HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 693
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 380/23, Beschluss v. 28.02.2024, HRRS 2024 Nr. 693
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Münster vom 23. Mai 2023 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
2. In diesem Umfang wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Gegen die Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
Nach den Feststellungen begab sich der Angeklagte mit seinen damals sieben und acht Jahre alten Enkelinnen S. und D. H. in das Schlafzimmer ihrer Eltern und schloss die Tür ab. Er begann mit ihnen Fangen zu spielen. Dabei berührte er S. und D. mehrfach oberhalb der Kleidung an der Brust und im Intimbereich, um sich sexuell zu erregen (Tat II.1 der Urteilsgründe). Bei anderer Gelegenheit begleitete der Angeklagte seine Enkelin S. H. in den Keller ihres Wohnhauses. Dort entkleidete er ihren Intimbereich. Während beide standen, beugte sich der Angeklagte etwas herunter und rieb seinen Penis an der Scheide bis zum Samenerguss (Tat II.2 der Urteilsgründe). Zwischen 2015 und 2018 begab sich der Angeklagte mit seiner Enkelin S. H. auf die Couch im Wohnzimmer und zog ihre und danach seine Hose und Unterhose herunter. Dann kniete er sich vor seine Enkelin vor die Couch und rieb seinen Penis an ihrer Scheide bis zum Samenerguss (Tat II.3 der Urteilsgründe).
Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als sexuellen Missbrauch von Kindern in drei Fällen gemäß § 176 Abs. 1 StGB bewertet. Soweit dem Angeklagten darüber hinaus im Tatzeitraum von „Mitte 2014 bis 2018“ weitere dreizehn Taten des schweren sexuellen Missbrauchs und des sexuellen Missbrauchs von Kindern zum Nachteil seiner Enkelinnen S. und D. H. vorgeworfen wurden, hat das Landgericht ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.
Die Revision des Angeklagten hat Erfolg. Das Urteil war aufzuheben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung hält - auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs - sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Der Angeklagte hat die gegen ihn erhobenen Vorwürfe vollumfänglich bestritten. Die Strafkammer hat die Überzeugung, der Angeklagte habe die ausgeurteilten Taten begangen, maßgeblich auf die Angaben der Zeuginnen S. und D. H. gestützt. Bezüglich beider Zeuginnen hat sie dabei ausgeführt, dass sie das betreffende Geschehen in allen Verfahrensabschnitten konstant und detailreich geschildert hätten (UA 31 und 33).
2. In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. November 2022 - 6 StR 281/22, juris Rn. 6; vom 2. Februar 2022 - 4 StR 457/21, juris Rn. 7; Urteile vom 13. Oktober 2020 - 1 StR 299/20, NStZ-RR 2021, 24; vom 26. August 2020 - 6 StR 100/20, NStZ-RR 2020, 355 und vom 25. April 2018 - 2 StR 194/17, NStZ 2019, 42; Beschluss vom 23. August 2012 - 4 StR 305/12, juris Rn. 6).
3. Diesen Anforderungen wird die Würdigung der Angaben der Zeuginnen S. und D. H. nicht gerecht. Der Bewertung der Aussage der Zeuginnen als bezüglich des Kerngeschehens konstant liegt ein auf die drei festgestellten Vorfälle verengter Blick zugrunde (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Juli 2020 - 6 StR 104/20, juris Rn. 8). Wichtige Umstände, die gegen diese Einschätzung sprechen, werden nicht erörtert.
a) Soweit das Landgericht den Angeklagten freigesprochen hat, hat es dies im Wesentlichen mit einem aufgrund von Vergessens- und Vermischungsprozessen zur Überzeugungsbildung nicht (mehr) ausreichend konkreten Aussagegehalt der Angaben der Zeuginnen in der Hauptverhandlung begründet. Im Rahmen der Prüfung der Aussage der Zeugin D. H. hat es u.a. „Abweichungen in ihren eigenen Aussagen“ (Tat 2 der Anklageschrift) und „konkrete Widersprüche“ (Taten 3 und 4 der Anklageschrift) festgestellt. Bei der Analyse der Angaben der Zeugin S. H. hat die Strafkammer „abweichende Schilderungen“ (Tat 13 der Anklageschrift) festgestellt, die „Zweifel an dem konkreten Geschehensablauf“ begründen. Die festgestellte Diskrepanz der Schilderungen der Zeugin S. H. zu Tat 14 der Anklageschrift, wonach die Zeugin im Rahmen der polizeilichen Vernehmung den Tatzeitpunkt „ganz sicher Silvester bereits nach Mitternacht“ angab und in der Hauptverhandlung demgegenüber erklärte, es sei nicht Silvester und zudem „tagsüber und nicht nachts“ gewesen, hat die Strafkammer dahingehend bewertet, dass sich die Zeugin nun „anders erinnert“ habe. Hinsichtlich weiterer festgestellter Inkonstanzen hat das Landgericht ausgeführt, dass es vor dem Hintergrund der detailreichen Schilderung im Rahmen der polizeilichen Vernehmung „wegen der Besonderheiten des Ortes und der Stellung“ nahegelegen hätte, wenn „S. s Erinnerung detaillierter geblieben wäre“ (Tat 15 der Anklageschrift). Divergierende Aussaginhalte, die die Strafkammer als „fehlende Erinnerung“ der Zeugin S. H. im Rahmen der Hauptverhandlung „trotz detaillierter Schilderungen bei der Polizei“ bewertet hat, hat die Strafkammer auch betreffend Tat 16 der Anklageschrift festgestellt.
b) Diese festgestellten Inkonstanzen können ein Hinweis auf eine mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeuginnen insgesamt darstellen, wenn es sich bei den nicht oder inkonstant erinnerten Umständen um ein wenig vergessensanfälliges Erleben handelt, sodass darauf bezogene Erinnerungs- oder Wahrnehmungsfehler nicht mehr mit natürlichen Gedächtnisunsicherheiten erklärlich sind (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juli 2022 - 4 StR 96/22, juris Rn. 7; Beschluss vom 2. Juli 2020 - 6 StR 104/20, juris Rn. 8; Beschluss vom 23. August 2012 - 4 StR 305/12, juris Rn. 16; Beschluss vom 24. Juni 2003 - 3 StR 96/03, juris Rn. 8; Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 172). Dies hätte eingehender Erörterung bedurft.
c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass auf der rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung die Verurteilung des Angeklagten beruht. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 693
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede