HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 773
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 524/15, Urteil v. 22.06.2016, HRRS 2016 Nr. 773
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 30. April 2015 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die den Nebenund Adhäsionsklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen; im Übrigen wird davon abgesehen, ihm die Kosten des Rechtsmittels aufzuerlegen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung in Anwendung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG zu einer Einheitsjugendstrafe von 13 Jahren und sechs Monaten verurteilt und Adhäsionsentscheidungen getroffen. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatten sich der zur Tatzeit 20 Jahre und einen Monat alte Angeklagte und das Tatopfer, die 14-jährige A. B., über das Internet kennengelernt. Ende Oktober 2013 kam es zu einem ersten persönlichen Treffen, bei dem A. feststellen musste, dass der Angeklagte wesentlich älter war, als er angegeben hatte; auch im Übrigen war sie von ihm enttäuscht und hatte kein Interesse mehr an einem persönlichen Kontakt. Auf sein Drängen ließ sie sich jedoch zu einem weiteren Besuch des Angeklagten bei ihr überreden. Hierbei teilte A. ihm mit, dass die Beziehung beendet sei. Der Angeklagte gab vor, die Heimreise antreten zu wollen, und ließ sich am 17. November 2013 von A. s Mutter nach Berlin zum Busbahnhof bringen.
Am Nachmittag des Folgetages befand sich A. in Begleitung eines Mitschülers, des ebenfalls 14-jährigen Nebenklägers H., auf dem Heimweg von der Schule. In einem Waldstück traf sie auf den Angeklagten. Sie war überrascht, da er ihr am Vortag in einer Textnachricht mitgeteilt hatte, er befinde sich im Bus nach Köln. A. und der Angeklagte begannen nunmehr zu streiten, während sich der Nebenkläger etwas abseits hielt. Als A. das Gespräch schließlich beendete, sich umdrehte und zum Gehen wandte, schlug der in seiner Schuldfähigkeit nicht relevant beeinträchtigte Angeklagte mit einer Bierflasche dreimal auf ihren Hinterkopf. Verärgert und wütend über das Ende der Beziehung beabsichtigte er spätestens in diesem Moment, sie zu töten. A., die nicht mit einem Angriff gerechnet hatte, ging zu Boden. Der Angeklagte zog sie zu seinem in der Nähe abgestellten Rucksack und entnahm diesem ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von etwa zehn Zentimetern. Hiermit versetzte er ihr mehrere tiefe Stiche in den Kopf, den Hals, die Brust und den Bauch. Sodann entnahm er dem Rucksack ein weiteres Messer, dessen gezackte Klinge eine Länge von etwa 20 Zentimetern hatte. Mit diesem stach er in fortwährender Tötungsabsicht vielfach und mit aller Kraft in A. s Oberkörper und Kopf, deren Sweatshirt er zuvor bis zur Brust hochgeschoben hatte. Anschließend drehte er sie um und versetzte ihr weitere Stiche in den Rücken. Der letzte Stich war derart wuchtig, dass das Messer den Körper mit der Schneide bis zum Schaft durchstach und im Erdreich stecken blieb.
Als der Nebenkläger des Angriffs auf seine Mitschülerin gewahr wurde, rannte er auf den Angeklagten zu und versuchte, dessen Arm zu fassen und ihn von weiteren Stichen abzuhalten. Der Angeklagte stach nun auch in Richtung des Nebenklägers und fügte ihm eine Schnittverletzung an der Hand zu, woraufhin der Nebenkläger zu einer nahe gelegenen Straße lief, um von dort Hilfe herbeizuholen. Währenddessen stach der Angeklagte weiter auf A. ein. Insgesamt versetzte er ihr mindestens 78 Stich- und Schnittverletzungen in den Oberkörper, den Hals und den Kopf; dabei wurde durch kräftiges Einstechen auf ihren Hinterkopf auch ein Stück des Schädeldachs herausgebrochen. A., die sich zunächst noch etwa ein bis zwei Minuten durch Abwehrhaltungen gegen den Angeklagten zur Wehr gesetzt hatte, erlag einige Minuten später ihren Verletzungen.
2. Den vom Angeklagten erhobenen Verfahrensbeschwerden bleibt aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen der Erfolg versagt.
3. Auch die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat weder zum Schuldspruch noch zum Rechtsfolgenausspruch einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
a) Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei die Mordmerkmale der Heimtücke und der sonstigen niedrigen Beweggründe bejaht. Soweit es mit Blick auf das weitere Mordmerkmal der Grausamkeit angenommen hat, dass die Tat diesbezüglich „im Grenzbereich“ liege, so dass sich dieses Mordmerkmal nicht mit Sicherheit feststellen lasse (vgl. UA S. 65), ist der Angeklagte jedenfalls nicht beschwert. Die Tat zum Nachteil des Nebenklägers H. hat die Strafkammer rechtlich zutreffend als gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB gewertet.
b) Der Rechtsfolgenausspruch erweist sich ebenfalls als rechtsfehlerfrei. Weder gegen die Anwendung von Jugendrecht auf den Angeklagten nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG noch gegen die Verhängung von Jugendstrafe gemäß § 17 Abs. 2 JGG ist von Rechts wegen etwas zu erinnern. Dies gilt schließlich auch für die Anwendung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG und die ihr zugrunde liegende Annahme der besonderen Schwere der Schuld des Angeklagten.
aa) Die Entscheidung der Frage, ob die besondere Schwere der Schuld zu bejahen ist, hat das Tatgericht unter Abwägung aller im Einzelfall für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände zu treffen (vgl. BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 22. November 1994 - GSSt 2/94, BGHSt 40, 360, 370; Urteile vom 2. März 1995 - 1 StR 595/94, BGHSt 41, 57, 62; vom 18. Juni 2014 - 5 StR 60/14, BGHR StGB § 57a Abs. 1 Schuldschwere 29). Dem Revisionsgericht ist bei der Nachprüfung der tatgerichtlichen Wertung eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle versagt. Es hat nur zu prüfen, ob das Tatgericht alle maßgeblichen Umstände bedacht und rechtsfehlerfrei abgewogen hat; es ist aber gehindert, seine eigene Wertung an die Stelle derjenigen des Tatgerichts zu setzen (BGH, Urteil vom 30. März 2006 - 4 StR 567/05, NStZ 2006, 505, 506; Beschluss vom 20. August 1996 - 4 StR 361/96, BGHSt 42, 226, 227).
bb) Die angefochtene Entscheidung hält entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts im Ergebnis revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.
(1) Die von der Rechtsprechung zu § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB entwickelten Maßstäbe sind gleichermaßen auf § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG anzuwenden (vgl. BeckOK JGG/Schlehofer, Stand: 15. März 2016, § 105 Rn. 23 l ff.). Hierfür spricht bereits der insoweit identische Wortlaut der beiden Vorschriften. Darüber hinaus steht diese Auslegung im Einklang mit dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers. Die Begründung des Koalitionsentwurfs führt hierzu aus: „Auch wenn das Jugendstrafrecht vom Erziehungsgedanken geleitet wird und insbesondere bei seiner Anwendung im Einzelfall erzieherische und spezialpräventiv behandlungsorientierte Aspekte im Vordergrund stehen, bleibt es vom Ausgangspunkt her Strafrecht und muss deshalb angemessene Reaktionsmöglichkeiten auf strafrechtlich vorwerfbares Unrecht bereitstellen“ (BT-Drucks. 17/9389 S. 8). Durch § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG soll demnach in Fällen des Mordes einer besonders schweren Schuld Rechnung getragen werden können, wenn das allgemeine Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende von zehn Jahren dafür im Einzelfall auch unter Berücksichtigung des das Jugendstrafrecht leitenden Erziehungsgedankens nicht ausreicht (vgl. BT-Drucks. aaO S. 8 f., 20); aufgrund dieser gesetzgeberischen Entscheidung kommt hier dem Gebot gerechten Schuldausgleichs gegenüber dem Erziehungsgedanken Vorrang zu. Dieser ist im Übrigen Grund dafür, dass im Unterschied zum allgemeinen Strafrecht das Höchstmaß der Jugendstrafe zeitlich begrenzt ist.
(2) Das Landgericht hat - ersichtlich unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens - bei der Prüfung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG alle maßgeblichen Umstände bedacht und rechtsfehlerfrei abgewogen. Zwar hat es sie bei diesem gesonderten Zumessungsschritt nicht (nochmals) ausdrücklich benannt. Es hat aber - in zulässiger Weise - auf seine konkreten Strafzumessungserwägungen Bezug genommen.
Als für den Angeklagten sprechende Umstände hat es insbesondere seine bisherige Unbestraftheit, die durch seine Verteidiger in der Hauptverhandlung abgegebene Erklärung, dass er die Tat nicht abstreite, die Zahlung von 500 € als Schmerzensgeld an den Nebenkläger H. und seinen Versuch gewertet, sich bei den Eltern der Getöteten zu entschuldigen; insgesamt hat es keine für den Angeklagten sprechenden Umstände übersehen.
Als schuldsteigernde Gesichtspunkte hat es insbesondere angeführt, dass der Angeklagte äußerst brutal vorgegangen ist und A. eine Vielzahl von Verletzungen zugefügt hat, darunter solche, die äußerst schmerzhaft waren. Weiter hat es in die Abwägung eingestellt, dass der Angeklagte zwei Mordmerkmale erfüllt hat. Zudem hat Berücksichtigung gefunden, dass sich der Angeklagte nicht einmal durch die vom Nebenkläger H. vorgenommene Störung von der weiteren Tatbegehung abhalten ließ, vielmehr auch diesen mit einem Messer verletzte, und dass als Folge der Tat sowohl die Eltern des getöteten Mädchens als auch der Nebenkläger H. schwerwiegende psychische Beeinträchtigungen erlitten haben.
Es lässt keinen Rechtsfehler erkennen, dass die Jugendkammer aufgrund ihrer Gesamtwürdigung dieser Umstände die besondere Schwere der Schuld des Angeklagten bejaht hat und sie damit zur Anwendbarkeit des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG gelangt ist. Die Höhe der festgesetzten Jugendstrafe begegnet ebenfalls keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
4. Die Entscheidung über die Kosten und Auslagen beruht auf § 473 Abs. 1 StPO, § 109 Abs. 2 Satz 1, § 74 JGG.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 773
Externe Fundstellen: BGHSt 61, 193; NJW 2016, 2674; NStZ 2016, 685 ; StV 2016, 716
Bearbeiter: Christian Becker