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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1139

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 267/22, Beschluss v. 30.08.2022, HRRS 2022 Nr. 1139


BGH 4 StR 267/22 - Beschluss vom 30. August 2022 (LG Dresden)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefahrprognose: Begründung, schwere Störung des Rechtsfrieden, drohende Taten des Beschuldigten, Maß der Gefährdung, Gewicht der bedrohten Rechtsgüter); gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr (verkehrsspezifische Gefahr: unmittelbares Führen der Tathandlung zur Schädigung, Fortbewegung des von dem Eingriff betroffenen Fahrzeugs, Gefahr für die Fahrzeuginsassen oder das Fahrzeug gerade infolge der Dynamik des Straßenverkehrs).

§ 63 StGB; § 315b StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 17. März 2022 mit den Feststellungen aufgehoben; davon ausgenommen sind die Feststellungen zum äußeren Geschehen der Anlasstaten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet sich der Beschuldigte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

1. Das Landgericht hat hinsichtlich der Anlasstaten Folgendes festgestellt:

a) Am 22. Februar 2021 sprang der Beschuldigte aus Ärger über den Geschädigten, der mit seinem Pkw aus Sicht des Beschuldigten an einer Straßenbahnhaltestelle zu weit in den Fußgängerbereich vorgefahren war, auf die Motorhaube des an einer roten Ampel wartenden Pkw und trat mehrfach gegen die Frontscheibe. Da die zersplitterte Scheibe keine Weiterfahrt zuließ, bog der Geschädigte nach rechts um die Ecke und hielt nach wenigen Metern an. Der Beschuldigte sprang erneut auf die Motorhaube und trat nochmals auf die schon gesplitterte Scheibe ein (Tat II.1 der Urteilsgründe).

b) Am 6. März 2021 ging der Beschuldigte auf einen Mitbewohner seines Wohnheims mit den Worten „Ich bring dich um!“ los und versetzte ihm in der Folge eine Vielzahl von Faustschlägen und Tritten. Der Beschuldigte war aufgrund einer bei ihm bestehenden paranoiden Schizophrenie der Überzeugung, dass der Geschädigte „ihn fertig machen“ wolle. Als er wenig später erneut in einem Spätshop auf den Geschädigten traf, schlug er wiederum auf ihn ein (Tat II.2 der Urteilsgründe).

c) Am 8. März 2021 versetzte der Beschuldigte dem ihm unbekannten Geschädigten an einer Straßenbahnhaltestelle mit seinem Kopf einen Stoß gegen den Kopf und trat ihm mit Anlauf mit dem Fuß gegen den Brustkorb (Tat II.3 der Urteilsgründe).

d) Nachdem ihm im Anschluss an diese Tat ein Polizeibeamter eine Zigarette aus der Hand genommen hatte, spuckte er in dessen Richtung, um seine Missachtung auszudrücken (Tat II.4 der Urteilsgründe).

e) Am 20. März 2021 beleidigte der Beschuldigte an einer Straßenbahnhaltestelle die ihm unbekannte Geschädigte mit „Fotze“ und „Bitch“, schlug ihr mit der Faust ins Gesicht und trat ihr mit dem Knie in den Bauch. Einem weiteren Geschädigten versetzte er mehrere Faustschläge und Tritte (Tat II.5 der Urteilsgründe).

f) Am 21. März 2021 warf der Beschuldigte einen Hocker in Richtung eines Mitbewohners in seinem Wohnheim. Zuvor hatte er diesen ohne nachvollziehbaren Anlass gefragt, warum er ihn schlecht mache. In der Folge ergriff der Beschuldigte ein Küchenmesser und wollte dem Geschädigten damit in das Gesicht und in den Kopfbereich stechen. Dabei nahm er billigend in Kauf, dass er den Geschädigten lebensgefährlich verletzen oder dessen Augen derart verletzen könnte, dass der Geschädigte das Augenlicht auf mindestens einem Auge verlieren könnte. Bevor der Beschuldigte von weiteren Bewohnern überwältigt werden konnte, gelang es ihm, dem Geschädigten mit der Spitze des Messers eine Wunde an der Wange beizubringen (Tat II.6 der Urteilsgründe).

g) Am 30. März 2021 äußerte der Beschuldigte in einem Klinikum in bedrohlicher Haltung gegenüber zwei Krankenschwestern: „Den morgigen Tag werdet ihr nicht erleben, ich bringe euch alle um.“ Gleichzeitig verlangte er den Schlüssel zum Betäubungsmittelschrank und die Herausgabe von Morphium aus dem Schrank. Dies hatte jedoch keinen Erfolg, da sich die Krankenschwestern weigerten, den Schlüssel und die Betäubungsmittel herauszugeben, und versuchten, Hilfe herbeizurufen. Der Beschuldigte schlug einer der Geschädigten einen Notfallpieper aus der Hand, der anderen riss er ein Telefon aus der Hand. Unter Ausnutzung der Fortwirkung der Gewaltdrohungen nahm er von einem Medikamentenwagen eine Flasche mit einem Schmerzmittel und trank davon, was die beiden Krankenschwestern noch unter dem Eindruck der Gewalt duldeten (Tat II.7 der Urteilsgründe).

h) Im Anschluss an die Tat II.7 der Urteilsgründe versteckte sich der Beschuldigte in einem Krankenzimmer. Als der dort untergebrachte Patient das Zimmer verließ, folgte ihm der Beschuldigte und versetzte ihm Schläge gegen die Brust und auf die Nase. Dem zu Boden gegangenen Geschädigten trat der Beschuldigte dreimal gegen den Kopf (Tat II.8 der Urteilsgründe).

i) Am 11. Mai 2021 versetzte der Beschuldigte an einer Straßenbahnhaltestelle mit seinem Kopf dem ihm unbekannten Geschädigten unvermittelt einen Stoß gegen den Kopf (Tat II.9 der Urteilsgründe).

2. Das Landgericht hat die Taten als Sachbeschädigung in Tateinheit mit vorsätzlichem gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr (Fall II.1 der Urteilsgründe), vorsätzliche Körperverletzung in vier Fällen (Fälle II.2, II.3, II.8 und II.9 der Urteilsgründe), davon in einem Fall in Tateinheit mit Bedrohung (Fall II.2 der Urteilsgründe), Beleidigung (Fall II.4 der Urteilsgründe), vorsätzliche Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung (Fall II.5 der Urteilsgründe), gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter schwerer Körperverletzung (Fall II.6 der Urteilsgründe) sowie versuchte räuberische Erpressung und Raub (Fall II.7 der Urteilsgründe) gewertet.

3. Dem psychiatrischen Sachverständigen folgend hat das Landgericht angenommen, dass der Beschuldigte an einer paranoiden Schizophrenie und an einer Polytoxikomanie leidet. Aufgrund der Schizophreniesymptome sei bei den Taten II.2 und II.6 der Urteilsgründe von einer Aufhebung der Steuerungsfähigkeit auszugehen. Hinsichtlich der übrigen Taten sei nicht auszuschließen, dass die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten „nicht nur eingeschränkt“, sondern ganz aufgehoben gewesen sei.

II.

1. Die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hält revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand, weil die Gefahrenprognose nicht tragfähig begründet ist.

a) Die für die Anordnung der Unterbringung gemäß § 63 StGB erforderliche Wahrscheinlichkeit höheren Grades, der Täter werde infolge seines fortdauernden psychischen Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln. Die festgestellten Anlasstaten, aber auch andere dafür herangezogene Taten können die Gefahrenprognose nur dann stützen, wenn der gefährliche Zustand darin seinen Ausdruck findet (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 371/20 Rn. 18; Urteil vom 8. Oktober 2020 - 4 StR 256/20 Rn. 15; Beschluss vom 24. Juni 2004 - 4 StR 210/04 Rn. 5, jeweils mwN).

b) Diesen Anforderungen wird die Gefahrenprognose nicht gerecht.

Denn das Landgericht hat seine Prognose nicht allein auf die beiden Taten gestützt, zu denen es rechtsfehlerfrei belegt hat, dass der Beschuldigte in Folge der Auswirkungen der bei ihm bestehenden paranoiden Schizophrenie im Zustand aufgehobener Steuerungsfähigkeit gehandelt hat (Taten II.2 und II.6 der Urteilsgründe). Es hat vielmehr hinsichtlich der Schwere der zu erwartenden Taten auch auf die Taten II.5 und II.7 der Urteilsgründe abgestellt und dies mit einer „Fortsetzungsneigung“ begründet, die sich in den Taten II.1 bis II.8 der Urteilsgründe zeige. Ferner hat es darauf abgestellt, dass die Taten II.3 und II.4 der Urteilsgründe sowie die Taten II.7 und II.8 der Urteilsgründe kurz hintereinander begangen wurden.

Anders als in den Fällen II.2 und II.6 der Urteilsgründe enthält das Urteil aber keinen Beleg dafür, dass diese (Anlass)Taten ebenfalls Ausdruck der psychischen Erkrankung des Beschuldigten waren. Vielmehr beschränkt es sich insoweit auf die Feststellung, es sei nicht auszuschließen, dass auch diese Taten psychotisch motiviert waren. Zwar lässt sich den Urteilsgründen in ihrem Gesamtzusammenhang entnehmen, dass bei dem Beschuldigten im Jahr 2021 psychotische Symptome auftraten. Jedoch hat das Landgericht diese gerade nicht mit einzelnen Taten in Verbindung zu bringen vermocht. Allein mit dem Vorhandensein von Krankheitsmerkmalen im Tatzeitraum ist der erforderliche (symptomatische) Zusammenhang zwischen der krankhaften seelischen Störung des Beschuldigten und den jeweiligen weiteren Anlasstaten indes nicht belegt und damit auch deren Indizwirkung für die Gefahrenprognose nicht begründet.

Die bislang unzureichend begründete Gefahrenprognose nötigt trotz der zahlreichen Indizien für eine Gefährlichkeit des Beschuldigten i.S.v. § 63 StGB zur Aufhebung des Urteils.

2. Die Feststellungen zum äußeren Geschehensablauf der Anlasstaten sind rechtsfehlerfrei getroffen und können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Im Fall II.1 der Urteilsgründe liegt kein vorsätzlicher gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 1 StGB vor, da es an der verkehrsspezifischen Gefahr für eines der dort benannten Rechtsgüter fehlt. Wenn die Tathandlung - wie hier - unmittelbar zu einer Schädigung führt, ist eine verkehrsspezifische Gefahr nur dann zu bejahen, wenn der Fortbewegung des von dem Eingriff betroffenen Fahrzeugs in einer Weise entgegen gewirkt wird, dass gerade infolge der Dynamik des Straßenverkehrs eine konkrete Gefahr für die Fahrzeuginsassen oder das Fahrzeug entsteht (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 2021 - 4 StR 167/21 Rn. 18; Beschluss vom 12. Januar 2021 - 4 StR 326/20 Rn. 3 f.). Hieran fehlt es, weil der Beschuldigte nur auf das haltende Fahrzeug des Geschädigten eingewirkt hat.

b) Sofern im Fall II.7 der Urteilsgründe erneut der subjektive Tatbestand der versuchten räuberischen Erpressung festgestellt wird, wird sich der neue Tatrichter zu den Voraussetzungen eines Rücktritts gemäß § 24 Abs. 1 StGB zu verhalten haben.

c) Eine Gefahrenprognose i.S.d. § 63 StGB setzt eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür voraus, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft Taten begehen wird, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 2017 - 1 StR 618/16 Rn. 9; Beschluss vom 16. Januar 2013 - 4 StR 520/12 Rn. 8). Der neue Tatrichter wird daher seine Prognose darauf zu erstrecken haben, ob und welche Taten von dem Beschuldigten infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 2017 - 1 StR 618/16 Rn. 10).

d) Sollte außer der Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus auch eine solche in einer Entziehungsanstalt wegen einer Polytoxikomanie des Beschuldigten in Betracht kommen, wird das neue Tatgericht die Voraussetzungen von § 72 Abs. 1 und 2 StGB zu erörtern haben (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2016 - 1 StR 254/16 Rn. 14 ff. mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1139

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede