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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1299

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 208/23, Beschluss v. 13.09.2023, HRRS 2023 Nr. 1299


BGH 4 StR 208/23 - Beschluss vom 13. September 2023 (LG Hamburg)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (länger andauernder Defekt: erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit); Schuldfähigkeit (Zweifelssatz); Beweiswürdigung; Darstellung in den Urteilsgründen (DNA-Spuren; Fasergutachten); Gefährdung des Straßenverkehrs.

§ 63 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB; § 315c StGB; § 261 StPO; § 267 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 28. Februar 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten in einem verbundenen Sicherungs- und Strafverfahren hinsichtlich des Vorwurfs aus der Anklageschrift freigesprochen und daneben die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Hiergegen richtet sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen litt der Angeklagte im Zeitraum der verfahrensgegenständlichen Taten an einer unbehandelten bipolaren Störung, in deren Rahmen es zu einer Manie mit psychotischen Symptomen gekommen war. Vor diesem Hintergrund kam es zu den folgenden Tatgeschehen:

Am 20. September 2019 begegnete der Angeklagte zufällig einem Bekannten. Als dieser auf den Gruß des Angeklagten nicht reagierte, griff der Angeklagte ihn körperlich an und verletzte ihn. Im Januar 2020 wurde der Angeklagte von Freunden nach einem Streit aus deren Fahrzeug verwiesen. Nachdem er ausgestiegen war, fühlte er sich verfolgt und hilflos und sah sich nicht in der Lage, den Weg zu seiner Wohnung zu finden. Er öffnete daraufhin die unverschlossene Beifahrertür des hinter dem Fahrzeug seiner Freunde wartenden Pkw und setzte sich auf den Beifahrersitz. Unter Vorhalt eines Küchenmessers forderte er den Fahrer des Pkw auf, ihn zu seiner Wohnung, deren Adresse er nannte, zu fahren. Der Geschädigte kam der Aufforderung aus Angst nach. Einen Geldschein, den ihm der Geschädigte auf seine Bitte übergeben hatte, zerriss der Angeklagte. Er teilte dem Geschädigten mit, auf der Flucht zu sein, und übergab ihm seinen Personalausweis. Als der Angeklagte den Geschädigten an einem Kiosk halten ließ und ausstieg, um Alkohol zu kaufen, fuhr dieser davon. Mehrere Wochen später, im März 2020, ließ der Angeklagte sich von einem Taxi zu einem Hotel fahren und zahlte, wie von Anfang an geplant, das Fahrgeld nicht. Während der Fahrt fragte er den Taxifahrer, ob dieser bereits ein Zimmer für ihn - den Angeklagten - in dem Hotel reserviert habe. Im selben Monat hielt sich nach einem Wasserschaden ein Handwerker in der Wohnung des Angeklagten auf. Nachdem der Handwerker erklärt hatte, dass er die Schadensursache nicht sofort beheben und der Angeklagte daher vorübergehend seine Dusche nicht benutzen könne, kam es zu einem Streit. Der Angeklagte wurde wütend und äußerte gegenüber dem Handwerker: „Ich steche dich gleich ab!“. Am 5. April 2020 führte der Angeklagte, der über keine gültige Fahrerlaubnis verfügte, einen Pkw, wobei er zwei Beutel Marihuana bei sich führte. Er hatte zuvor Betäubungsmittel konsumiert und war - was er erkannte und ihm gleichgültig war - nicht in der Lage, den Pkw im Straßenverkehr sicher zu führen. Aufgrund seiner überhöhten Geschwindigkeit kollidierte sein Fahrzeug mit einem anderen Pkw, dessen Insassen verletzt wurden. Am folgenden Tag ließ sich der Angeklagte in einem weiteren Fall - hinsichtlich dessen das Landgericht das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt hat - von einem Taxi fahren, wobei er weder willens noch in der Lage war, den Fahrpreis zu entrichten. In der Nacht vom 8. auf den 9. April 2020 erhielt der Angeklagte Zutritt zur Wohnung einer ihm bis dahin nicht bekannten Nachbarin, nachdem er geklingelt und nach Zigaretten gefragt hatte. Nach einem kurzen Gespräch äußerte der Angeklagte ein sexuelles Interesse an der Nachbarin und ging sodann dazu über, sie auch körperlich zu bedrängen, indem er seinen Penis entblößte und im erigierten Zustand an ihrem Bein und Unterleib rieb, sie festhielt, küsste und ihr - für sie schmerzhaft - in den Schritt griff. Dem anwesenden Freund der Nachbarin, der wie sie mit der Situation überfordert war, griff er in dessen Genitalbereich und äußerte, er - der Geschädigte - sei „doch kein Mann“. Einen zur Unterstützung herbeigerufenen Bekannten der Wohnungsnachbarin verletzte der Angeklagte durch Schläge und Tritte. Später hinzugerufene Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte beleidigte der Angeklagte mit sexualbezogenen Ausdrücken.

2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand, weil die Voraussetzungen des § 63 StGB weder festgestellt noch belegt sind.

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Ihre Anordnung setzt - neben der höhergradigen Wahrscheinlichkeit künftiger erheblicher Straftaten - die positive Feststellung eines länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekts voraus, der zumindest eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB sicher begründet (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 13. Juni 2023 - 1 StR 136/23 Rn. 3; Beschluss vom 6. August 2019 - 3 StR 46/19, StV 2020, 371 Rn. 9; Beschluss vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75, jew. mwN).

b) Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht. Das Landgericht hat eine aufgehobene Schuldfähigkeit des Angeklagten bei der Begehung seiner Taten nicht sicher festgestellt. Es hat zwar eingangs seiner Feststellungen zur Sache ausgeführt, der Angeklagte sei aufgrund einer bei ihm bestehenden krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB in zwei Fällen - nämlich der durch Vorhalt eines Messers erzwungenen Mitfahrt sowie der ersten der beiden festgestellten Taxifahrten - nicht in der Lage gewesen, das Unrecht seines Handelns zu erkennen, und in den übrigen festgestellten Fällen sei er bei erhaltener Einsichtsfähigkeit nicht in der Lage gewesen, nach der Einsicht zu handeln. Bereits zuvor sowie anschließend im Rahmen der Darstellung der einzelnen Tatgeschehen hat die Strafkammer hingegen jeweils ausgeführt, dass die Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit „nicht ausschließbar“ aufgehoben gewesen sei. Dies entspricht auch der in den Urteilsgründen wiedergegebenen Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen, der das Landgericht gefolgt ist.

Auch die sichere Feststellung, dass der Angeklagte bei der Begehung seiner Taten jedenfalls die Voraussetzungen des § 21 StGB erfüllte, also im Zustand der erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit oder einer erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit bei tatsächlich nicht vorhandener Unrechtseinsicht handelte (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2021 - 4 StR 535/20, NStZ 2022, 34 Rn. 4 mwN), kann den Urteilsgründen nicht entnommen werden. Mit einer etwa verminderten Schuldfähigkeit hat sich das Landgericht nicht auseinandergesetzt, offenbar weil es - wie seine Ausführungen zur Maßregelentscheidung zeigen - von der unzutreffenden Rechtsauffassung ausgegangen ist, dass der Angeklagte schon deshalb „gemäß § 20 StGB ohne Schuld“ gehandelt habe, weil er nicht ausschließbar einsichts- oder steuerungsunfähig war.

3. Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB kann daher nicht bestehen bleiben. Mit Blick auf die Vorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ist wegen des untrennbaren Zusammenhangs zwischen der Entscheidung über die Unterbringung nach § 63 StGB und dem auf § 20 StGB gestützten Freispruch hinsichtlich der angeklagten Tat vom 20. September 2019 auch dieser Freispruch mit aufzuheben (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2019 - 2 StR 419/19 Rn. 30; Beschluss vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75 mwN).

4. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung, naheliegend unter Beteiligung eines anderen psychiatrischen Sachverständigen. Der Senat hat davon abgesehen, Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechtzuerhalten, um dem zur neuen Entscheidung berufenen Tatgericht neue, widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen. Die bisherigen Feststellungen sind teils nicht hinreichend belegt und tragen die vom Landgericht vorgenommene rechtliche Würdigung nicht vollständig. Insoweit weist der Senat ergänzend auf Folgendes hin:

a) Das neue Tatgericht wird Gelegenheit haben, die Beweise sorgfältiger als bisher geschehen zu würdigen. Dabei wird es sich hinsichtlich des Tatgeschehens vom 8. und 9. April 2020, zu dem der Angeklagte sich im Wesentlichen bestreitend eingelassen hat, insbesondere eingehender mit der Aussage der Geschädigten S. auseinanderzusetzen haben. Die bisherigen Ausführungen zu deren Glaubhaftigkeit sind nur begrenzt tragfähig. Dass und inwiefern der Eindruck, den die Strafkammer in der Hauptverhandlung von der Zeugin gewinnen konnte, es ausschließe, dass sie sich ihre Angaben bei dem Polizeinotruf (sie sei von ihrem Nachbarn „sexuell belästigt“ und „sehr angegrabscht“ worden) ausgedacht haben könnte, ist nicht nachvollziehbar. Die erforderliche eigene Würdigung der Glaubhaftigkeit der Aussage durch das Tatgericht kann auch nicht durch den im Urteil mitgeteilten Umstand, dass ein sehr erfahrener polizeilicher Vernehmungsbeamter keine Zweifel an deren Richtigkeit gehabt habe, ersetzt werden.

Hinsichtlich der DNA-Spuren werden die insoweit bestehenden Darstellungsanforderungen zu beachten sein (vgl. nur BGH, Urteil vom 29. April 2021 - 4 StR 46/21 Rn. 8 ff. mwN). Auch das im Urteil als Indiz für die Täterschaft des Angeklagten bei dem Tatgeschehen am 8. und 9. April 2020 herangezogene Ergebnis eines Faserspurengutachtens bedarf, damit es für das Revisionsgericht nachvollziehbar wird, gegebenenfalls näherer Ausführungen zu den vom Sachverständigen herangezogenen und bewerteten Anknüpfungs- und Befundtatsachen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. März 2020 - 4 StR 134/19 Rn. 9 [insoweit in NStZ 2020, 609 nicht abgedruckt]; Urteil vom 28. November 1995 ? 5 StR 459/95, NStZ-RR 1996, 335, 336 mwN).

b) Schließlich wird die neue Strafkammer hinsichtlich der angenommenen Straßenverkehrsgefährdung gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 a) StGB (Anlasstat vom 5. April 2020) die rauschmittelbedingte Fahruntüchtigkeit des Angeklagten nachvollziehbar zu belegen (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 2022 - 4 StR 115/22, NStZ-RR 2023, 107, 109 mwN; ebenso zu § 316 StGB BGH, Beschluss vom 11. April 2023 - 4 StR 80/23 Rn. 22) und ferner zu beachten haben, dass der Straftatbestand außer der Fahruntüchtigkeit und einer konkreten Gefährdung der in § 315c Abs. 1 StGB aE genannten Güter auch einen Kausalzusammenhang zwischen beidem („und dadurch“) voraussetzt (vgl. BGH, Urteil vom 4. Februar 2021 - 4 StR 403/20, NStZ 2023, 232; Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 4 StR 560/19, NStZ-RR 2020, 121 mwN), der bisher weder festgestellt noch belegt ist.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1299

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede