeben, Panzer, Granaten und Waffen zu besitzen, um Zombies zu töten, und sei zeitweise wegen „Gewalttätigkeit“ gegen Personen in einem gesondert gesicherten Haftraum untergebracht worden. Dabei habe er einmal so getan, als halte er ein Gewehr in Händen. In der Hauptverhandlung habe er vorgegeben, schießen zu können. All dies deute auf ein erhöhtes Gewaltpotential des Angeklagten hin.

2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) kann nicht bestehen bleiben. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Gefährlichkeitsprognose (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Februar 2024 - 2 StR 341/23, Rn. 14 mwN) begründet hat, halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie sind lückenhaft.

a) Im rechtlichen Ausgangspunkt ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass weder die verfahrensgegenständlichen Taten des Hausfriedensbruchs, des Diebstahls und des Erschleichens von Leistungen noch die beiden „Anlasstaten“ erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB und damit geeignet sind, die Annahme zu tragen, dass der Angeklagte für die Allgemeinheit gefährlich ist.

Seine Auffassung, dass dem Angeklagten „in Konfliktsituationen aufgrund seines psychotischen Zustandes eine Affinität zu Messern zu attestieren“ und deshalb künftig mit der Begehung erheblicher Taten zu rechnen sei, hat das Landgericht nicht tragfähig begründet. Es hat maßgeblich auf „Tätlichkeiten“ des Angeklagten gegenüber seinem Bruder im Oktober 2022 abgestellt. Die Urteilsgründe lassen jeglichen Beleg dafür vermissen, dass es sich dabei ? wie das Landgericht in seinen einleitenden zusammenfassenden Ausführungen festgehalten hat ? um „psychotisch bedingte Auseinandersetzungen“ handelte.

aa) Der Senat kann offenlassen, ob die Übergriffe bereits für sich genommen beweiswürdigend tragfähig belegt sind. Die Strafkammer stützt ihre diesbezügliche Überzeugung allein auf die Angaben zweier Polizeibeamter über die informatorische Befragung der Mutter sowie des Bruders des Angeklagten und damit maßgeblich auf die Angaben zweier Zeugen vom Hörensagen. Die Urteilsgründe beschränken sich auf eine knappe Wiedergabe der Angaben der beiden Polizeibeamten und die Würdigung, dass deren Angaben glaubhaft seien. Es fehlt an jeglichen Beweiserwägungen dazu, ob die Angaben der Zeugen vom Hörensagen (vgl. BGH, Beschluss vom 13. April 2023 - 4 StR 413/22, Rn. 8 zur Schwierigkeit dieser Beweislage und den Anforderungen, die von Rechts wegen an die Überzeugungsbildung zu stellen sind) einen tragfähigen Rückschluss auf das tatsächliche Geschehen und die näheren Umstände der Auseinandersetzung zulassen.

bb) Jedenfalls fehlt es an einem Beleg für die tatgerichtliche Annahme eines symptomatischen Zusammenhangs der Geschehnisse mit der Erkrankung des Angeklagten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Taten zur Begründung der Gefährlichkeitsprognose ohne Weiteres nur herangezogen werden, wenn auch sie auf der Erkrankung des Angeklagten beruhen und ihnen daher Symptomcharakter zukommt (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 19. Januar 2021 - 4 StR 449/20, Rn. 20; vom 7. September 2021 - 1 StR 255/21, Rn. 10; vom 15. Mai 2023 - 6 StR 146/23, NStZ-RR 2023, 201, 202; vom 14. Februar 2024 - 2 StR 341/23, Rn. 15; weitergehend BGH, Beschlüsse vom 15. August 2023 ? 5 StR 302/23, Rn. 15; vom 30. Mai 2024 ? 5 StR 390/23, Rn. 11). Den Urteilsgründen kann auch in ihrem Zusammenhang nicht entnommen werden, dass die Erkrankung des Angeklagten für die beiden Taten zum Nachteil seines Bruders handlungsleitend war. Solches versteht sich auch nicht von selbst; denn die Übergriffe erfolgten im Rahmen einer familiären Auseinandersetzung und könnten auch normalpsychologisch erklärbar sein (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2021 - 6 StR 457/21, Rn. 5).

cc) Schließlich hätte das Landgericht nicht unerörtert lassen dürfen, dass der Angeklagte trotz „langjähriger“ Erkrankung bisher nicht wegen (krankheitsbedingter) Gewaltdelikte aufgefallen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Oktober 2021 - 6 StR 457/21, Rn. 7; vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 317/20, Rn. 8 zur prognostischen Bedeutung dieses Umstands).

b) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil im Maßregelausspruch auf diesen Erörterungsmängeln beruht.

3. Über die Anordnung der Maßregel ist deshalb erneut zu entscheiden. Der Senat hebt auch den Freispruch mit auf. Daran ist er nicht deswegen gehindert, weil nur der Angeklagte Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO); dem neuen Tatgericht bleibt es aber verwehrt, erneut die Unterbringung anzuordnen und zugleich wegen der Anlasstaten erstmals Strafen zu verhängen (vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 2023 - 6 StR 22/23, Rn. 15). Der Senat hebt auch die getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen auf, um dem Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie neue Feststellungen zu ermöglichen.

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 175

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede