HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 362
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 359/23, Beschluss v. 22.08.2023, HRRS 2024 Nr. 362
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 17. Mai 2023
a) im Schuldspruch dahin klargestellt, dass der Angeklagte der sexuellen Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und der sexuellen Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung schuldig ist,
b) im Adhäsionsausspruch
aa) aufgehoben, soweit die Ersatzpflicht des Angeklagten für zukünftige immaterielle und materielle Schäden der Adhäsionsklägerinnen festgestellt worden ist,
bb) dahin ergänzt, dass im Übrigen von einer Entscheidung über die Adhäsionsanträge abgesehen wird.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels, die den Neben- und Adhäsionsklägerinnen dadurch entstandenen notwendigen Auslagen und die durch das Adhäsionsverfahren entstandenen besonderen Kosten zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „sexuellen Übergriffs mit Gewalt“ in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen „sexuellen Übergriffs mit Gewalt“ in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Im Adhäsionsverfahren hat es den Adhäsionsklägerinnen F. und H. jeweils Schmerzensgeld nebst Zinsen zuerkannt und festgestellt, dass der Angeklagte verpflichtet ist, ihnen sämtliche aufgrund der zu ihrem Nachteil begangenen Tat „noch entstehenden, gegenwärtig nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden und sämtliche zukünftige sowie gegenwärtige, aber noch in der Entwicklung befindlichen materiellen Schäden“ zu ersetzen, womit ausweislich der Urteilsgründe alle zukünftigen immateriellen und materiellen Schäden gemeint sind. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten führt zu einer Klarstellung des Schuldspruchs und hat im Adhäsionsausspruch in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Das Landgericht hat zu Recht angenommen, dass der Angeklagte in beiden Fällen des sexuellen Übergriffs (§ 177 Abs. 1 StGB) gegenüber dem Opfer Gewalt anwendete (§ 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB). Der Schuldspruch hat insoweit indes auf sexuelle Nötigung zu lauten (§ 260 Abs. 4 Satz 2 StPO; vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. November 2018 - 3 StR 464/18; vom 17. Februar 2021 - 2 StR 294/20, Rn. 15 f.). Der Senat stellt den Schuldspruch in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO klar.
2. Die Feststellung der Ersatzpflicht des Angeklagten für alle zukünftigen immateriellen und materiellen Schäden der Adhäsionsklägerinnen hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Dem Urteil liegen insoweit folgende Feststellungen und Wertungen zugrunde:
aa) Im Fall II.1 der Urteilsgründe wurde der Angeklagte auf die Adhäsionsklägerin F. aufmerksam, als sie nachts nach Hause ging. Weil er bei ihrem Anblick ein starkes sexuelles Verlangen verspürte, beschloss er, sie zu überfallen, um sich dadurch sexuelle Befriedigung zu verschaffen. Er näherte sich ihr von hinten, stieß sie zu Boden, setzte sich auf sie und schlug ihr mehrmals mit der Faust und der flachen Hand ins Gesicht. Anschließend zog er sie hoch und begann, sie mit einer Hand zu würgen. Sie bekam keine Luft mehr, empfand Todesangst und wurde wenigstens einige Sekunden lang bewusstlos. Der Angeklagte empfand die ausgeübte Gewalt als sexuell erregend und befriedigend. Ob er weitere Handlungen an ihr vornehmen wollte, insbesondere solche, die mit einem Eindringen in den Körper einhergehen sollten, vermochte das Landgericht nicht festzustellen. Er ließ von der Geschädigten ab und flüchtete, als deren Freund sich näherte.
Sie erlitt eine Schwellung am linken Auge, blutige Abschürfungen am Hals, eine minimal dislozierte Nasenbeinfraktur, eine Mittelgesichtsprellung, eine Schulterprellung mit einem großflächigen Hämatom und eine Schwellung am Hinterkopf. Aufgrund der Nasenbeinfraktur kam es zu einem Monokelhämatom am linken Auge. Die Geschädigte wurde ambulant versorgt und erhielt eine Schiene zum Ruhigstellen des Armes, Salbe zum Einreiben und Schmerzmedikation. Der Nasenbeinbruch musste nicht operativ versorgt werden. Sie hatte vier Wochen lang Halsschmerzen und Schluckbeschwerden, etwa zwei Wochen lang außerdem dauerhaft Schmerzen außen am Hals. Sie war insgesamt dreieinhalb Wochen krankgeschrieben und durch die Tat auch psychisch beeinträchtigt. In den ersten Tagen nach der Tat hatte sie Schwierigkeiten, das Bett zu verlassen, und weinte fast nur. Wenn es dunkel ist, verlässt sie das Haus nur noch gemeinsam mit ihrem Freund, der sie auch zu sportlichen Aktivitäten begleitet, weil sie allein zu große Angst hat. Sie hat drei Therapiestunden bei einer Psychologin wahrgenommen und dabei Strategien erlernt, um besser mit ihren Ängsten umzugehen. Sie empfand diese Sitzungen als hilfreich, übereinstimmend mit ihrer Therapeutin aber auch als ausreichend, weil von weiteren Gesprächen keine Hilfe und Besserung ihres Befindens mehr zu erwarten ist. Bei Stress und körperlicher Aktivität empfindet sie bis heute Schmerzen im Halsbereich und Luftnot, und teilweise treten noch sichtbare Würgemale auf. Eine körperliche Ursache für diese Beschwerden konnte nicht festgestellt werden, sie sind psychosomatischer Natur.
bb) Im Fall II.2 der Urteilsgründe erblickte der Angeklagte die Adhäsionsklägerin H., als diese zu Fuß von einem Yogatraining auf einer Wiese kam. Sie trug kurze Sportkleidung. Der Angeklagte fühlte sich durch den Anblick ihrer nackten Beine stark sexuell erregt. Als sie an einer roten Ampel wartete, näherte er sich ihr von hinten, griff mit beiden Händen fest an ihr Gesäß und drückte zu. Anschließend kratzte er ihr, um sein sexuelles Bedürfnis zu befriedigen, jeweils mit mehreren Fingern beider Hände und erheblicher Krafteinwirkung die Oberschenkel hinab, bis zu der tiefsten Stelle, die er erreichen konnte, wobei er sich tief nach unten bückte. Dadurch fügte er ihr erhebliche Schmerzen zu und ritzte ihre Haut in mehreren parallelen Striemen an beiden Oberschenkeln derart auf, dass sie zu bluten begann. Die Geschädigte schrie vor Schmerzen auf.
Eine ärztliche Behandlung ihrer Verletzungen war nicht erforderlich. Sie desinfizierte die Wunden regelmäßig und rieb sie mit entzündungshemmender Salbe ein. Es dauerte drei bis vier Wochen, bis die Wunden vollständig verheilt waren. Sie litt noch mehrere Monate nach der Tat unter Ängsten, sich mit einer Krankheit infiziert zu haben, bis sie aufgrund medizinischer Tests die Gewissheit hatte, dass dies nicht der Fall war. Die Straße, an der sich die Tat ereignete, geht sie nicht mehr entlang, weil diese sie zu sehr an die Tat erinnert. Sie muss häufiger am Tatort entlangfahren und erleidet dann regelmäßig Flashbacks. Sie hat seit der Tat Albträume und fährt nicht mehr allein mit dem Fahrrad in der Stadt.
cc) Das Landgericht hat zur Begründung der Ersatzpflicht des Angeklagten für alle zukünftigen immateriellen und materiellen Schäden der Adhäsionsklägerinnen jeweils ausgeführt, es bestehe die Möglichkeit, dass zukünftig aufgrund der Tat weitere, derzeit noch nicht bekannte Beeinträchtigungen der Geschädigten zutageträten. Im Fall der Adhäsionsklägerin F. gelte dies insbesondere, weil sie bis heute unter erheblichen Ängsten und psychosomatischen Beschwerden leide, die „nach der Lebenserfahrung der Kammer“ mit weiteren Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit verbunden sein könnten, welche entsprechende Behandlungsmaßnahmen erforderten. Das gelte auch für derzeit gegebenenfalls noch nicht bekannte somatische Spätfolgen, die aufgrund der heftigen Einwirkung auf den Kopf als nicht ganz unwahrscheinlich anzusehen seien. Im Fall der Adhäsionsklägerin H. bestehe die Möglichkeit weiterer Beeinträchtigungen insbesondere deshalb, weil sie bis heute unter angstbehafteten Flashbacks und Albträumen leide, die „nach der Lebenserfahrung der Kammer“ mit weiteren Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit verbunden sein und entsprechende Behandlungsmaßnahmen erfordern könnten.
b) Diese Ausführungen belegen nicht, dass das für die Feststellung der Ersatzpflicht des Angeklagten für alle zukünftigen immateriellen und materiellen Schäden der Adhäsionsklägerinnen erforderliche Feststellungsinteresse (§ 256 Abs. 1 ZPO) vorliegt. Dies setzt die Möglichkeit eines zukünftigen Schadenseintritts voraus, wobei eine bloß abstrakt-theoretische Möglichkeit nicht genügt; erforderlich ist vielmehr, dass aufgrund konkreter Anhaltspunkte bei verständiger Würdigung mit dem Eintritt eines zukünftigen Schadens wenigstens zu rechnen ist (vgl. BGH, Urteil vom 16. Januar 2001 - VI ZR 381/99, NJW 2001, 1431, 1432; Beschluss vom 12. November 2019 - 3 StR 436/19, BGHR StPO § 406 Feststellungsurteil 1).
Das ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Danach ist die ärztliche Behandlung der Adhäsionsklägerin F. abgeschlossen, ihre körperlichen Verletzungen sind verheilt. Die körperlichen Verletzungen der Adhäsionsklägerin H. bedurften keiner ärztlichen Behandlung. Beide Adhäsionsklägerinnen sind zwar weiterhin psychisch beeinträchtigt. Es ist aber nicht absehbar, dass sie sich künftig einer Therapie werden unterziehen müssen. Die therapeutische Behandlung der Adhäsionsklägerin F. wurde bereits nach drei Gesprächsterminen beendet, weil ein Therapieerfolg eingetreten war und mit einer weiteren Besserung ihrer verbliebenen psychischen Beeinträchtigungen nicht zu rechnen ist. Vor diesem Hintergrund fehlt es an einer hinreichenden Tatsachengrundlage für die Annahme des Landgerichts, dass weitere Beeinträchtigungen der Adhäsionsklägerinnen eintreten, die nicht schon bei der Bemessung des Schmerzensgeldes hätten berücksichtigt werden können (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2021, 6 StR 389/21), und Behandlungen erforderlich werden könnten; sie erweist sich als bloße abstrakt-theoretische Möglichkeit. Der formelhafte Verweis auf „die Lebenserfahrung der Kammer“ reicht insoweit nicht aus.
3. Die Aussprüche über die Feststellung der Ersatzpflicht des Angeklagten für zukünftige immaterielle und materielle Schäden der Adhäsionsklägerinnen sind deshalb aufzuheben. Insoweit ist gemäß § 406 Abs. 1 Satz 3 StPO von der Entscheidung über die Adhäsionsanträge abzusehen. Der Senat ergänzt das Urteil in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO. Eine Zurückverweisung der Sache zur teilweisen Erneuerung des Adhäsionsverfahrens kommt nicht in Betracht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. März 1987 - 2 StR 106/87, BGHR StPO § 405 Feststellungsmangel 1; vom 4. Dezember 2011 - 5 StR 471/11, BGHR StPO § 406 Grundurteil 6 Rn. 4).
4. Die Ergänzung des Urteils durch den Ausspruch über das Absehen von einer Entscheidung über die Adhäsionsanträge im Übrigen war ohnehin bereits deshalb erforderlich, weil das Landgericht den Adhäsionsklägerinnen Zinsen jeweils erst ab dem 8. Mai 2023 zuerkannt hat, obwohl die beantragten Prozesszinsen gemäß § 404 Abs. 2 StPO, § 291 Satz 1 BGB und entsprechend § 187 Abs. 1 BGB schon ab dem Tag zu entrichten waren, der auf die - hier am 1. Mai 2023 eingetretene - Rechtshängigkeit der Adhäsionsanträge folgt (vgl. BGH, Beschluss vom 4. April 2023 - 6 StR 122/23, Rn. 4).
5. Angesichts des geringen Erfolges der Revision ist es nicht unbillig, den Angeklagten mit den gesamten Kosten seines Rechtsmittels und den notwendigen Auslagen der Nebenklägerin zu belasten (§ 473 Abs. 4 StPO). Gleiches gilt für die durch das Adhäsionsverfahren entstandenen Kosten und die notwendigen Auslagen der Adhäsionsklägerinnen (§ 472a Abs. 2 Satz 1 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 362
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede