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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 814

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 350/20, Urteil v. 06.05.2021, HRRS 2021 Nr. 814


BGH 3 StR 350/20 - Urteil vom 6. Mai 2021 (LG Koblenz)

Abweichendes Sexualverhalten (hier: Pädophilie) schwere andere seelische Störung (Schuldfähigkeit; Steuerungsfähigkeit; Veränderung der Persönlichkeit; Hemmungsvermögen); Sicherungsverwahrung (Hangtäter; eingeschliffener innerer Zustand; Anlasstaten; Vorverurteilung; Gesamtwürdigung; längere Straflosigkeit).

§ 20 StGB; § 66 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein abweichendes Sexualverhalten kann nicht ohne Weiteres einer schweren Persönlichkeitsstörung und dem Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Störung i.S.d. § 20 StGB gleichgesetzt werden. Die Diagnose einer Pädophilie hat insofern für sich genommen kaum Aussagekraft für das Vorliegen des vierten Eingangsmerkmals von § 20 StGB und erst recht nicht für die Überzeugung von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit.

2. Steht für die Beurteilung der Schuldfähigkeit eine von der Norm abweichende sexuelle Präferenz im Vordergrund, muss diese den Täter im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert haben, dass er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen aufbringt, sondern bei der Begehung der Sexualtaten aus einem starken, mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus handelt. Die Steuerungsfähigkeit kann demzufolge etwa dann beeinträchtigt sein, wenn die abweichenden Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz, durch Ausbau von Raffinements und durch gedankliche Einengung auf diese Praktiken auszeichnet.

3. Ob die sexuelle Devianz in Form einer Pädophilie einen solchen Ausprägungsgrad erreicht, der dem Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Störung zugeordnet werden kann, ist aufgrund einer Gesamtschau der Täterpersönlichkeit und seiner Taten zu beurteilen. Dabei kommt es darauf an, ob die sexuellen Neigungen die Persönlichkeit des Täters so verändert haben, dass er nicht die zur Bekämpfung seiner Triebe erforderlichen Hemmungen aufzubringen vermag.

4. Ein Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag.

5. Das Vorliegen eines Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB hat das Tatgericht unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgebenden Umstände darzulegen. Diese Würdigung bedarf in den Fällen von § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB, bei denen Vortaten und Vorverbüßungen fehlen, besonderer Sorgfalt. In die Würdigung ist gegebenenfalls auch einzubeziehen, dass sich der Täter über längere Zeiträume straflos verhalten hat

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 4. März 2020

im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Drittbesitzverschaffung kinderpornografischer Schriften, wegen Besitzverschaffung kinderpornografischer Schriften, Besitzverschaffung jugendpornografischer Schriften in zwei Fällen und Drittbesitzverschaffung kinderpornografischer Schriften schuldig ist;

im Ausspruch über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Verbreitung kinderpornografischer Schriften, wegen des Erwerbs kinderpornografischer Schriften, des Erwerbs jugendpornografischer Schriften in zwei Fällen und der Verbreitung kinderpornografischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Außerdem hat es seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg und erweist sich im Übrigen als unbegründet.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der im Jahr 1981 geborene Angeklagte wurde in seiner Kindheit wegen Verhaltensauffälligkeiten psychiatrisch behandelt. In seiner Jugend beging er mehrere Sexualdelikte. Unter anderem übte er in drei Fällen den Analverkehr mit einem zehnjährigen Jungen aus seiner Wohngruppe aus und missbrauchte als 18-Jähriger in zwei Fällen ein 13-jähriges Mädchen. Nach Verbüßung von Untersuchungshaft wurde der Angeklagte im März 1998 und im Juni 2001 deswegen zu Jugendstrafen verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Bis zum Jahr 2007 folgten Verurteilungen zu Geld-, Bewährungs- und Freiheitsstrafen aufgrund verschiedener Taten ohne Sexualbezug, deretwegen die Strafaussetzung aus dem Juni 2001 widerrufen wurde und der Angeklagte insgesamt von Juni 2007 bis Oktober 2010 Strafhaft verbüßte. Im Vollzug absolvierte er eine Sexualtherapie, die er nicht abschloss. Im Jahr 2017 wurde er wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt.

2. Spätestens ab August 2018 beschaffte sich der Angeklagte über das Internet kinderund jugendpornografisches Material, das er sowohl auf seinem privaten Computer als auch dem Rechner seines Arbeitgebers speicherte und konsumierte. Er war überdies auf der Internetplattform „knuddels.de“ aktiv, um dort Kontakt zu minderjährigen Mädchen zu knüpfen, intime Bilder von ihnen zu erhalten und sich mit ihnen zum Geschlechtsverkehr zu verabreden.

Auf diese Weise lernte der Angeklagte die elfjährige A. kennen. Dieser versprach er über „WhatsApp“ - zunächst in der Annahme, sie sei 13 Jahre alt - Geld für intime Bilder. Daraufhin erstellte sie für ihn am 9. Februar 2019 zwei Fotos, die bei gespreizten Beinen ihre nackte Scheide zeigen (Fall II. 1 der Urteilsgründe, vom Landgericht geahndet mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr). Am Folgetag forderte der Angeklagte ein Video von ihr, wobei er in Sprach-Nachrichten erklärte, wie sie dieses aufnehmen solle. Das Mädchen filmte sich deshalb dabei, wie es nackt mit gespreizten Beinen auf einem Bett liegt und an seiner Scheide manipuliert, und schickte die Datei dem Anklagten. Auf seine Nachfrage erfuhr dieser nun ihr wahres Alter, das er begrüßte. Das Video leitete er an einen Bekannten weiter (Fall II. 2 der Urteilsgründe, bestraft mit zwei Jahren Freiheitsstrafe). Am 13. Februar 2019 befolgte A. aufgrund seines Geldversprechens erneut die elektronischen Anweisungen des Angeklagten und nahm in verschiedenen Posen unter anderem fünf Bilder ihres unbekleideten Intimbereichs auf sowie einen Film, der zeigt, wie sie sich auszieht, an ihrer Scheide manipuliert und einen Stift in diese einführt. Auch diese Dateien sandte sie dem Angeklagten (Fall II. 3 der Urteilsgründe, belegt mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten). Schließlich bot dieser dem aus finanziell schwachen Verhältnissen stammenden Mädchen - im Ergebnis erfolglos - die Zahlung von 2.400 € für Geschlechtsverkehr an. Die Strafkammer hat die Taten rechtlich jeweils als sexuellen Missbrauch von Kindern gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB gewertet, im zweiten Fall begangen in Tateinheit mit „Verbreitung“ kinderpornografischer Schriften gemäß § 184b Abs. 1 Nr. 2 StGB.

Am 1. Februar 2019 forderte der Angeklagte von der zwölfjährigen M., deren Alter er kannte, Bilder und Videos, die sie bei sexuellen Handlungen zeigen. Das Mädchen schickte daraufhin eine kurze Sequenz, auf dem seine entblößte Scheide zu sehen ist, und einen Film, in dem es nackt mit den Händen an Brust und Vagina manipuliert (Fall II. 4 der Urteilsgründe). Diese Tat hat das Landgericht als „Erwerb“ kinderpornografischer Schriften gemäß § 184b Abs. 3 StGB gewürdigt und mit einer Freiheitsstrafe von neun Monaten geahndet.

Mit der 14 Jahre alten S. traf sich der Angeklagte persönlich, wobei es zu mehreren einvernehmlichen Sexualkontakten kam. Auch von ihr forderte er Bilder und Videos ein, die sie bei der Vornahme sexueller Handlungen zeigen. Sie schickte dem Angeklagten am 31. Januar 2019 ein Foto, auf dem sie nackt mit gespreizten Beinen zu sehen ist (Fall II. 5 der Urteilsgründe), und am 9. März 2019 zwei Videos, in denen sie sich Gegenstände in Scheide und After einführt (Fall II. 6 der Urteilsgründe). Diese Taten hat die Strafkammer als „Erwerb“ jugendpornografischer Schriften gemäß § 184c Abs. 3 StGB gewertet und mit jeweils sechs Monaten Freiheitsstrafe bestraft.

Der Angeklagte nutzte den Internet-Anbieter Dropbox dafür, 32 Videos mit kinderpornografischen Inhalten zu speichern. Die Filme wiesen eine Länge von bis zu über 23 Minuten auf und zeigten unter anderem die vaginale und anale Penetration verschiedener kleiner Kinder. Am 21. Januar 2019 schickte der Angeklagte dem bereits genannten Bekannten den Link zu dieser Dropbox, so dass jener auf die darin gespeicherten Inhalte Zugriff nehmen konnte (Fall II. 7 der Urteilsgründe). Die Strafkammer hat dieses Verhalten als „Verbreitung“ kinderpornografischer Schriften gemäß § 184b Abs. 1 Nr. 2 StGB gewürdigt und mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten geahndet.

Schließlich beherbergte der Angeklagte Mitte Februar 2019 für einige Tage ein 15-jähriges Mädchen, das aus einem Heim weggelaufen war. Er übte vielfach den Geschlechts- und Analverkehr mit der Jugendlichen aus und forderte sie per Chatnachricht dazu auf, gegen Geldzahlung Kontakt zu Mädchen „zwischen 8 und 11" aus ihrem Umfeld herzustellen. Die Strafkammer hat den Angeklagten insoweit aus tatsächlichen Gründen vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Missbrauchs von Jugendlichen freigesprochen.

3. Sachverständig beraten ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der Angeklagte bei Begehung der Taten voll schuldfähig war. Zwar weise er eine dissoziale Persönlichkeit und eine Störung der Sexualpräferenz in Form einer pädophilen Nebenströmung auf. Beides zusammen erreiche jedoch nicht den Grad einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB.

4. Die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung hat die Strafkammer auf § 66 Abs. 2 StGB gestützt und ausgeführt, sie hätte bereits für die Fälle II. 1 bis 3 der Urteilsgründe eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten für tat- und schuldangemessen gehalten und ausgeurteilt. Die Gesamtwürdigung des Angeklagten und seiner Taten ergebe, dass er hangbedingt für die Allgemeinheit gefährlich sei.

II.

Die auf die Sachrüge gebotene umfassende materiellrechtliche Überprüfung des Urteils führt neben geringfügigen Änderungen des Schuldspruchs (1.) zur Aufhebung der Maßregelanordnung (3.). Zum Strafausspruch hat das Rechtsmittel dagegen keinen Fehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt (2.). Im Einzelnen:

1. Die Feststellungen tragen weitgehend den Schuldspruch. Insbesondere beschwert es den Angeklagten nicht, dass die Strafkammer ihn in den Fällen II. 1 bis II. 3 der Urteilsgründe nicht zugleich wegen tateinheitlichen Einwirkens auf ein Kind im Sinne des § 176 Abs. 3 Buchst. b StGB (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2015 - 3 StR 490/14, NStZ-RR 2015, 139 f.) und/oder wegen Besitzverschaffung von kinderpornografischen Schriften gemäß § 184b Abs. 3 StGB aF verurteilt hat. Soweit das Landgericht in Fall II. 2 der Urteilsgründe das Weiterleiten des Videos an den Bekannten rechtsfehlerfrei als Vergehen nach § 184b Abs. 2 StGB aF gewürdigt hat, ist der Schuldspruch allerdings dahin zu ändern, dass eine „Drittbesitzverschaffung“ anstatt eines „Verbreitens“ kinderpornografischer Schriften vorliegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Oktober 2020 - 1 StR 234/20, juris Rn. 3; vom 15. Januar 2020 - 2 StR 321/19, juris). Gleiches gilt für Fall II. 7 der Urteilsgründe.

In den Fällen II. 5 und 6 der Urteilsgründe ist das Landgericht nicht gehalten gewesen, sich ausdrücklich damit auseinander zu setzen, dass die 14-jährige Jugendliche dem zur Tatzeit 37 Jahre alten Angeklagten die von ihr erstellten pornografischen Bilder freiwillig übermittelte (zum sogenannten Jugendliebeprivileg nach § 184c Abs. 4 StPO s. ausführlich BGH, Beschluss vom 12. Januar 2021 - 3 StR 362/20, juris Rn. 21 ff. mwN). Soweit die Strafkammer den Angeklagten in diesen Fällen und in Fall II. 4 der Urteilsgründe wegen „Erwerbs“ der inkriminierten Schriften verurteilt hat, ist die Tenorierung in „Besitzverschaffung“ zu ändern (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. September 2020 - 3 StR 275/20, NStZ 2021, 41; vom 18. Dezember 2019 - 3 StR 264/19, NStZ-RR 2020, 172, 173; vom 14. Juni 2018 - 3 StR 180/18, juris Rn. 15).

2. Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung stand. Das Landgericht hat eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten gemäß § 21 StGB wegen schwerer anderer seelischer Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.

a) Ein abweichendes Sexualverhalten kann nicht ohne Weiteres einer schweren Persönlichkeitsstörung und dem Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Störung (vormals Abartigkeit) gleichgesetzt werden. Die Diagnose einer Pädophilie hat für sich genommen kaum Aussagekraft für das Vorliegen des vierten Eingangsmerkmals von § 20 StGB und erst recht nicht für die Ãœberzeugung von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit. Steht für die Beurteilung der Schuldfähigkeit eine von der Norm abweichende sexuelle Präferenz im Vordergrund, muss diese den Täter im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert haben, dass er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen aufbringt, sondern bei der Begehung der Sexualtaten aus einem starken, mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus handelt. Die Steuerungsfähigkeit kann demzufolge etwa dann beeinträchtigt sein, wenn die abweichenden Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz, durch Ausbau von Raffinements und durch gedankliche Einengung auf diese Praktiken auszeichnet. Ob die sexuelle Devianz in Form einer Pädophilie einen solchen Ausprägungsgrad erreicht, der dem Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Störung zugeordnet werden kann, ist aufgrund einer Gesamtschau der Täterpersönlichkeit und seiner Taten zu beurteilen. Dabei kommt es darauf an, ob die sexuellen Neigungen die Persönlichkeit des Täters so verändert haben, dass er nicht die zur Bekämpfung seiner Triebe erforderlichen Hemmungen aufzubringen vermag (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 10. Oktober 2000 - 1 StR 420/00, BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 37; vom 10. November 2015 - 3 StR 407/15, NStZ 2016, 144, 145 mwN; vom 10. Januar 2019 - 1 StR 574/18, BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 44 Rn. 14 mwN).

b) Ausgehend von diesen Maßstäben hat sich das Landgericht ohne Rechtsfehler davon überzeugt, dass die Voraussetzungen des § 21 StGB beim Angeklagten nicht vorlagen. Die Würdigung, dass er nicht kernpädophil veranlagt sei, sondern unter einer pädophilen Nebenströmung leide, deren Schweregrad auch eingedenk der parallel diagnostizierten dissozialen Persönlichkeitsstörung nicht ausreiche, um sie unter das Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB zu fassen, hat die sachverständig beratene Strafkammer maßgeblich auf folgende Umstände gestützt: Der Angeklagte sei durchgehend berufstätig gewesen, habe über längere Zeiträume Beziehungen mit erwachsenen Frauen geführt und seine sexuellen Handlungen in deren Rahmen zu kontrollieren vermocht. Die Selbstwertproblematik der Kindheit und Jugend habe sich im weiteren Verlauf seines Lebens nicht durchgehend und im Tatzeitraum überhaupt nicht ausgewirkt. Gegen diese Würdigung ist nichts zu erinnern, zumal der Lebenslauf des Angeklagten keine kontinuierliche pathologische Entwicklung aufweist, die einen süchtigen Ausnahmezustand und einen unwiderstehlichen Zwang nahelegen würde.

3. Die Anordnung der Maßregel unterliegt dagegen durchgreifenden Bedenken. Die formalen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB hat die Strafkammer zwar rechtsfehlerfrei als erfüllt angesehen. Sie hat jedoch im Rahmen der Prüfung des Hangs sowie der hangbedingten Gefährlichkeit wesentliche Umstände nicht in den Blick genommen.

Ein Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Das Vorliegen eines solchen Hangs hat das Tatgericht unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgebenden Umstände darzulegen. Diese Würdigung bedarf in den Fällen von § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB, bei denen Vortaten und Vorverbüßungen fehlen, besonderer Sorgfalt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 29. November 2018 - 3 StR 300/18, NStZ-RR 2019, 140, 141 mwN). In die Würdigung ist gegebenenfalls auch einzubeziehen, dass sich der Täter über längere Zeiträume straflos verhalten hat (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2011 - 3 StR 208/11, BGHR StGB § 66 Strikte Verhältnismäßigkeit 1 Rn. 14; Urteil vom 15. Februar 2011 - 1 StR 645/10, NStZ-RR 2011, 204, 205; für die Unterbringung nach § 63 StGB s. BGH, Beschluss vom 9. Mai 2019 - 5 StR 109/19, juris Rn. 14 mwN). Diesen Maßstäben wird das angefochtene Urteil nicht in vollem Umfang gerecht.

Die Strafkammer hat den Hang und die hierdurch bedingte Gefährlichkeit des Angeklagten aus der relativ zeitnahen Abfolge der Anlassdelikte (vgl. BGH, Urteil vom 31. Juli 2019 - 2 StR 132/19, juris Rn. 19 mwN), seinen gesicherten Chat-Nachrichten und Aktivitäten im Internet, dem erfolgreichen manipulativen Vorgehen gegenüber den Opfern, seinen Vorstrafen, seiner Dissozialität, seinen Empathiedefiziten, seiner auf die Ausübung von Geschlechtsverkehr mit acht- bis elfjährigen Mädchen ausgerichteten sexuellen Devianz, seiner fehlenden kritischen Auseinandersetzung mit letzterer und mit den Taten sowie der Ermangelung schützender Faktoren wie einem sozialen Empfangsraum und realen Therapiemöglichkeiten geschlossen. Damit hat das Landgericht gewichtige Umstände gewürdigt, die eine innere Haltlosigkeit des Angeklagten und eine daraus resultierende hangbedingte Gefährlichkeit belegen können. Es hat jedoch außer Acht gelassen, dass sich der Angeklagte über längere Zeit straflos verhielt. Denn er missbrauchte vor den hier in Rede stehenden Taten zuletzt im Januar 2000 als gerade 18-jähriger Heranwachsender ein Kind und wurde dafür nach dem Jugendstrafrecht bestraft. In dem darauffolgenden, immerhin 19 Jahre währenden Zeitraum ließ er sich kein weiteres Sexualdelikt zuschulden kommen. Von 2007 bis 2017 verhielt er sich sogar vollkommen straffrei. Wie dem Angeklagten dies trotz seiner sexuell devianten und dissozialen Persönlichkeitsstruktur gelang, lassen die Urteilsgründe offen. Sie verhalten sich insbesondere nicht zu der Frage, ob in jener Zeit gegebenenfalls gefahrreduzierende Umstände effektiv waren, die auch in Zukunft eine protektive Wirkung entfalten könnten.

Überdies zeigt sich eine gewisse Inkonsistenz im Hinblick auf die Würdigung bei der Prüfung der Schuldfähigkeit. Dort ist die Strafkammer von einer Reifeentwicklung nach dem 18. Lebensjahr ausgegangen; die in der Kindheit und Jugend beschriebene Selbstwertproblematik hat sie als nahezu erledigt angesehen und dem Angeklagten eine weitgehend uneingeschränkte psychosoziale Leistungs- und Beziehungsfähigkeit bescheinigt. Seine hangbedingte Gefährlichkeit hat sie dagegen mit der früheren Delinquenz begründet, die - bezogen auf den Urteilszeitpunkt - in der Zusammenschau mit den Anlasstaten ein eingeschliffenes Verhaltensmuster erkennen lasse. Die augenscheinliche Wende in seiner Biographie besonders nach dem Jahr 2007, in dem der Angeklagte inhaftiert wurde, hat das Landgericht dabei außer Acht gelassen.

Angesichts des Ausnahmecharakters der Sicherungsverwahrung insbesondere auf der Grundlage des § 66 Abs. 2 StGB hätte die Strafkammer aber grundsätzlich alle relevanten Umstände, die sie - insoweit rechtsfehlerfrei - bei der Entscheidung über die Schuldfähigkeit erwogen hat, auch bei der Prüfung des Hangs zugrunde legen und erörtern müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2011 - 3 StR 208/11, BGHR StGB § 66 Strikte Verhältnismäßigkeit 1 Rn. 14). Die dort genannten Aspekte müssen im vorliegenden Fall der Feststellung eines Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB nicht entgegenstehen, sie können es aber: Sowohl die längere Straffreiheit als auch der jetzige Rückfall in die Delinquenz können sich als Ausfluss außergewöhnlicher äußerer Umstände und damit als temporäre Episode erweisen.

Über den Maßregelausspruch ist deshalb erneut zu verhandeln und zu entscheiden.

Die vom Landgericht zu den Voraussetzungen des § 66 StGB getroffenen Feststellungen sind von dem aufgezeigten Erörterungsmangel an sich nicht betroffen und zudem in den Teilen doppelrelevant und damit feststehend, in denen sie auch die Würdigung der Schuldfähigkeit des Angeklagten stützen. Sie sind mit dem Maßregelausspruch im Übrigen gleichwohl aufzuheben, um dem neuen Tatgericht insoweit insgesamt stimmige Feststellungen zu ermöglichen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 814

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 240; StV 2022, 301

Bearbeiter: Christian Becker