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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 1023

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 146/24, Beschluss v. 18.03.2025, HRRS 2025 Nr. 1023


BGH 6 StR 146/24 - Beschluss vom 18. März 2025 (LG Saarbrücken)

Sexualdelikte; Beweiswürdigung („Aussage-gegen-Aussage“-Konstellation: einziger Belastungszeuge, ganzes oder teilweises nicht mehr Aufrechterhalten der Vorwürfe, erhebliche Erweiterung, Herausstellen der Unwahrheit eines Aussageteils).

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

1. Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag und seine Kosten Wiedereinsetzung in den Stand vor Ablauf der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 2. November 2023 gewährt.

2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Der Angeklagte beantragt Wiedereinsetzung in den Stand vor Ablauf der Frist zur Begründung der Revision und stützt seine Revision auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts. Der Wiedereinsetzungsantrag erweist sich aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts als begründet. Die Revision hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), so dass es auf die Verfahrensrügen nicht mehr ankommt.

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Die 2004 geborene Nebenklägerin lebte seit 2012 im Rahmen einer Familienwohngruppe als Pflegekind im Haushalt des Angeklagten und dessen Ehefrau. Neben seiner Ehefrau, die Leiterin der Wohngruppe war, und zeitweise zur Unterstützung hinzugezogener Erzieherinnen nahm auch der Angeklagte Erziehungsaufgaben wahr. Er übernahm unter anderem Fahrdienste, erledigte Einkäufe und unterstützte die Nebenklägerin sowie zwei weitere Pflegekinder der Wohngruppe bei ihren schulischen Aufgaben. Der Angeklagte beging drei sexuelle Übergriffe zum Nachteil der Nebenklägerin:

Während der Geburtstagsfeier seiner Ehefrau im Februar 2017 setzte er sich im Wohnzimmer neben die Nebenklägerin auf eine Couch. Anschließend legte er sich hinter sie, griff mit einer Hand unter ihre Schlafanzug- und Unterhose und führte mindestens einen Finger in ihre Scheide ein. Sodann bewegte er seinen Finger mehrere Sekunden lang in ihrer Vagina (Fall 1 der Urteilsgründe).

Im Sommer 2019 betrat er das Zimmer der nunmehr 15-jährigen Nebenklägerin, die zu diesem Zeitpunkt auf ihrem Bett saß. Er setzte sich vor sie und fasste ihr in sexueller Erregung einige Sekunden lang über der Kleidung an ihre Brüste und drückte diese leicht. Zudem versuchte er, ihr T-Shirt hochzuziehen, was die Nebenklägerin jedoch abwehren konnte (Fall 2 der Urteilsgründe).

Im Herbst 2019 suchte er erneut ihr Zimmer auf, um ihr an die Brüste zu fassen. Hierzu bewegte er sich auf die Nebenklägerin zu, die immer weiter zurückwich, bis sie mit dem Rücken an einer Tür stand und nicht weiter ausweichen konnte. Er fasste mit beiden Händen unter ihr T-Shirt und hielt ihre Brüste einige Sekunden lang fest (Fall 3 der Urteilsgründe).

b) Das Landgericht hat den die Taten bestreitenden Angeklagten auf Grundlage dieser Feststellungen, die es zum eigentlichen Tatgeschehen allein auf die Bekundungen der Nebenklägerin gestützt hat, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1, § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB idF vom 27. Januar 2015, § 52 Abs. 1 StGB (Fall 1 der Urteilsgründe) sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB idF vom 27. Januar 2015 (Fälle 2 und 3 der Urteilsgründe) verurteilt. Von dem Vorwurf einer im Mai 2020 begangenen versuchten Nötigung hat es den Angeklagten freigesprochen, weil es die Aussage der Nebenklägerin insoweit wegen unauflösbar widersprüchlicher Angaben nicht für glaubhaft erachtet hat.

2. Die den Feststellungen im Fall 1 der Urteilsgründe zugrundeliegende Beweiswürdigung weist - auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 2024 - 6 StR 286/24, Rn. 8; Beschlüsse vom 16. Januar 2024 - 4 StR 428/23, Rn. 13; vom 16. Juni 2021 - 1 StR 109/21, Rn. 10) - durchgreifende Rechtsfehler auf.

a) Beruht die Überzeugung von der Schuld eines bestreitenden oder schweigenden Angeklagten allein auf der Aussage eines Belastungszeugen („Aussage gegen Aussage“), bedarf es - was das Landgericht nicht verkannt hat - einer besonders sorgfältigen Würdigung (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. Dezember 2024 - 6 StR 232/24, Rn. 6; vom 7. Mai 2024 - 4 StR 197/23, Rn. 7; vom 12. August 2021 - 1 StR 162/21, NStZ-RR 2022, 26 f. mwN), zumal dann, wenn dieser einzige Belastungszeuge seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält, sie erheblich erweitert oder sich sogar die Unwahrheit eines Aussageteils herausstellt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. Mai 2024 - 4 StR 197/23, Rn. 7; vom 16. Dezember 2015 ‒ 1 StR 503/15, Rn. 3). In einem solchen Fall muss das Tatgericht - jedenfalls regelmäßig - außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe benennen, die es ihm ermöglichen, der Aussage des Zeugen dennoch zu glauben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. Mai 2024 - 4 StR 197/23, Rn. 7; vom 12. August 2021 - 1 StR 162/21, NStZ-RR 2022, 26, 27; Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 159). Um dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, ist dabei eine Darstellung in den Urteilsgründen zu wählen, die erkennen lässt, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, erkannt, in die Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. April 2023 - 4 StR 400/22, Rn. 7; vom 2. November 2022 - 6 StR 281/22, Rn. 6 mwN).

b) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung nicht in jeder Hinsicht gerecht; sie leidet in zweierlei Hinsicht an durchgreifenden Erörterungsmängeln:

aa) Soweit das Landgericht die Angaben der Nebenklägerin hinsichtlich eines Anklagevorwurfs nicht für glaubhaft erachtet hat, hat es unter Zugrundelegung der vorgenannten Maßstäbe im Ausgangspunkt zutreffend das Vorliegen außerhalb der Aussage der Nebenklägerin liegender gewichtiger Umstände für erforderlich gehalten. Ausgehend hiervon hat es entsprechende Indizien festgestellt, dargelegt und in seine abschließende Gesamtabwägung eingestellt. Dabei hat es jedoch ‒ worauf der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend hingewiesen hat ‒ nicht erkennbar in den Blick genommen, dass sich die von ihm herangezogenen Umstände erst einige Zeit nach dem verfahrensgegenständlichen Geschehen im Februar 2017 ereigneten. So betreffen die in diesem Zusammenhang angeführten Angaben der Zeugin W. Äußerungen des Angeklagten über das Aussehen der Nebenklägerin aus dem Herbst 2019 und sein auffälliges Verhalten ihr gegenüber aus der Zeit danach. Eine in die Gesamtabwägung eingestellte Chatnachricht stammt aus der Zeit eines „Handyverbots“ im Jahr 2020. Auch zu Wahrnehmungen der Zeugin F. kam es erst nach der Offenbarung ihr gegenüber im Dezember 2019. Der zeitliche Abstand von mindestens zwei Jahren seit der Tat ist für die Frage, welcher Beweiswert den herangezogenen Indizien im Rahmen der Gesamtwürdigung beizumessen ist, von Bedeutung und hätte daher für die Bewertung der Aussage der Nebenklägerin zu diesem Fall näherer Erörterung bedurft.

bb) Darüber hinaus hat das Landgericht zwar erörtert, dass die Nebenklägerin ein vaginales Eindringen des Angeklagten mit dem Finger erstmals in ihrer zweiten polizeilichen Vernehmung angegeben hat. So hat es dies mit dem Wesen der Nebenklägerin erklärt, der der Vorfall „extrem peinlich“ gewesen sei. Den Urteilsgründen lässt sich jedoch auch in ihrem Zusammenhang nicht entnehmen, dass sich das Landgericht mit den Abweichungen in ihren Angaben zu diesem - das Kerngeschehen betreffenden - Punkt umfassend auseinandergesetzt hat. Insbesondere geht es im Rahmen der Ausführungen zur Konstanz der Aussage nicht darauf ein, dass die Nebenklägerin zunächst nur von „Berührungen“ und „Anfassen“ durch den Angeklagten gesprochen und gegenüber der Zeugin C. auf Nachfrage Berührungen im Intimbereich sowie ein Eindringen ausdrücklich verneint hatte. Das Landgericht verhält sich auch nicht zu dem Umstand, dass die Nebenklägerin nach ihrer polizeilichen Vernehmung bei der Exploration durch die Sachverständige zunächst wiederum nur davon sprach, der Angeklagte habe sie „an ihrer Vagina“ angefasst, und erst auf Nachfrage erklärte, er sei „in der Vagina“ gewesen.

c) Die Verurteilung im Fall 1 der Urteilsgründe beruht auf den aufgezeigten Erörterungsmängeln. Angesichts der Schwierigkeit der Beweislage kann der Senat nicht ausschließen, dass das Landgericht in diesem Fall bei rechtsfehlerfreier Würdigung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.

3. Dies zieht unter den hier gegebenen Umständen auch die Aufhebung des Urteils in den Fällen 2 und 3 der Urteilsgründe sowie die Aufhebung der Gesamtstrafe und des Adhäsionsausspruchs nach sich. Das Landgericht hat seine Überzeugung hinsichtlich des eigentlichen Tatgeschehens auch insoweit allein auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt. Wenngleich die vorgenannten Mängel die Beweiswürdigung zu diesen Fällen nicht unmittelbar betreffen, kann der Senat aufgrund der Besonderheiten der Beweissituation nicht ausschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu einem abweichenden Beweisergebnis gekommen wäre. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer erneut die Frage möglicher suggestiver Einflüsse in den Blick zu nehmen haben wird. Der bloße Hinweis darauf, dass eine die Suggestion begünstigende „Mangelsituation“ nicht bestanden habe, greift ohne genauere Erörterung der konkreten Lebenssituation der Nebenklägerin zu kurz. Sollte das Landgericht wiederum zu der Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gelangen, wird es im Rahmen der Strafzumessung zu beachten haben, dass gegen die strafschärfende Berücksichtigung des Umstands, dass der Tathandlung im Fall 1 der Urteilsgründe nach über zwei Jahren weitere Taten zum Nachteil der Nebenklägerin folgten, rechtliche Bedenken bestehen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. April 2016 - 2 StR 483/15, Rn. 4; Urteil vom 19. Dezember 2002 - 3 StR 401/02, NStZ-RR 2003, 110,111).

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 1023

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede