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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 860

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 98/23, Beschluss v. 22.03.2023, HRRS 2023 Nr. 860


BGH 6 StR 98/23 (alt: 6 StR 128/22) - Beschluss vom 22. März 2023 (LG Stralsund)

Strafaussetzung (revisionsgerichtliche Kontrolle, Mitteilung der maßgebenden Gründe; Legalprognose, Kriminalprognose; Berücksichtigung nicht angeklagten und nicht abgeurteilten Verhaltens: Eigene prozessordnungsgemäße Feststellungen, Unschuldsvermutung); Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; Aussetzung zugleich mit der Anordnung (Kriminalprognose).

§ 56 Abs. 1, Abs. 2 StGB; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 2 EMRK; § 64 StGB; § 67b Abs. 1 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stralsund vom 11. November 2022 aufgehoben, soweit

a) die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt und

b) von einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine Strafkammer des Landgerichts Neubrandenburg zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt sowie seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Mit Beschluss vom 31. Mai 2022 hat der Senat das Urteil im Strafausspruch sowie insoweit aufgehoben, als die Vollstreckung der Maßregelanordnung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Die zugehörigen Feststellungen hat er aufrechterhalten. Auf dieser Grundlage hat das Landgericht im zweiten Rechtsgang den Angeklagten erneut zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt sowie zum Maßregelausspruch ausgeführt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des § 64 StGB mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht gegeben seien. Die auf die allgemeine Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten hat teilweise Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Während die Überprüfung des Strafausspruchs aus den Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben hat, hält die Entscheidung über die versagte Strafaussetzung zur Bewährung abermals rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Bei der nach § 56 Abs. 1 und 2 StGB zu treffenden Entscheidung steht dem Tatgericht ein weiter Beurteilungsspielraum zu, in dessen Rahmen das Revisionsgericht jede rechtsfehlerfrei begründete Entscheidung hinzunehmen hat (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 13. Juli 2016 - 1 StR 128/16; vom 4. Juli 2019 - 4 StR 47/19, NStZ-RR 2019, 339; vom 12. Mai 2021 - 5 StR 120/20 Rn. 16). Es ist aber erforderlich, dass das Urteil in einer der revisionsrechtlichen Überprüfung zugänglichen Weise die dafür maßgebenden Gründe mitteilt, wenn eine Aussetzung ernsthaft in Betracht kommt. Bei Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu zwei Jahren sind zunächst Ausführungen zum Vorliegen einer günstigen Legalprognose im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB notwendig (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Februar 2015 - 4 StR 418/14 mwN). Diese ist aufgrund aller Umstände zu treffen, aus denen zur Zeit des Urteils auf das weitere Verhalten des Täters geschlossen werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2022 - 1 StR 437/21, StV 2022, 642, 643; Beschlüsse vom 16. August 1989 - 3 StR 225/89, BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 12; vom 17. Dezember 1991 - 5 StR 598/91, BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 23). Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Angeklagten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind (§ 56 Abs. 1 Satz 2 StGB). Wurde eine günstige Kriminalprognose angenommen, ist sodann das Vorliegen besonderer Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB zu erwägen, welche die Strafaussetzung zur Bewährung, als nicht unangebracht erscheinen lassen können.

b) Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des Landgerichts nicht gerecht.

Das Urteil entbehrt tragfähiger Feststellungen zu den aktuellen Lebensverhältnissen des Angeklagten und ist deshalb mit Blick auf die getroffene Legalprognose (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 2 StGB) lückenhaft. Die Strafkammer nimmt ausschließlich Umstände in den Blick, die bis zum Urteil im ersten Rechtsgang vorlagen. Die Urteilsgründe legen indes nahe, dass sich der seit mehreren Jahren suchtkranke und in dieser Sache nicht inhaftierte Angeklagte seit der abgeurteilten Tat, also etwa zwei Jahre, straffrei geführt und bereit sowie in der Lage gezeigt hat, in krisenhaften Situationen ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen (UA S. 11; vgl. bereits BGH, Beschluss vom 31. Mai 2022 - 6 StR 128/22, NStZ 2023, 48). Vor diesem Hintergrund und der - nunmehr ergänzend festgestellten - Vaterschaft des Angeklagten waren insbesondere zu dessen beruflicher und privater Situation sowie zu einer etwaigen therapeutischen Einbindung zum maßgeblichen Urteilszeitpunkt nähere Feststellungen geboten (vgl. BGH, Urteil vom 1. März 1988 - 1 StR 584/87, StV 1988, 385).

Das Landgericht war von dieser Darstellungspflicht nicht dadurch befreit, dass gegen den Angeklagten drei weitere Anklagen beim Schöffengericht Greifswald anhängig sind (UA S. 8). Zwar kann auch nicht angeklagtes und nicht abgeurteiltes Verhalten in die tatgerichtliche Prognose einbezogen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Februar 1987 - 4 StR 56/87; Urteil vom 16. November 1993 - 5 StR 377/93). Erforderlich hierfür sind aber eigene, prozessordnungsgemäß getroffene Feststellungen zur Richtigkeit dieser Beschuldigungen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Juni 2012 - 4 StR 139/12; vom 10. Mai 2017 - 2 StR 117/17; vom 27. Juni 2019 - 1 StR 203/19, NStZ-RR 2019, 336, 337; MüKo-StGB/Groß/Kett-Straub, 4. Aufl., § 56 Rn. 59; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 211, jeweils mwN). Der bloße Verdacht einer weiteren Straftat darf aufgrund der Unschuldsvermutung (Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 2 EMRK) nicht zum Nachteil des Angeklagten verwertet werden (vgl. LK/Hubrach, 13. Aufl., § 56 Rn. 23; SSW-StGB/Claus, 5. Aufl., § 56 Rn. 16). An entsprechenden Feststellungen zu den jeweils zugrundeliegenden Tatvorwürfen, namentlich auch zu den jeweiligen Tatzeitpunkten, fehlt es hier.

2. Soweit das Landgericht von der Anordnung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) abgesehen hat, kann das Urteil ebenfalls keinen Bestand haben. Die Anordnung der Maßregel war in Rechtskraft erwachsen. Der Senat hatte das Urteil des ersten Rechtsgangs ausweislich der maßgeblichen Entscheidungsformel nicht im Ausspruch über die Maßregel, sondern im Ausspruch über deren Aussetzung zur Bewährung (§ 67b Abs. 1 StGB) aufgehoben. Hinsichtlich des Maßregelausspruchs war deshalb im zweiten Rechtsgang nur über diesen noch offenen Verfahrensgegenstand zu entscheiden (vgl. BGH, Urteile vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135, 137; vom 19. Januar 2017 - 4 StR 443/16, NStZ-RR 2017, 187).

3. Auf diesen Rechtsmängeln beruht die Entscheidung (§ 337 Abs. 1 StPO), weil nicht auszuschließen ist, dass das Tatgericht dem Angeklagten bei Würdigung der vorgenannten Gesichtspunkte eine günstige Kriminalprognose gestellt und die verhängte Freiheitsstrafe (§ 56 Abs. 2 StGB) - ebenso wie die Maßregel (§ 67b Abs. 1 StGB) - zur Bewährung ausgesetzt hätte.

4. Die Sache bedarf daher hinsichtlich der Aussetzung des Straf- und des Maßregelausspruchs zur Bewährung neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hielt es für angebracht, das Verfahren an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO). Die zur Strafaussetzung durch die Strafkammer ergänzend getroffenen Feststellungen werden durch die aufgezeigten Fehler nicht berührt, können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO) und ergänzt werden, soweit sie zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 860

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede