HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1123
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 41/22, Beschluss v. 23.06.2022, HRRS 2022 Nr. 1123
1. Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Münster vom 22. Juli 2021 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Angeklagte.
Der Beschluss des Landgerichts Münster vom 27. Oktober 2021, durch den die Revision des Angeklagten als unzulässig verworfen wurde, ist damit gegenstandslos.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte unter Ziffer II. der Urteilsgründe in Bezug auf die zweite Auseinandersetzung mit dem Nebenkläger wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Dem Angeklagten war nach Versäumung der Revisionsbegründungsfrist auf seinen - zulässigen - Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 und 2 StPO). Aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 10. Februar 2022 genannten Gründen ist die Versäumung der Frist auf ein dem Angeklagten nicht zuzurechnendes Verschulden seines Verteidigers zurückzuführen (§ 44 Satz 1 StPO).
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt, von der es als Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer zwei Monate für vollstreckt erklärt hat. Die Revision des Angeklagten hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Nach den Feststellungen fügte der Angeklagte dem Nebenkläger vor einer Gaststätte aus Verärgerung über ein gescheitertes Betäubungsmittelgeschäft mit einem Klappmesser eine lebensgefährliche Schnittverletzung am Hals zu. Der Nebenkläger setzte daraufhin einen Notruf bei der Polizei ab und verfolgte den Angeklagten, um dessen Festnahme zu ermöglichen. Etwa 200 Meter von der Gaststätte entfernt kam es zwischen den beiden zu einer weiteren Auseinandersetzung, zu deren Beginn der Angeklagte das Messer in ausgeklapptem Zustand fest in der Hand hielt. Nachdem der Nebenkläger den Angeklagten zu Fall gebracht hatte, entwickelte sich ein in seinen Einzelheiten nicht mehr aufklärbares Handgemenge, in dessen Verlauf sich der Nebenkläger verschiedene Verletzungen (Schnittwunden) zuzog. Wie es zu diesen Verletzungen kam, vermochte die Strafkammer nicht festzustellen. Sie hält es für möglich, dass es sich dabei um „unfallbedingte Verletzungsmechanismen“ gehandelt hat. Schließlich erlitt der Nebenkläger auch noch eine nicht konkret lebensgefährliche Stichverletzung am Brustkorb, deren nähere Umstände das Landgericht ebenfalls nicht aufklären konnte. Auch in Bezug hierauf vermochte die Strafkammer nicht auszuschließen, dass diese Verletzung „unabsichtlich durch einen Unfallmechanismus“ entstanden ist (Sturz des Nebenklägers in die messerführende Hand des Angeklagten, unabsichtliches Sich-Hineinbewegen des Nebenklägers in das Messer, ungezielter Stich des Angeklagten in Richtung des ihn festhaltenden Nebenklägers, um diesen abzuwehren). Allen denkbaren Fällen sei aber gemein, „dass das Messer durch den festen Griff des Angeklagten […] ein Widerlager bewirkte“. Dass der Nebenkläger das Messer bereits selbst in der Hand hielt, als er sich die Schnittverletzung zuzog, könne ausgeschlossen werden.
Der Angeklagte hat eingeräumt, den Nebenkläger vor der Gaststätte gezielt verletzt zu haben. In Bezug auf die Verletzungen des Nebenklägers im Rahmen der zweiten Auseinandersetzung hat die Strafkammer angenommen, dass der insoweit nicht geständige Angeklagte zumindest mit bedingtem Körperverletzungsvorsatz gehandelt habe.
2. Während die Verurteilung des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB in Bezug auf die dem Nebenkläger vor der Gaststätte zugefügte erste Verletzung revisionsrechtlicher Überprüfung standhält, kann die entsprechende Verurteilung hinsichtlich der Verletzungen des Nebenklägers im Rahmen der zweiten Auseinandersetzung keinen Bestand haben. Denn die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe in Bezug hierauf bedingt vorsätzlich gehandelt, ist - auch mit Rücksicht auf den eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfungsmaßstab (vgl. nur BGH, Urteil vom 13. Januar 2022 - 3 StR 341/21, NStZ 2022, 496 f.; Urteil vom 11. Januar 2022 - 1 StR 371/21, juris Rn. 7; Beschluss vom 31. Mai 2021 - 1 StR 125/21, juris Rn. 7; Beschluss vom 16. Juli 2019 - 4 StR 231/19, juris Rn. 7; Urteil vom 5. September 2019 - 3 StR 219/19, juris Rn. 8, jew. mwN) - nicht rechtsfehlerfrei belegt.
a) Der Vorsatz des Täters muss sich auf den zum Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs führenden Geschehensablauf erstrecken (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 - 4 StR 223/15, NStZ 2016, 721, 722 f.; Urteil vom 9. Oktober 1969 - 2 StR 376/69, BGHSt 23, 133, 135; Urteil vom 21. April 1955 - 4 StR 552/54, BGHSt 7, 325, 329). Da ein Kausalzusammenhang zwischen zwei Ereignissen kaum je in allen Einzelheiten zu erfassen ist, wird der Vorsatz durch unwesentliche Abweichungen des vorgestellten vom tatsächlichen Geschehensablauf nicht in Frage gestellt. Eine solche Abweichung ist als unwesentlich anzusehen, wenn sie sich innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren hält und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigt (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 2015, aaO; Beschluss vom 15. Februar 2011 - 1 StR 676/10, BGHSt 56, 162, 166; LK-StGB/Vogel/Bülte, 13. Aufl., § 16 Rn. 56 ff. mwN). In Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit müssen bei der Annahme eines bedingten Verletzungsvorsatzes beide Elemente der inneren Tatseite, also sowohl das Wissens- als auch das Willenselement, in jedem Einzelfall besonders geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 23. September 2021 - 3 StR 38/21, juris Rn. 23; Urteil vom 20. September 2012 - 3 StR 140/12, NStZ-RR 2013, 75, 77; Beschluss vom 26. August 2005 - 3 StR 259/05, NStZ-RR 2006, 9, 10; Beschluss vom 23. April 2003 - 2 StR 52/03, NStZ 2003, 603 f., jew. mwN). Hält der Tatrichter nach Ausschöpfung aller Beweismittel unter Ausschluss anderweitiger Geschehensabläufe mehrere Sachverhaltsvarianten für möglich, muss für jede dieser Sachverhaltsvarianten die Strafbarkeit des Angeklagten feststehen (vgl. BGH, Urteil vom 8. März 2012 - 4 StR 498/11, NStZ 2012, 441, 442 mwN für die Verurteilung wegen Mordes auf wahldeutiger Tatsachengrundlage).
b) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht gerecht.
aa) Die Strafkammer hat hierzu ausgeführt, dass der Angeklagte „die allgemeine Gefährlichkeit seines Handelns für das Leben des Nebenklägers durchaus erkennen konnte“. Denn er habe das Messer in dem Bewusstsein um dessen Gefährlichkeit „erneut und bewusst“ in der Auseinandersetzung eingesetzt und damit weitere Verletzungen des Nebenklägers in Kauf genommen. Dass es dabei zu auch abstrakt lebensgefährlichen Verletzungen kommen konnte, liege auf der Hand und sei vom Angeklagten gebilligt worden. Denn er habe „das aufgeklappte Messer nicht losgelassen, sondern festgehalten, wodurch sich der Nebenkläger die Stichwunde im Brustbereich überhaupt erst zugezogen“ habe.
bb) Diesen Ausführungen lässt sich nicht entnehmen, dass der Angeklagte die von der Strafkammer für möglich gehaltenen verschiedenen, als „Unfallmechanismus“ oder „unfallbedingte Verletzungsmechanismen“ bezeichneten Kausalverläufe zumindest in groben Zügen vor Augen hatte und - daran anknüpfend - deren Eintritt auch billigend in Kauf nahm. Dies liegt angesichts der teilweise nicht unbedingt naheliegenden Geschehensvarianten (unabsichtliches Sich-Hineinbewegen des Nebenklägers in das Messer) auch nicht auf der Hand. Dem gezielten Messereinsatz im Rahmen der ersten Auseinandersetzung kommt insoweit keine sich aufdrängende Indizwirkung zu. Der Umstand, dass der Angeklagte „die allgemeine Gefährlichkeit seines Handelns für das Leben des Nebenklägers durchaus erkennen konnte“, kann - für sich genommen - nur Fahrlässigkeit belegen.
3. Der Schuldspruch wegen der zweiten Tat kann daher keinen Bestand haben. Seine Aufhebung entzieht zugleich dem Gesamtstrafenausspruch die Grundlage.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1123
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede