HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1145
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 100/20, Urteil v. 26.08.2020, HRRS 2020 Nr. 1145
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stralsund vom 22. November 2019 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt wurde.
2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
a) im Schuldspruch im Fall 2 der Urteilsgründe,
b) soweit der Angeklagte im Fall 5 freigesprochen wurde,
c) im Strafausspruch in den Fällen 1 und 4 sowie im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Die Sache wird im Umfang der Aufhebungen zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen Vergewaltigung, gefährlicher Körperverletzung sowie vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die gegen das Urteil gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Das zuungunsten des Angeklagten eingelegte und wirksam auf den Schuldspruch im Fall 2, den Freispruch im Fall 5 und die Strafaussprüche in den Fällen 1 und 4 der Urteilsgründe beschränkte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist ebenfalls begründet; für die darüber hinaus beantragte Schuldspruchänderung in den Fällen 2 und 5 war kein Raum.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
1. Im März oder April 2011 geriet der Angeklagte darüber in Wut, dass seine damalige Lebensgefährtin W. seinem Empfinden nach zu einem Pizzaboten zu freundlich gewesen war. Er schlug ihr den Pizzakarton aus der Hand, zog sie an den Haaren ins Schlafzimmer, warf sie aufs Bett, setzte sich auf sie und sagte, dass sie ihm gehöre und deshalb zu keinem anderen so nett zu sein habe. Sodann vollzog er an seiner weinenden Lebensgefährtin den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss (Fall 1 der Urteilsgründe).
2. Anfang Dezember 2017 besuchte der Angeklagte seine in B. an einer Fortbildungsveranstaltung teilnehmende Kollegin P., mit der er seit Oktober 2017 eine intime Beziehung führte. P. hatte ihr Tagebuch offen im Hotelzimmer liegen lassen. Anders, als von ihr erwartet, las der Angeklagte nicht den Eintrag über sein besitzergreifendes und gewalttätiges Verhalten, sondern den über ihre Unzufriedenheit mit seinen „sexuellen Leistungen“. Der deswegen in Wut geratene Angeklagte stellte sie nach ihrer Rückkehr zur Rede, worauf sie die Kritik wiederholte. Daraufhin griff er sie an den Armen, drückte sie auf das Bett, setzte sich auf sie, beschimpfte sie, spuckte ihr mehrmals in die Augen und versetzte ihr eine „Kopfnuss“; sie schrie und weinte. Als „Wiedergutmachung“ forderte er den Oralverkehr, den die Geschädigte aus Angst vor einer Eskalation ohne Gegenwehr und ablehnende Äußerungen bis zum Samenerguss durchführte (Fall 2 der Urteilsgründe).
3. Anfang Februar 2018 suchte P. den Angeklagten auf. Nachdem es zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr gekommen war, offenbarte sie ihm, die Beziehung beenden zu wollen. Daraufhin drückte der Angeklagte sie wütend auf das Bett, setzte sich auf sie und fixierte ihre Arme. Als sie zu schreien begann, legte er ihr beide Hände um den Hals und drückte zu. Die Geschädigte verspürte Luftnot, ihr wurde schwarz vor Augen und sie erlitt Todesangst. Erst als sie sich nicht mehr wehrte, löste der Angeklagte den Griff, sodass sie nach einem Hustenanfall wieder zu Atem kam. Er verbot ihr, die Wohnung zu verlassen. Seinem Verlangen folgend legte sie sich ihren Schal um. Er setzte sich auf ihren Schoß, küsste sie, wobei er ihr schmerzhaft in die Lippen biss, und zog den Schal zu, worauf die Geschädigte erneut Luftnot verspürte (Fall 4 der Urteilsgründe).
4. Im Juni 2018 kam es in der Wohnung des Angeklagten zu einem Streit mit P., weshalb sie die Wohnung verlassen wollte, was dem Angeklagten jedoch missfiel. Mit den Worten „Befriedige mich, befriedige mich!“ und der Drohung, dass er ihr „sämtliche Knochen brechen“ werde, wenn sie das nicht mache, forderte er den Oralverkehr, den die Geschädigte ohne weitere Äußerungen oder Gegenwehr bis zum Samenerguss ausführte (Fall 5 der Urteilsgründe).
5. Ende Juni 2018 verlangte der Angeklagte von P., sich vor den gemeinsamen Kollegen zu ihm zu bekennen. Als sie dies verweigerte, beschimpfte er sie. Nachdem er selbst Schwestern der Station die Beziehung offenbart hatte, begab er sich zu P. ins Arztzimmer und küsste sie, wobei er ihr schmerzhaft in die gesamte Mundpartie biss. Hierdurch bildete sich ein Bluterguss an der Unterlippe (Fall 6 der Urteilsgründe).
Die Revision des Angeklagten hat Erfolg. Die Beweiswürdigung hält - auch unter Berücksichtigung des beschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 - 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20 f. mwN) - sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.
Angesichts der schwierigen Beweislage hätte sich das Landgericht nicht auf eine eher kursorische, „in einem Zuge“ beide Zeuginnen umfassende Würdigung der Aussagen der Tatopfer beschränken dürfen. Namentlich wären Angaben zur Aussageentstehung und -entwicklung sowie weitere Feststellungen zum Verlauf und Ende der jeweils konfliktbehafteten und von Gewalt begleiteten Beziehungen unabdingbar gewesen, auch um etwaige Falschbelastungsmotive ausschließen zu können. Dies gilt umso mehr, als die Tat 1 im Urteilszeitpunkt bereits acht Jahre zurücklag, ohne dass aus dem Urteil hervorgeht, wodurch die zeitliche Differenz bedingt ist. Anhand der Darlegungen des Landgerichts ist dem Senat damit eine revisionsgerichtliche Überprüfung nicht möglich, ob das Landgericht mit Recht zur Verurteilung des Angeklagten gelangt ist.
Die Revision der Staatsanwaltschaft führt im Umfang der Anfechtung zur Aufhebung des Urteils.
1. Die Wertung des Landgerichts, der Angeklagte habe sich im Fall 2 der Urteilsgründe nicht auch wegen Vergewaltigung strafbar gemacht, hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Die Strafkammer stützt die fehlende Erkennbarkeit des entgegenstehenden Willens der Geschädigten darauf, dass der Angeklagte nicht ausschließbar davon ausgegangen sei, bei dem Oralverkehr handele es sich um eine „Wiedergutmachung“ von Seiten der Geschädigten für die vorangegangene Kränkung. Angesichts der vorhergehenden Gewaltakte und des vom Angeklagten strikt eingeforderten Oralverkehrs hätte das Landgericht bei seiner rechtlichen Würdigung in den Blick nehmen müssen, ob er hinsichtlich des entgegenstehenden Willens gleichgültig war, was bedingten Vorsatz begründen würde.
Der Rechtsfehler zieht die Aufhebung der Verurteilung wegen Körperverletzung nach sich.
2. Das Landgericht hat bei Tat 5 zugrunde gelegt, der Angeklagte sei trotz der Drohung, er werde der Geschädigten andernfalls „sämtliche Knochen brechen“, nicht ausschließbar von einem Einverständnis des Tatopfers ausgegangen. Diese Annahme leitet es wesentlich daraus ab, dass er die Zeugin in vorausgegangenen ähnlichen Situationen „ebenfalls mehr oder weniger rüde aufgefordert habe, ihn sofort und in der von ihm gewünschten Weise zu befriedigen“, was die Geschädigte trotz inneren Vorbehalts dann jeweils getan habe (UA S. 14). Andererseits betont es, dass der Angeklagte bis dahin stets zum Ziel gelangt sei, „ohne hierzu Gewalt und Drohungen einsetzen zu müssen“. Abgesehen davon, dass für die Würdigung dieser Darlegung notwendige Details zu den früheren Vorfällen nicht mitgeteilt werden, blendet das Landgericht damit weitgehend den Umstand aus, dass der Angeklagte - anders als zuvor - hier gerade eine massive Drohung eingesetzt hat, um sein Ziel zu erreichen. Bei dieser Sachlage bedürfte es aussagekräftiger Anhaltspunkte im äußeren Tatgeschehen, aufgrund derer der Angeklagte tatsachenfundiert hätte annehmen können, die Geschädigte sei der Aufforderung nicht unter dem Eindruck der von ihm geäußerten Drohung nachgekommen. Solche sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen.
3. Die Strafaussprüche in den Fällen 1 und 4 weisen durchgreifende Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf.
a) Der Strafausspruch im Fall 1 hat bereits deswegen keinen Bestand, weil das Landgericht mit der insoweit ausgeurteilten Freiheitsstrafe von lediglich einem Jahr und drei Monaten den durch § 177 Abs. 2 Satz 1 StGB in der bis 9. November 2016 geltenden Fassung eröffneten und mangels Entkräftung der Regelwirkung zwingend anzuwendenden Strafrahmen von nicht unter zwei Jahren unterschritten hat.
b) Der Strafausspruch im Fall 4 begegnet ebenfalls durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Das Landgericht hat zugunsten des Angeklagten als wesentlichen Strafzumessungsgrund gewichtet, dass ihm die Geschädigten nicht frühzeitig klare Grenzen aufgezeigt und ihn dadurch in seiner Fehleinstellung bestärkt hätten. Zwar kommt bei Beziehungstaten der Entstehung, Entwicklung und konkreten Ausgestaltung der Beziehung sowie einem etwa ambivalenten Verhalten des Tatopfers und der hierdurch möglicherweise herabgesetzten Hemmschwelle für die Begehung der Tat Relevanz für die Strafzumessung zu (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. Juli 2009 - 5 StR 204/09, NStZ-RR 2009, 308, 309; vom 10. September 2009 - 4 StR 366/09, NStZ-RR 2010, 9, 10; differenzierend LK-StGB/Schneider, 13. Aufl., § 46 Rn. 212). Die strafmildernde Berücksichtigung eines in der Beziehung wurzelnden Mitverursachungsbeitrages erfordert aber diesbezügliche konkrete Feststellungen. Daran mangelt es, weil das Landgericht zum Verlauf der jeweiligen Beziehung nähere Einzelheiten nicht mitteilt. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht zu höheren Strafen gelangt wäre, wenn es diesen Aspekt nicht zugunsten des Angeklagten gewertet hätte.
4. Die Aufhebungen entziehen der Gesamtstrafe die Grundlage.
Für die neue Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Das neue Tatgericht wird im Falle der erneuten Verurteilung des Angeklagten unter anderem wegen Verbrechen der Vergewaltigung bei der Strafzumessung erkennbar zu bedenken haben, dass dem Angeklagten neben berufsrechtlichen Folgen der Widerruf der Approbation gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BÄO drohen kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Oktober 2003 - 5 StR 377/03, StV 2004, 71; vom 19. März 2019 - 5 StR 684/18, StV 2019, 441).
2. Bei nochmaliger Annahme konkreter Lebensgefahr (vgl. UA S. 15) aufgrund des Auftretens von Petechien wird das Tatgericht seine eigene Sachkunde näher darzulegen haben.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1145
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 355
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede