HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 559
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 320/21, Urteil v. 16.02.2022, HRRS 2022 Nr. 559
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 3. Juni 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zur versuchten unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 3 Euro verurteilt. Die zuungunsten des Angeklagten eingelegte und auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen konsumierte der Angeklagte seit dem Vorabend der Tatnacht bei einem Freund Cannabis und Kokain. Auf Bitte des Freundes erklärte er sich im Laufe des Abends dazu bereit, einen verschlossenen Rucksack - über dessen Inhalt nicht gesprochen wurde - zu einer unbekannt gebliebenen Person zu bringen. Er öffnete den Rucksack nicht, hielt es aber für möglich, dass sich darin Betäubungsmittel befinden könnten, und nahm dies billigend in Kauf; nähere Vorstellungen zu Art, Qualität und Menge „der von ihm vage und pauschal für möglich erachteten Substanzen“ machte er sich nicht. Der Angeklagte bekam als Kurierlohn von seinem Freund 100 Euro und sollte zudem bei einem nächsten Treffen fünf Gramm Kokain erhalten.
Er nahm den Rucksack an sich und begab sich weisungsgemäß auf den Weg zu der ihm genannten Adresse, für den er etwa 15 Minuten Fahrtzeit veranschlagte. In seinen Jackentaschen führte er einen Teleskopschlagstock und ein funktionstüchtiges Tierabwehrspray bei sich. Auf diese Gegenstände wies er auf polizeiliche Nachfrage im Rahmen einer Verkehrskontrolle hin. Sie wurden neben einem Mobiltelefon, zwei 50-EuroScheinen und dem Rucksack sichergestellt, in dem sich 27,506 g Blütenstände von Cannabispflanzen (Wirkstoffgehalt 4,271 g Tetrahydrochlorid), 226,97 g Haschisch (Wirkstoffgehalt 53,21 g Tetrahydrochlorid), 78,68 g Kokain (Wirkstoffgehalt 73,70 g Kokainhydrochlorid) und 236,52 g Amphetamingemisch (Wirkstoffgehalt 27,23 g Amphetaminbase) befanden.
2. Das Landgericht hat die Tat abweichend von Anklage und Eröffnungsbeschluss, die von einem bewaffneten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln ausgegangen waren, als Beihilfe zur versuchten unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 29 Abs. 2 BtMG, §§ 22, 23 Abs. 1, § 27 StGB gewertet. Es hat „keine hinreichenden Feststellungen zu einer auf Umsatz gerichteten eigenen (mit)täterschaftlichen Tätigkeit des Angeklagten oder zu einer fremden, ggf. teilnahmefähigen, Tätigkeit eines Dritten“ zu treffen vermocht. Zudem habe er in Bezug auf eine nicht geringe Menge nicht vorsätzlich gehandelt. Ein Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge scheide aus, da der Angeklagte als Bote keine eigene Verfügungsgewalt über die Betäubungsmittel gehabt habe.
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Der Schuldspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil die Beweiswürdigung zum Vorteil des Angeklagten - auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfungsmaßstabes (st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa BGH, Urteil vom 10. November 2021 - 5 StR 127/21; Beschluss vom 25. Januar 2022 - 3 StR 470/21) - durchgreifende Rechtsfehler enthält.
1. Die beweiswürdigenden Ausführungen zum Vorsatz des Angeklagten in Bezug auf das Vorliegen einer nicht geringen Menge lassen besorgen, dass die Strafkammer überspannte Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt hat; sie sind zudem lückenhaft und lassen die gebotene Gesamtwürdigung der einzelnen Beweisergebnisse vermissen.
a) Es ist insbesondere weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 10. November 2021 - 5 StR 127/21; vom 30. Juli 2020 - 4 StR 603/19, NStZ 2021, 116 mwN). Danach sind auch entlastende Angaben des Angeklagten nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 10. November 2021 - 5 StR 127/21; vom 14. Oktober 2020 - 5 StR 165/20, NStZ 2021, 286 mwN).
Zwar ist die Strafkammer angesichts des Einlassungsverhaltens des Angeklagten, der seinen Freund nicht namentlich benannt und sich in Bezug auf Nachfragen „durchgehend bedeckt gehalten“ hat, von einem indiziell nachteiligen Teilschweigen ausgegangen (vgl. zu diesem Aspekt BGH, Urteile vom 2. Februar 2022 - 5 StR 282/21; vom 10. Mai 2017 - 2 StR 258/16). Das Urteil teilt jedoch nicht mit, zu welchen Nachfragen sich der Angeklagte nicht geäußert hat. Hierzu hätte aber schon deshalb Anlass bestanden, weil er nach den Feststellungen in Bezug auf das angeblich fehlende Bewusstsein für das Mitführen der Waffen der Lüge überführt ist. Dem Senat ist es daher weder möglich, die Würdigung des Landgerichts nachzuvollziehen, noch den Schluss zu überprüfen, der Angeklagte habe „auf die Kammer einen offenen und aufrechten Eindruck“ gemacht.
Das Landgericht hat noch zutreffend in den Blick genommen, dass der Angeklagte sich erstmals zu Beginn der Hauptverhandlung eingelassen und seine Angaben daher nicht an das Ergebnis der Beweisaufnahme angepasst hat. Es hat sich indes nicht mit der sich sodann aufdrängenden Frage beschäftigt, ob der Angeklagte seine Einlassung an den Akteninhalt ausgerichtet haben könnte und ob daher seiner Schilderung ein geringerer Beweiswert beizumessen gewesen wäre.
Die Strafkammer hat nicht widerspruchsfrei begründet, warum der Angeklagte sich einerseits weder zu Art, Qualität noch Menge der transportierten Betäubungsmittel nähere Vorstellungen gemacht (vgl. zur Annahme bedingten Vorsatzes in solchen Fällen BGH, Urteile vom 21. August 2019 - 1 StR 218/19, NStZ 2020, 44; vom 5. Juli 2017 - 2 StR 110/17 jeweils mwN), andererseits aber nicht damit gerechnet haben will, dass der Rucksack unterschiedliche Betäubungsmittel in so großen Mengen enthalten habe. Letzteres setzt aber denknotwendig nähere Vorstellungen zum Inhalt voraus, die der Angeklagte gerade in Abrede stellt.
Dass das Landgericht ein beim Angeklagten nur „vages und pauschales Vorstellungsbild, möglicherweise Betäubungsmittel zu transportieren“ und ein nicht näher konkretisiertes Bewusstsein mit einer durch den Konsum von Kokain bedingten inneren Enthemmung und einer herabgesetzten Kritikfähigkeit begründet, ist schon für sich genommen kaum nachzuvollziehen und steht zudem in gewissem Widerspruch zur Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit.
Die Strafkammer hat zwar im Ausgangspunkt zutreffend den Angeklagten belastende Aspekte (hohes Verlustrisiko für Auftraggeber des Transports, relativ hohe Entlohnung) als Indiz dafür erkannt, dass die „Einlassung abwegig ist“. Diesen Umstand hat sie aber umgehend damit entkräftet, dass „nicht zwingend“ „nur auf diesen, für den Angeklagten ungünstigen, Hintergrund zu schließen wäre“. Dies offenbart einen falschen Maßstab richterlicher Überzeugungsbildung (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 - 4 StR 603/19, NStZ 2021, 116, 117).
b) Ferner ist die Beweiswürdigung lückenhaft, weil die Strafkammer nicht ersichtlich bedacht hat, dass ein zunächst freundliches und kooperatives Verhalten des Angeklagten bei der polizeilichen Kontrolle und das Unterlassen eines Fluchtversuchs auch andere Gründe haben können als eine von ihr angenommene Unkenntnis vom genauen Inhalt des Rucksacks.
c) Das Landgericht ist auch nicht seiner Aufgabe gerecht geworden, die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung einzustellen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 20. Oktober 2021 - 1 StR 46/21 mwN). Es hat vielmehr jedes Indiz einzeln betrachtet und dieses darüber hinaus mit der fehlerhaft isolierten Anwendung des Zweifelssatzes entwertet. Der Grundsatz in dubio pro reo ist indes keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2021 - 5 StR 271/21). Richtigerweise hätten deshalb die zahlreichen gegen die Einlassung sprechenden Tatsachen, die das Landgericht in den Blick genommen hat (Teilschweigen, vorheriger Konsum von Kokain, hohes Verlustrisiko des Auftraggebers, Höhe des Kurierlohns, Lüge hinsichtlich der Kenntnis von den mitgeführten Waffen), zunächst mit vollem Gewicht in die Gesamtwürdigung eingestellt werden müssen. Erst im Anschluss daran hätte - bei danach bestehenden Zweifeln - der Zweifelssatz angewendet werden dürfen.
2. Zudem fehlt eine Würdigung dazu, weshalb sich die Beihilfehandlung des Angeklagten nur auf eine Abgabe und nicht auf das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln bezogen hat. Letzteres hätte auf der Grundlage der Feststellungen in den Blick genommen werden müssen. Hierzu bleibt unerörtert, was sich der Angeklagte auch angesichts seiner Entlohnung zum Hintergrund des Drogentransports vorgestellt hat.
Das neu zuständige Tatgericht wird zu bedenken haben, dass Besitz im Sinne des Betäubungsmittelrechts ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis und einen Besitzwillen voraussetzt, der darauf gerichtet ist, sich die Möglichkeit ungehinderter Einwirkung auf die Sache zu erhalten (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. August 2020 - 1 StR 247/20, NStZ 2021, 52 Rn. 6; vom 25. September 2018 - 3 StR 113/18, BGHR BtMG § 29a Abs. 1 Nr. 2 Besitz 8).
Sollte es abermals feststellen, dass die Drogen sich auf der vom Angeklagten allein durchgeführten Kurierfahrt in dem mitgeführten Rucksack befanden und er ungeachtet der Weisung des Auftraggebers, den direkten Weg zu nehmen, rein tatsächlich und ungehindert über die Fahrtroute und den Verbleib der Betäubungsmittel bestimmen konnte, lässt allein der Umstand, dass die Verfügungsgewalt auf „wenige Minuten“ beschränkt war, eine von Besitzwillen getragene tatsächliche Sachherrschaft über die Betäubungsmittel und damit den Besitz im Sinne des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BtMG nicht entfallen. Denn die tatsächliche Dauer der Sachherrschaft stellt zwar ein Indiz für die Begründung eigener, von einem Besitzwillen getragener Herrschaftsgewalt über die Betäubungsmittel dar, ist aber keine zusätzliche Voraussetzung für das Vorliegen von Besitz im betäubungsmittelrechtlichen Sinn (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2018 - 3 StR 113/18, BGHR BtMG § 29a Abs. 1 Nr. 2 Besitz 8, NStZ 2020, 41, 42; Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG, 10. Aufl., § 29 Rn. 1007; MüKoStGB/O?lakc?o?lu, 4. Aufl., BtMG § 29 Rn. 1080).
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 559
Bearbeiter: Christian Becker