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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1125

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 61/22, Beschluss v. 05.07.2022, HRRS 2022 Nr. 1125


BGH 4 StR 61/22 - Beschluss vom 5. Juli 2022 (LG Münster)

Beweisverwertungsverbot (ausländische Ermittlungsmaßnahme: Nichteinhaltung deutschen Rechts bei einer ausländischen Ermittlungsmaßnahme, ordre public, Verhältnismäßigkeitsprüfung, besondere Verwendungsvorbehalte); Online-Durchsuchung (Beweisverwertungsverbot: Zweck der Verfahrensnorm, Rechtskreis, Grundrechtsschutz des Nutzers des betroffenen informationstechnischen Systems, Nutzereigenschaft, Verwendungsschranke des § 100e Abs. 6 StPO); Europäische Ermittlungsanordnung (Unterrichtungspflicht: Verletzung, Beweisverwertungsverbot, individualschützende Wirkung, Beweisverwendung im Ausland).

§ 261 StPO; § 100b StPO; § 100e StPO; Art. 31 RL 2014/41

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die bloße Nichteinhaltung deutschen Rechts bei einer ausländischen Ermittlungsmaßnahme kann nicht per se ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot begründen. Die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards wird in solchen Fällen durch Prüfung der Vereinbarkeit der Maßnahme mit dem nationalen und europäischen ordre public und eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Beweisverwertung unter Annahme besonderer Verwendungsvorbehalte gewährleistet.

2. Die Verletzung einer Verfahrensnorm, die nicht dem Schutz des Beschuldigten dient, führt ihm gegenüber nicht zu einem Beweisverwertungsverbot und kann daher nicht erfolgreich mit der Revision gerügt werden, da sein Rechtskreis nicht betroffen ist.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Münster vom 26. Oktober 2021 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie unerlaubten Besitzes eines verbotenen Gegenstands (Elektroimpulsgerät) in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt sowie die Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel ist unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Die Verfahrensrügen haben keinen Erfolg.

1. Der Beschwerdeführer beanstandet, die vom Landgericht zum Beweis herangezogenen Notizen des Zeugen L. aus dessen Krypto-Mobiltelefon des Anbieters E. Chat seien unverwertbar. Die im Wege der Rechtshilfe ermöglichte Verwendung dieser Daten im deutschen Strafverfahren verletze „das IT-Grundrecht“ und Art. 10 GG, weil ein qualifizierter Tatverdacht nicht vorgelegen habe und damit die Maßnahme zur Gewinnung der Daten nicht den Voraussetzungen der §§ 100a, 100b StPO genüge. Die Daten seien überdies unter Verstoß gegen die Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (im Folgenden: RL EEA) erlangt worden, weil die französischen Behörden ihrer Unterrichtungspflicht nach Art. 31 RL EEA nicht nachgekommen seien. Schließlich hätten „die deutschen Behörden“ durch planmäßiges Vorgehen an der Datengewinnung im Ausland mitgewirkt, um die Vorschriften der Strafprozessordnung zu umgehen.

Die Zulässigkeit der Verfahrensrüge kann dahinstehen. Sie ist jedenfalls unbegründet.

a) Nach dem Revisionsvorbringen und dem Urteilsinhalt, den das Revisionsgericht ergänzend berücksichtigen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2007 - 2 StR 510/07), hat das Landgericht seine Feststellungen zu dem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (hier: Ankauf von Marihuana in mehreren Lieferungen) maßgeblich auf verlesene elektronische Notizen gestützt, die der Lieferant des Angeklagten, der Zeuge L., im Tatzeitraum von Januar bis März 2020 in sein Krypto-Mobiltelefon des Anbieters E. Chat eingegeben hatte. Dieses verfügte - wie herkömmliche Mobiltelefone - über eine Notizbuchfunktion. Die Notizen verhielten sich zu der jeweils gehandelten Menge, der Sorte und dem Preis des Marihuanas.

Die elektronischen Daten waren durch eine richterlich genehmigte, zeitlich befristete Ermittlungsmaßnahme französischer Strafverfolgungsbehörden gewonnen worden. Dabei waren die vom anonymen Anbieter E. Chat europaweit vertriebenen Krypto-Mobiltelefone - darunter dasjenige des Zeugen L. - ab dem 1. April 2020 durch einen verdeckten Fernzugriff ausgelesen worden, der sowohl die auf den Mobiltelefonen bereits vorhandenen Bestandsdaten als auch die Live-Kommunikation erfasste. Die Daten der Telefone, die (auch) in Deutschland benutzt wurden, übermittelten die französischen Behörden der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main aufgrund einer europäischen Ermittlungsanordnung (vgl. näher BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21). In der Hauptverhandlung hat die Verteidigung der Verwertung der Daten widersprochen.

b) Das von der Revision geltend gemachte Verwertungsverbot besteht unter keinem der geltend gemachten rechtlichen Gesichtspunkte. Der Senat schließt sich der Rechtsprechung an, die grundsätzlich von der Verwertbarkeit der aus Frankreich übermittelten Daten der E. Chat-Mobiltelefone ausgeht (BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21; vgl. auch Beschluss vom 8. Februar 2022 - 6 StR 639/21; Beschluss vom 6. April 2022 - 6 StR 55/22; Beschluss vom 24. Mai 2022 - 5 StR 133/22). Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass mögliche Rechtsverletzungen bei der Beweiserhebung den Rechtskreis des Angeklagten nicht wesentlich berühren und somit von vornherein nicht erfolgreich gerügt werden können.

aa) Im Ausgangspunkt gilt nach ständiger Rechtsprechung, dass die Verwertbarkeit von Beweisen, die im Wege der Rechtshilfe erlangt worden sind, nach deutschem Recht als dem Recht des ersuchenden Staates zu beurteilen ist (BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21; Beschluss vom 21. November 2012 - 1 StR 310/12, BGHSt 58, 32). Verfassungsmäßige Rechtsgrundlage der Verwertung der Notizen aus dem Krypto-Mobiltelefon ist dabei § 261 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21).

bb) Ein Beweisverwertungsverbot ergibt sich nicht aus einer möglichen Verletzung des § 100b StPO.

(1) Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers setzt die Beweisverwertung bereits nicht voraus, dass die Maßnahme der französischen Behörden zur Gewinnung der Beweismittel nach deutschem Strafprozessrecht - in Betracht käme insoweit allein § 100b StPO (Online-Durchsuchung) - rechtmäßig hätte angeordnet werden können. Denn die bloße Nichteinhaltung deutschen Rechts bei einer ausländischen Ermittlungsmaßnahme kann nicht per se ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot begründen. Die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards wird in solchen Fällen durch Prüfung der Vereinbarkeit der Maßnahme mit dem nationalen und europäischen ordre public und eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Beweisverwertung unter Annahme besonderer Verwendungsvorbehalte gewährleistet (BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21).

(2) In der vorliegenden Konstellation kann der Beschwerdeführer allerdings ohnehin mit der Rüge einer Verletzung des § 100b StPO nicht durchdringen.

Die Verletzung einer Verfahrensnorm, die nicht dem Schutz des Beschuldigten dient, führt ihm gegenüber nicht zu einem Beweisverwertungsverbot und kann daher nicht erfolgreich mit der Revision gerügt werden, da sein Rechtskreis nicht betroffen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Januar 1958 - GSSt 4/57, BGHSt 11, 213; zuletzt BGH, Beschluss vom 24. September 2020 - 4 StR 144/20; Beschluss vom 12. Dezember 2019 - 5 StR 464/19; Beschluss vom 9. August 2016 - 4 StR 195/16).

Die Vorschrift des § 100b StPO ist in ihrer heutigen Form durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 (BGBl. I, S. 3202) in das Strafgesetzbuch eingefügt worden. Die hohen materiellen Anforderungen, die § 100b Abs. 1 und Abs. 3 StPO an die Rechtfertigung einer Online-Durchsuchung stellen, sowie die verfahrensrechtlichen Sicherungen sollen dem Grundrechtsschutz des Nutzers des betroffenen informationstechnischen Systems dienen (vgl. BT-Drucks. 18/12785, S. 54). Denn für diesen stellt die Online-Durchsuchung einen Eingriff in den Schutzbereich seines Rechts auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme als eigenständiger Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG dar. Die Intensität eines derartigen Eingriffs ist für den betroffenen Nutzer hoch, da auf informationstechnischen Systemen potentiell umfangreiche Datenbestände vorzufinden sind, die seine persönliche Lebensgestaltung detailliert abbilden und deren Ausforschung in ihrem Gewicht über einzelne Datenerhebungen weit hinausgeht (vgl. BT-Drucks. 18/12785, S. 54).

Vorliegend ist der Beschwerdeführer nicht vom Schutzbereich des Rechts auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG umfasst. Denn er war nicht Nutzer des von der Maßnahme betroffenen Krypto-Mobiltelefons; dies war allein der Zeuge L., der die elektronischen Notizen in das Telefon eingegeben hatte.

cc) Ein Beweisverwertungsverbot ergibt sich weiter nicht aus einer möglichen Verletzung der Unterrichtungspflicht des Art. 31 RL EEA durch französische Behörden. Denn soweit der Unterrichtungspflicht überhaupt eine individualschützende Wirkung zukommt, bezieht sich diese allein auf die - hier nicht in Rede stehende - Beweisverwendung im Ausland (vgl. näher BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21). In den Schutzbereich fällt weiter nur die Zielperson der Überwachung, denn nur über diese hat nach Art. 31 Abs. 1 RL EEA der überwachende Mitgliedstaat zu unterrichten. Eine etwaige Verletzung der Unterrichtungspflicht kann der Beschwerdeführer somit bereits deshalb nicht erfolgreich rügen, weil nicht er, sondern der Zeuge L. als Nutzer des Krypto-Mobiltelefons die Zielperson der Überwachung war.

dd) Für durch Rechtshilfe erlangte Informationen, die nicht auf einer Anordnung der Ermittlungsmaßnahme durch deutsche Behörden, sondern nur auf der Übermittlung von Beweisergebnissen beruhen, die ein anderer Mitgliedstaat auf eigener Rechtsgrundlage erhoben hat, fehlt es an einer ausdrücklichen Verwendungsbeschränkung jenseits des im Rechtshilfeverkehr geltenden ordre-public-Vorbehalts, insbesondere ist § 100e Abs. 6 StPO nicht anwendbar. Ob zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorliegend die Wertungen des § 100e Abs. 6 StPO als Verwendungsschranke mit dem höchsten Schutzniveau heranzuziehen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 Rn. 65) oder ob - mit Blick darauf, dass der Angeklagte nicht selbst von der Maßnahme betroffen war - die Wertungen des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 161 Abs. 3 StPO maßgeblich sind (vgl. OLG Frankfurt NJW 2022, 710, 711; Gebhard/Michalke, Beschluss vom 22. November 2021 - 1 HEs 427/21, NJW 2022, 655, 658 f.), kann dahinstehen. Denn auch der höhere Schutzstandard ist erfüllt.

Gemäß § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO dürfen Daten aus einer Online-Durchsuchung in anderen Strafverfahren ohne Einwilligung der insoweit überwachten Personen jedenfalls zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer Maßnahmen nach § 100b StPO angeordnet werden könnten, verwendet werden. Bei der erforderlichen Prüfung, ob die Straftat auch im Einzelfall besonders schwer wiegt und die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise erheblich erschwert oder aussichtslos wäre (vgl. § 100b Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO), ist auf den Erkenntnisstand im Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen (vgl. näher BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 Rn. 69 f.).

Nach diesem Maßstab liegen die Voraussetzungen für eine Beweisverwertung der elektronischen Notizen aus dem Krypto-Mobiltelefon vor. Verfahrensgegenstand ist - soweit es um deren Verwertung geht - das Verbrechen des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG und damit eine Katalogtat nach § 100b Abs. 2 Nr. 5 b) StPO. Die Tat wiegt auch im Einzelfall schwer. Der Angeklagte erwarb insgesamt 37 kg Marihuana, von denen 34 kg mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 10 % in den Handel gelangten. Ohne die Beweismittel der elektronischen Notizen war eine Sachaufklärung ausgeschlossen.

ee) Soweit der Beschwerdeführer meint, „die deutschen Behörden“ hätten durch planmäßiges Vorgehen an der Datengewinnung im Ausland mitgewirkt, um die Vorschriften der Strafprozessordnung zu umgehen, kann offenbleiben, ob dies zu einer anderen Bewertung führen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 Rn. 75). Der vorgetragene Sachverhalt stützt die Behauptung des Beschwerdeführers nicht.

2. Die Rüge, das Landgericht habe seine Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO verletzt, indem es Anträge der Verteidigung aus der Hauptverhandlung vom 13. September 2021 auf Vernehmung von Beamten der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main und des Bundeskriminalamts sowie auf Beiziehung von Akten der Generalstaatsanwaltschaft abgelehnt habe, ist ebenfalls zumindest unbegründet.

Das Landgericht hat die Anträge rechtsfehlerfrei abgelehnt. Der Sache nach handelte es sich nicht um förmliche Beweisanträge zur strengbeweislichen Feststellung der Schuld- und Rechtsfolgentatsachen im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO, sondern um Anträge auf Feststellung prozesserheblicher Tatsachen im Freibeweis. Denn sie zielten darauf, Informationen über die angeblich rechtswidrige Gewinnung der E. Chat-Daten zu erlangen. Damit waren sie als bloße Anregungen ohne Bindung an § 244 Abs. 3 bis 5 StPO, § 245 Abs. 2 StPO zu bescheiden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 244 Rn. 9).

3. Die Rüge, das Landgericht habe der Verteidigung keine vollständige Akteneinsicht gewährt und dadurch den Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren verletzt, ist unzulässig, weil sie aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entspricht.

II.

Die Sachrüge bleibt ebenfalls erfolglos. Allerdings ist die Strafzumessung bei der Einzelstrafe zu Tat 1) nicht rechtsfehlerfrei. Denn das Landgericht hat strafschärfend berücksichtigt, die nicht geringe Menge der Betäubungsmittel sei um das 580-fache überschritten. Richtigerweise beläuft sich das Vielfache der nicht geringen Menge von 7,5 g THC bei Cannabisprodukten (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juli 1984 - 3 StR 183/84, BGHSt 33, 8), ausgehend von einer in den Handel gelangten Menge von 34 kg Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 10 % THC, jedoch auf nur rund das 453-fache. Der Senat kann angesichts der insgesamt maßvollen Strafzumessung indes ausschließen, dass das Landgericht ohne den Rechenfehler auf eine niedrigere Einzel- oder Gesamtstrafe erkannt hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1125

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede