HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 142
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 371/20, Beschluss v. 03.12.2020, HRRS 2021 Nr. 142
1. Dem Beschuldigten wird auf seinen Antrag nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Hannover vom 25. Mai 2020 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Beschuldigte.
Der Beschluss des Landgerichts Hannover vom 3. August 2020, durch den die Revision des Beschuldigten als unzulässig verworfen wurde, ist damit gegenstandslos.
2. Auf die Revision des Beschuldigten wird das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Beschuldigten führt zur Aufhebung des Urteils.
I.
Dem Beschuldigten war auf seinen zulässigen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision zu gewähren. Denn den Beschuldigten trifft kein Verschulden daran, dass sein Verteidiger die Frist zur rechtzeitigen Begründung des Rechtsmittels versäumt hat. Mit Gewährung der Wiedereinsetzung ist der Beschluss des Landgerichts Hannover vom 3. August 2020, mit dem die Revision als unzulässig verworfen wurde, gegenstandslos.
Nach den Feststellungen des Landgerichts setzte sich der Beschuldigte am 28. September 2019 gegen 2.00 Uhr an einer Stadtbahnhaltestelle auf die Bahnsteigkante, so dass seine Beine in das Gleisbett und über den Schienenkörper ragten. Der Stadtbahnführer, der mit einer mit Fahrgästen besetzten Stadtbahn nahte, führte eine Gefahrenbremsung durch, um nicht mit dem Beschuldigten zusammen zu stoßen. Durch die Gefahrenbremsung wurde niemand verletzt, da der Stadtbahnführer die Fahrgäste rechtzeitig warnen konnte (Fall 1). Daraufhin wurden zwei Polizeibeamte herbeigerufen. Als ein Polizeibeamter mit seinem Mobiltelefon den Personalausweis des Beschuldigten zur Aufnahme der Personalien fotografieren wollte, schlug dieser dem Polizeibeamten das Mobiltelefon wuchtig aus der Hand. Die Polizeibeamten fixierten den Beschuldigten daraufhin am Boden. Dabei trat er um sich, wobei er eine Verletzung der Polizeibeamten billigend in Kauf nahm. Er traf einen Polizeibeamten am Rücken, ohne ihn zu verletzen (Fall 2).
Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten bei beiden Taten aufgrund einer akut dekompensierten manisch-psychotisch schizoaffektiven Psychose, die das Eingangsmerkmal einer krankhaften seelischen Störung erreichte, nicht ausschließbar aufgehoben und seine Steuerungsfähigkeit zumindest erheblich vermindert war.
1. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB hält bereits deshalb rechtlicher Prüfung nicht stand, weil die Anlasstaten nicht rechtsfehlerfrei festgestellt sind.
a) Die Voraussetzungen des § 315 Abs. 1 Nr. 2 StGB sind weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht tragfähig begründet.
aa) Die getroffenen Feststellungen tragen bereits in objektiver Hinsicht nicht die Annahme, dass der Beschuldigte durch sein Verhalten Leib oder Leben eines anderen Menschen oder eine fremde Sache von bedeutendem Wert gefährdet hat.
Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der - was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist - die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 2019 ? 4 StR 517/18 zu § 315c StGB; BGH, Beschluss vom 10. Dezember 1996 - 4 StR 615/96 zu § 315 StGB).
Nach diesen Maßstäben genügt die Feststellung des Landgerichts, dass das Verhalten des Beschuldigten eine Gefahrenbremsung durch den Stadtbahnführer ausgelöst hat, nicht den Anforderungen zur Darlegung einer konkreten Gefahr für die körperliche Integrität der Zuginsassen. Vielmehr spricht die Feststellung, dass der Stadtbahnführer die Fahrgäste vor Einleitung der Bremsung warnen konnte, dafür, dass er das Hindernis aus einer Entfernung wahrnahm, die ihm ausreichend Zeit für die unfallvermeidende Reaktion bot. Ohne genaue Feststellung zur Geschwindigkeit der herannahenden Bahn und zur Entfernung vom Beschuldigten bei Einleitung der Bremsung kann die Annahme eines Beinahe-Unfalls nicht nachvollzogen werden.
bb) Der subjektive Tatbestand des § 315 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist nicht belegt. Die Beweiswürdigung beschränkt sich zum äußeren Hergang der Vorfälle vom 28. September 2019 auf die kurze Wiedergabe der Aussage eines Polizeibeamten sowie den Hinweis auf die schriftliche Aussage des Stadtbahnführers, ohne deren wesentlichen Inhalt mitzuteilen. Der festgestellte Vorsatz des Beschuldigten hinsichtlich des Herbeiführens einer konkreten Gefahr für die körperliche Integrität der Zuginsassen erschließt sich hieraus nicht, so dass auch ein versuchter gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr gemäß § 315 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 22, 23 StGB nicht belegt ist.
b) Die Beweiswürdigung enthält einen weiteren durchgreifenden Rechtsfehler, der beide Anlasstaten betrifft.
Das Landgericht hat nicht mitgeteilt, ob und gegebenenfalls wie sich der Beschuldigte eingelassen hat. Unter sachlich-rechtlichen Gesichtspunkten ist regelmäßig eine Wiedergabe wenigstens der wesentlichen Grundzüge der Einlassung erforderlich, damit das Revisionsgericht nachprüfen kann, ob sich das Tatgericht unter Berücksichtigung der erhobenen Beweise eine tragfähige Grundlage für seine Überzeugungsbildung verschafft und das materielle Recht richtig angewendet hat (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2019 - 5 StR 444/19, NStZ 2020, 625). Jedenfalls vor dem Hintergrund der Rechtsfolge der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus war von Bedeutung, ob und gegebenenfalls in welcher Weise sich der Beschuldigte zu den ihm vorgeworfenen Taten geäußert hat.
2. Die Maßregelanordnung nach § 63 StGB hat darüber hinaus auch deshalb keinen Bestand, weil die Annahme der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB nicht nachvollziehbar dargetan ist und zudem die Gefährlichkeitsprognose unter Heranziehung einer nicht verfahrensgegenständlichen Tat begründet wurde, deren symptomatischer Zusammenhang mit der krankhaften seelischen Störung des Beschuldigten nicht belegt ist.
a) Die Schuldfähigkeitsbeurteilung lässt eine revisionsrechtliche Prüfung, ob der Beschuldigte die Anlasstaten im Zustand sicher erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen hat, nicht zu.
aa) Wenn sich der Tatrichter ? wie hier ? darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss er dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist, damit das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Ergebnisse nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind (st. Rspr.; vgl. Beschluss vom 2. April 2020 - 1 StR 28/20 mwN).
bb) Dem wird das Urteil nicht gerecht. Das Landgericht hat lediglich das Ergebnis des Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen mitgeteilt und sich diesem angeschlossen. Es hat ausgeführt, das dem Beschuldigten vorgeworfene Verhalten vom 28. September 2019 habe aus Sicht des Sachverständigen eine „enge Beziehung“ zu der schizoaffektiven Psychose und sei durch diese bedingt. Aufgrund der Erkrankung sei die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten sicher zumindest erheblich vermindert gewesen. Die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen, auf die er seine Diagnose einer langjährigen chronifizierten Psychose gestützt hat, werden im Urteil nicht genannt. Daher ist bereits das Gutachtenergebnis, auf das das Landgericht das Vorliegen des Eingangsmerkmals einer krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB gestützt hat, nicht nachvollziehbar dargetan.
b) Darüber hinaus ist die Gefährlichkeitsprognose nicht tragfähig begründet.
aa) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn neben den weiteren Voraussetzungen der Maßregel eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Juli 2020 - 6 StR 106/20, NStZ-RR 2020, 308; vom 21. Februar 2017 ? 3 StR 535/16, StV 2017, 575, 576; vom 12. Oktober 2016 ? 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75; vom 15. Januar 2014 ? 4 StR 419/14, NStZ 2015, 394, 395). Der gefährliche Zustand muss daher in der Anlasstat seinen Ausdruck finden. Gleiches gilt für nicht verfahrensgegenständliche Taten, die zur Begründung der Gefährlichkeitsprognose in die Gesamtabwägung einbezogen werden. Auch diese müssen ihrerseits in einem irgendwie gearteten Zusammenhang mit der Erkrankung des Beschuldigten stehen (vgl. BGH, Urteile vom 8. Oktober 2020 - 4 StR 256/20; vom 21. April 1998 - 1 StR 103/98, NJW 1998, 2986; Beschluss vom 24. Juni 2004 - 4 StR 210/04, NStZ-RR 2004, 331).
bb) Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil ebenfalls nicht. Das Landgericht hat zur Begründung, dass von dem Beschuldigten gerade aufgrund seines Zustands in Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, maßgeblich auf einen nicht verfahrensgegenständlichen Angriff des Beschuldigten vom 22. Januar 2020 zum Nachteil seines Vaters unter Einsatz eines Messers abgestellt. Einen Beleg, dass der Beschuldigte entsprechend den Feststellungen auch bei diesem Vorfall aufgrund seiner Erkrankung erheblich in seiner Steuerungsfähigkeit vermindert war, enthält das Urteil jedoch nicht.
3. Die Frage der Unterbringung bedarf deshalb der nochmaligen Prüfung und Entscheidung. Der Vorwurf eines Pfefferspray-Angriffs vom 10. April 2018, der Gegenstand der Antragsschrift war, jedoch im angefochtenen Urteil als nicht tatbestandsmäßig angesehen worden ist, kann indes nicht mehr als Anlasstat für die Unterbringung nach § 63 StGB herangezogen werden. Insoweit kann der Beschuldigte nicht schlechter stehen als ein teilfreigesprochener Angeklagter im Strafverfahren, der sich mit seiner Revision mangels Beschwer gegen den Teilfreispruch nicht wenden kann. Allerdings kann der Vorwurf, sofern er auf Grund neuer Feststellungen für erwiesen erachtet wird, vom neuen Tatgericht bei der Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten mitberücksichtigt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 9. April 2013 - 5 StR 120/13, BGHSt 58, 242, NJW 2013, 2043).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 142
Externe Fundstellen: NStZ 2022, 228; StV 2021, 256
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner