HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 610
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 329/23, Urteil v. 03.04.2024, HRRS 2024 Nr. 610
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Amberg vom 15. März 2023 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die der Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
- Von Rechts wegen -
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung (§§ 222, 13 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten und auf die Rügen der Verletzung formellen sowie sachlichen Rechts gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
Nach den Feststellungen des Landgerichts ist die Angeklagte seit dem Jahr 2019 mit L., einem Soldaten der US-Armee, liiert und seit Februar 2021 mit ihm verheiratet. Im Juli 2021 zogen sie in eine gemeinsame Wohnung; am 5. Oktober 2021 wurde der gemeinsame Sohn K. geboren. Wesentliche Bezugsperson für das Kind war die Angeklagte. Sie kümmerte sich „liebevoll, fürsorglich und verantwortungsbewusst“ um den Säugling und nahm mit ihm sämtliche Vorsorgeuntersuchungen wahr. Auch bei sonstigen Erkrankungen des Kindes suchte sie mit diesem eine Kinderarztpraxis auf.
Hingegen verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn zunehmend. Jedenfalls ab dem 17. Januar 2022 war das Kind immer wieder dessen Gewalteinwirkungen ausgesetzt. An diesem Tag bemerkte die Angeklagte eine leicht geschwollene Stelle an der Stirn des Jungen; sie vertraute indes den Angaben ihres Ehemannes, der Junge habe ihm „mal wieder ne Kopfnuss“ gegeben. Am 23. Februar 2022 nahm sie einen Termin bei ihrem Frauenarzt wahr. Während ihrer Abwesenheit wirkte L. massiv auf den Säugling ein; dies führte zu Verletzungen am Kopf und zu Frakturen mehrerer Rippen sowie des linken Schienbeins. Nach ihrer Rückkehr nahm die Angeklagte jedenfalls die Gesichtsverletzungen wahr. Da L. mit dem Kind während ihrer Abwesenheit allein war, wusste sie, dass ihr Ehemann diese Verletzungen verursacht hatte. Gleiches gilt für ein Hämatom auf der Stirn des Kindes, auf das sie ihr Neffe während eines Besuches am 3. März 2022 aufmerksam machte. Aufgrund des schwierigen Verhältnisses des Vaters zu seinem Sohn war die Angeklagte bemüht, die emotionale Beziehung zwischen beiden zu verbessern.
Am Abend des 4. März 2022 hatte die Angeklagte das Kind zu Bett gebracht. Um Mitternacht stand sie auf, bereitete eine Flasche vor und bat ihren Mann, das Kind damit zu füttern. L. verließ mit K. das Schlafzimmer und begab sich in den Küchen-/Wohnzimmertrakt der Wohnung. Dies ließ die Angeklagte zu, obwohl sie von den früheren erheblichen Kopfverletzungen des Kindes und von ihrer Pflicht, es vor Gewalteinwirkungen zu schützen, wusste. Sie vertraute jedoch darauf, dass es während ihrer Anwesenheit in der Wohnung zu keinen schwerwiegenden Verletzungshandlungen durch L. an dem Kind kommen werde. Da K. bei seinem Vater schrie und wenig trank, fügte dieser dem Säugling an Kopf, Rumpf und Beinen mindestens drei massive stumpfe Gewalteinwirkungen zu. L. kehrte in das Schlafzimmer zurück und teilte der Angeklagten mit, dass mit dem Kind etwas nicht stimme. Sie wählte sodann um 1.04 Uhr des 5. März 2022 den Notruf, und beide versuchten, das Kind zu reanimieren. Kurz darauf traf Rettungspersonal in der Wohnung ein und brachte das Kind in ein Krankenhaus. Trotz intensivmedizinischer Versorgung starb es dort an einem zentralen Regulationsversagen infolge eines schweren Schädel-Hirn-Traumas.
Die Beschwerdeführerin wendet sich im Wesentlichen gegen die tatgerichtliche Beweiswürdigung. Sie rügt die Annahme des Landgerichts, die Angeklagte habe lediglich fahrlässig den Tod des Kindes verursacht, und erstrebt deren Verurteilung wegen Totschlags (§ 212 StGB) in Tateinheit mit Misshandlung Schutzbefohlener (§ 225 StGB). Sie beanstandet zudem hilfsweise die Strafzumessung sowie die Aussetzung der verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung.
1. Die Angeklagte unterliegt nach § 3 StGB wegen der in Deutschland begangenen Tat uneingeschränkt der deutschen Gerichtsbarkeit. Dem steht nicht entgegen, dass sie die Ehefrau eines nach Deutschland entsandten Soldaten der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika ist. Denn das Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags über die Rechtsstellung ihrer Truppen (NATO-Truppenstatut, Bekanntmachung vom 16. Juni 1963, BGBl. II 745) gestattet den Militärbehörden des Entsendestaates nicht, in Deutschland die Strafgerichtsbarkeit über Ehegatten eines hierher entsandten Soldaten auszuüben. Das folgt aus Art. I Abs. 1 lit. c, f iVm Art. 7 Abs. 1 lit. a NATO-Truppenstatut (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2020 - 6 StR 373/20, NStZ 2021, 436 mit Anm. Gorf/Dietsch).
2. Der Schuldspruch hält rechtlicher Überprüfung stand.
a) Die von der Staatsanwaltschaft in diesem Zusammenhang erhobene Aufklärungsrüge genügt bereits nicht den Darlegungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts in der Antragsschrift wird Bezug genommen.
b) Auch die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge ergibt keinen revisionsrechtlich relevanten Fehler. Insbesondere die Beweiswürdigung erweist sich als rechtsfehlerfrei. Dies gilt namentlich für die Wertung, die Angeklagte habe den Tod des Kindes nur fahrlässig verursacht, weil es insoweit jedenfalls an dem für ein vorsätzliches Handeln erforderlichen voluntativen Element fehle.
aa) Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und diesen billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten (vgl. BGH, Urteile vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 93; vom 19. August 2020 - 1 StR 474/19, NJW 2021, 326, 327; vom 4. August 2021 - 2 StR 178/20, StV 2022, 162).
Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Die Prüfung, ob Vorsatz oder (bewusste) Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände, wobei es vor allem bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich ist, dass sich das Tatgericht mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und die für das Tatgeschehen bedeutsamen Umstände mit in Betracht zieht (vgl. BGH aaO).
bb) Die dieser Unterscheidung zugrundeliegende Beweiswürdigung weist nach dem insoweit eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstab (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 12. Januar 2017 ? 1 StR 394/16, NStZ 2017, 714; Beschluss vom 12. August 2021 - 3 StR 441/20, NJW 2021, 2896, 2897; Urteil vom 6. Dezember 2023 - 2 StR 270/23, NStZ-RR 2024, 113) keinen Rechtsfehler auf (§ 301 StPO). Die Würdigung ist weder lückenhaft noch widersprüchlich noch lässt sie besorgen, dass das Landgericht überspannte Anforderungen an seine Überzeugungsbildung gestellt hat.
So hat sich die Strafkammer ausführlich mit dem gesamten Tatvorgeschehen, der Persönlichkeit der Angeklagten, der Beziehung zu ihrem Kind, dem problematischen Vater-Sohn-Verhältnis und den Vorstellungen der Angeklagten dazu auseinandergesetzt. Rechtsfehlerfrei ist das Landgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Angeklagte erst am 23. Februar 2022 erkannte, dass ihr Mann die Gesichtsverletzungen des Kindes verursacht hatte. Es stellt entgegen dem Vorbringen der Revision keinen Widerspruch dar, dass sie trotz dieser Erkenntnis und eines weiteren Hämatoms auf der Stirn des Kindes, das sie am 3. März 2022 bemerkte, darauf vertraute, dass es während ihrer Anwesenheit in der Wohnung zu keinen schwerwiegenden Verletzungshandlungen durch L. kommen werde. Dass die Angeklagte dessen Verhalten weder billigte noch gleichgültig gegenüberstand, stützt das Landgericht rechtsfehlerfrei darauf, dass sie sich stets fürsorglich und verantwortungsbewusst um das Kind gekümmert habe. So habe sie mit dem Kind sämtliche „U-Untersuchungen“ wahrgenommen. Auch bei bestehenden Infekten und sonstigen Erkrankungen habe sie eine Kinderarztpraxis aufgesucht. Zudem habe sie sich nach dem 23. Februar 2022 darum bemüht, die emotionale Bindung zwischen Vater und Sohn zu verbessern. Grundlage für diese Feststellungen waren entsprechende Angaben der Angeklagten in der Beschuldigtenvernehmung sowie gegenüber den Zeuginnen S. und N. .
Ebensowenig ist es widersprüchlich, dass das Landgericht festgestellt hat, der im Erdgeschoss lebende Zeuge Ke. habe um 0.15 Uhr Schreie des Kindes aus dem Obergeschoss gehört, die in der Wohnung befindliche Angeklagte hingegen nicht. Letzteres stützt das Landgericht nachvollziehbar darauf, dass die Angeklagte im Schlafzimmer verblieb, während sich L. mit dem Kind in einen anderen Teil der Wohnung begab, und nicht festgestellt werden konnte, ob und welche Türen zum Tatzeitpunkt in der Wohnung geschlossen waren. Entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin besteht insoweit auch kein Widerspruch zu der Feststellung, die Angeklagte habe darauf vertraut, dass es während ihrer Anwesenheit in der Wohnung zu keinen schwerwiegenden Verletzungshandlungen kommen werde. Denn unabhängig davon, ob sie von ihrem Standort die Wohnung vollständig akustisch überwachen konnte, ist die Angeklagte den Urteilsgründen zufolge davon ausgegangen, dass es schon aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit in der Wohnung nicht zu erneuten Misshandlungen kommen werde.
3. Der Strafausspruch erweist sich ebenfalls als rechtsfehlerfrei. Die Strafrahmenverschiebung nach § 13 Abs. 2 iVm § 49 Abs. 1 StGB ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. Das Tatgericht hat bei der rechtlich gebotenen Gesamtwürdigung alle wesentlichen Umstände geprüft (vgl. BGH, Urteile vom 29 Juli 1998 - 1 StR 311/98, NJW 1998, 3068; vom 17. Juni 2015 - 5 StR 75/15; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 921, 939). Eine erschöpfende Aufzählung sämtlicher Zumessungstatsachen ist dagegen weder bei der Abwägung nach § 13 Abs. 2 StGB noch nach § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO bei der konkreten Strafzumessung notwendig (vgl. zu Letzterem: BGH, Urteil vom 20. Juli 2022 - 5 StR 29/22; MüKo-StPO/Wenske, 2. Aufl., § 267 Rn. 319 ff.; Schäfer/Sander/van Gemmeren aaO Rn. 1352 ff.). Gleiches gilt im Ergebnis für die nach § 56 Abs. 2 Satz 1 StGB erforderliche Gesamtwürdigung (vgl. BGH, Urteile vom 6. Juli 2017 - 4 StR 415/16, NJW 2017, 3011, 3012; vom 16. April 2015 - 3 StR 605/14). Auch diesen Anforderungen wird das Urteil gerecht.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 610
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede