HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 344
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 600/10, Urteil v. 18.01.2011, HRRS 2011 Nr. 344
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hof vom 29. Juli 2010, soweit es den Angeklagten B. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
B. und S. waren des mittäterschaftlichen Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angeklagt. Mit Urteil vom 29. Juli 2010 hat das Landgericht den Angeklagten S. wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt; den Angeklagten B. hat das Landgericht freigesprochen und ihm Haftentschädigung zugesprochen. Die Revision des Angeklagten S. gegen seine Verurteilung hat der Senat mit Beschluss vom 18. November 2010 verworfen. Gegen den Freispruch des Angeklagten B. wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision. Sie rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat schon mit der Sachrüge Erfolg.
Auf die Formalrügen kommt es deshalb nicht mehr an.
1. Die Strafkammer hat Folgendes festgestellt:
S. nahm aus Geldnot das Angebot an, innerhalb Deutschlands Betäubungsmittel zu transportieren. Er sollte mit 1.500 € entlohnt werden. Am 3. Dezember 2009 traf er sich deshalb am Bahnhof in M. (Niederlande) mit einem Asiaten. Dieser erklärte ihm, es gehe um den Transport von einem Kilogramm Marihuana. Dazu übergab der Asiate S. Geld zum Erwerb eines Navigationsgeräts sowie für Benzin. Außerdem erhielt er einen Zettel, auf dem zwei Orte in Deutschland vermerkt waren, nämlich der Abholpunkt in H. in Sachsen sowie das Ziel der Fahrt, Sp.
S. wollte es vermeiden, in Deutschland selbst mit dem Auto zu fahren. Er fragte deshalb den Angeklagten B., ob er bereit sei, ihn nach Deutschland zu begleiten. Gemeinsam kauften sie ein Navigationsgerät. S. gab die Abholadresse ein.
Gegen Mittag des 3. Dezember 2009 machten sie sich mit einem zweitürigen VW Golf auf den Weg. Der Angeklagte B. steuerte das Fahrzeug in Deutschland bis nach H. 400 bis 500 Meter vor dem eingegebenen Ziel ließ S. den Angeklagten B. aussteigen; er solle auf seine - des S. - Rückkehr warten. S. fuhr dann alleine weiter bis zur Zieladresse, nahe einer Marihuana-Indoorfarm. Am vereinbarten Treffpunkt wurde S. von einem Asiaten erwartet, der zustieg und den Weg zu einem nahe gelegenen Parkplatz wies. Dort trafen sie auf einen BMW mit einem weiteren Asiaten. Die beiden Asiaten, vermutlich die Vietnamesen T. und P., luden vier große dunkle Müllsäcke in den PKW des S., drei auf den Rücksitz der Beifahrerseite, einen hinter den Beifahrersitz. In diesen Säcken befanden sich insgesamt ca. zehn Kilogramm Marihuana. S. bemerkte, dass erheblich mehr Rauschgift eingeladen worden war, als das vereinbarte eine Kilogramm. Aus Angst widersprach er jedoch nicht. Er gab den Zielort Sp. ins Navigationsgerät ein, fuhr zurück zum Angeklagten B. und nahm ihn auf. Vor Erreichen der Autobahn übernahm dieser wieder das Steuer. Auf der Bundesautobahn A9 wurden sie im Bereich Mü. kontrolliert. Das Rauschgift wurde entdeckt und sichergestellt, insgesamt 9.420,80 Gramm Marihuana mit mindestens 1.110,90 Gramm Tetrahydrocannabinol. Bei der Kontrolle erklärte der Angeklagte B. auf die Frage, ob er etwas dabei habe: "ja Hundefutter".
Dem Angeklagten B. war der Zweck der Fahrt, nämlich der Transport von Betäubungsmitteln, bis zum Zugriff der Polizei unbekannt.
2. Die Beweiswürdigung zum Freispruch des Angeklagten B.
a) Die Feststellungen der Strafkammer beruhen insbesondere auf den Angaben des Verurteilten S. Der Angeklagte B. habe, so die Strafkammer, die Einlassung des damaligen Mitangeklagten bestätigt. "Er hat die Geschehensabläufe detailliert geschildert."
b) Die Strafkammer hat sich allerdings nicht davon überzeugen können, dass der Angeklagte B. Kenntnis vom Transport der Betäubungsmittel hatte.
aa) Der Angeklagte hat bestritten, den Grund der Fahrt nach Deutschland gekannt zu haben. Er habe nur S. helfen wollen, da dieser seinen Führerschein nicht habe finden können. Über das Angebot, mit nach Deutschland zu fahren, habe er sich sehr gefreut, da er auf diese Weise wieder einmal kostenlos habe dorthin reisen und dort Auto fahren können.
bb) Als Umstände, die gegen eine Kenntnis des Angeklagten B. vom Zweck der Reise sprechen, hat die Strafkammer angeführt:
- Seine Abwesenheit bei der Übergabe der Betäubungsmittel,
- Keine Entlohnung für die Fahrt,
- Keine Kommunikation über die Betäubungsmittel während der Fahrt nach deren Übernahme,
- Keine Wahrnehmung des Geruchs von Marihuana im Fahrzeug,
- Die Müllsäcke habe der Angeklagte B. zwar irgendwann zur Kenntnis genommen, sich darüber aber keine Gedanken gemacht.
cc) Der Angeklagte B. ist allerdings durch den seinerzeit Mitangeklagten S. belastet worden. Er gab an, er habe dem Angeklagten B. - vor Antritt der Fahrt - gesagt, worum es gehe, nämlich um den Transport von einem Kilogramm Marihuana.
Dies stehe jedoch, so die sachverständig beratene Strafkammer, der Unkenntnis des Angeklagten B. vom wahren Zweck der Fahrt nicht entgegen. Es sei nämlich nicht auszuschließen, dass er aufgrund seiner Erkrankung diese Information nicht realisiert und verarbeitet habe. Der Angeklagte leide an einer hyperkinetischen Störung im Sinne der ICD 10 F 90.0 (Aufmerksamkeitsstörung [-defizit] mit Hyperaktivitätsstörung - ADHS). Dies führe bei ihm zu Konzentrationsstörungen mit "Gedankengedränge". Der Angeklagte verfolge dann unter Umständen 10 bis 20 Gedanken gleichzeitig. Er nehme dann ihm gegenüber geäußerte Informationen zwar akustisch wahr. Diese würden jedoch wegen vieler anderer Gedanken verdrängt. Eine Abspeicherung der Informationen sei aufgrund dieser Denkstörung ausgeschlossen mit der Folge, dass sie innerhalb kürzester Zeit wieder verloren gingen.
Die sachlich-rechtliche Überprüfung des Urteils deckt durchgreifende Rechtsfehler bei der Beweiswürdigung auf.
1. Das Revisionsgericht hat es grundsätzlich hinzunehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtsfehlerhaft ist es auch, wenn sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen, ohne eine Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt auch, ob überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt worden sind (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 1. Juli 2008 - 1 StR 654/07, Rn. 18; vom 27. April 2010 - 1 StR 454/09, Rn. 18 mwN). Auch darf der Tatrichter entlastende Angaben eines Angeklagten, für die keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen und deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, nicht ohne weiteres seiner Entscheidung zugrunde legen, nur, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Die Zurückweisung einer Einlassung erfordert auch nicht, dass sich ihr Gegenteil positiv feststellen lässt. Vielmehr muss sich der Tatrichter aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung bilden. Dies gilt umso mehr dann, wenn objektive Beweisanzeichen festgestellt sind, die mit Gewicht gegen die Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten sprechen (BGH, Urteil vom 30. Oktober 2008 - 3 StR 416/08, Rn. 6 mwN).
2. Die Schilderung des Angeklagten B. über seine Motivation, S. auf der Fahrt nach Deutschland zu begleiten, nämlich nur touristisches Interesse und Freude am Autofahren, erscheint angesichts der näheren Umstände des "Ausflugs" nicht nahe liegend. Dies kann für sich betrachtet den Bestand des Urteils allerdings noch nicht gefährden. Die Beweiswürdigung weist jedoch darüber hinaus Lücken auf und sie ist widersprüchlich.
a) Nach den Feststellungen der Strafkammer forderte S. den Angeklagten B. zur Mitfahrt auf, da er - S. - habe vermeiden wollen, in Deutschland Auto zu fahren, nach der Einlassung des Angeklagten B., da S. seinen Führerschein nicht gefunden habe. Tatsächlich setzte sich S. jedoch im Bereich von H. selbst ans Steuer. Mit diesem Widerspruch hat sich die Strafkammer nicht auseinandergesetzt, insbesondere nicht damit, wie B. auf diesen Fahrerwechsel reagierte.
b) Bei diesem Fahrerwechsel ließ sich der Angeklagte B. abends im Dezember in einem ihm unbekannten Ort an einem Parkplatz absetzen, um auf die Rückkehr von S. zu warten. Ob und gegebenenfalls wie dieses Ansinnen dem Angeklagten erläutert wurde, bleibt unerwähnt. Damit hätte sich die Strafkammer aber auseinandersetzen müssen. Denn nahm der Angeklagte B. dies kommentarlos hin, könnte es nahe liegen, dass er von vorneherein darin eingeweiht und es ihm bewusst war, was während der Wartezeit geschehen sollte.
c) Das Landgericht hat einerseits festgestellt, das ADHS-bedingte "Gedankengedränge" habe dazu führen können, dass der Angeklagte die entscheidende Mitteilung, wonach die Fahrt dem Transport von Betäubungsmitteln dienen sollte, nicht in sein Bewusstsein aufgenommen hat. Andererseits habe er jedoch die Geschehensabläufe - im Übrigen - glaubhaft detailliert geschildert. Dies ist widersprüchlich. Jedenfalls hätte es näherer Erörterung bedurft, auch mit dem Sachverständigen, weshalb die Konzentrationsschwäche des Angeklagten zwar die Information über den Zweck der Fahrt habe in Vergessenheit geraten lassen können, die Zuverlässigkeit der Erinnerung an Details der Reise der Strafkammer aber gleichwohl nicht fraglich erschienen ist.
d) Nach den Feststellungen der sachverständig beratenen Strafkammer sollen die durch das ADHS-Syndrom verursachten Konzentrationsstörungen bei der gleichzeitigen Verarbeitung mehrerer Informationen zu Verdrängungen und Erinnerungsverlust führen. Da dies nicht substantiiert tatsachenfundiert belegt ist, bleibt auch unerörtert, inwieweit bei der Informationsverarbeitung dem Gewicht einer Mitteilung Bedeutung zukommt. Die Aufforderung, sich an einer Drogenkurierfahrt als Fahrer zu beteiligen, ist brisant. Eine Person, die mit dem Drogenmilieu bislang nichts zu tun hatte - davon ist beim Angeklagten B. nach den Urteilsgründen auszugehen -, muss dies geradezu "elektrisieren".
Es wäre einleuchtend, wenn dann alle anderen Gedanken in den Hintergrund träten. Dass aber die Euphorie des Angeklagten über die Gelegenheit eines kurzen, weitgehend nächtlichen Ausflugs nach Deutschland sowie die Erwartung des Autofahrens dort das "Gedankengedränge" so sehr beherrschen und verstärken konnten, dass deshalb die Aufforderung zur Beihilfe zu einer Betäubungsmittelstraftat - die eigentlich dominante Information - vom Angeklagten zwar akustisch wahrgenommen, aber nicht ins Bewusstsein aufgenommen wurde, hätte näherer Erörterung bedurft.
e) Die Strafkammer folgt den Angaben des Angeklagten B., wonach er die auf der Rücksitzbank des Fahrzeugs befindlichen Säcke während der Fahrt zwar irgendwann bemerkt habe, er jedoch nicht mit Sicherheit sagen könne, ob sich die Säcke bereits bei der Abfahrt in Holland im Fahrzeug befunden hätten. Er habe sich über die Säcke keine Gedanken gemacht, da bei S. auf der Rückbank des Fahrzeugs öfters Säcke und Beutel gelegen hätten. Der damalige Mitangeklagte S. habe dazu angegeben, so die Strafkammer, er habe zu jener Zeit mit seinem gesamten Hab und Gut in seinem Fahrzeug gelebt. Die Behauptung des Angeklagten B., er habe die in H. eingeladenen vier Müllsäcke nicht bemerkt, als er wieder abgeholt wurde, klingt wenig plausibel. Die Strafkammer hätte diese Einlassung daher nicht ohne weiteres hinnehmen und so ungeprüft ihren Feststellungen zugrunde legen dürfen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Oktober 2008 - 3 StR 416/08, Rn. 6). Die Strafkammer hätte sich - nach entsprechenden Feststellungen - mit dem tatsächlichen Beladungszustand des Fahrzeugs auf der Rückbank am Tattag auseinandersetzen müssen, wie auch mit der Größe der gefüllten Säcke und deren Positionierung in Beziehung zum Sichtfeld des Fahrers bei einem Blick nach hinten, sei es mittels des Innenrückspiegels oder durch Drehen des Kopfes. Oder das Landgericht hätte darlegen müssen, weshalb es Feststellungen hierzu nicht mehr hat treffen können.
3. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass die Strafkammer bei Vermeidung der aufgezeigten Rechtsfehler zu teilweise anderen oder zusätzlichen Feststellungen gekommen wäre und dann in der gebotenen Gesamtbetrachtung die Einlassung des Angeklagten über seine Unkenntnis des Zwecks der Fahrt nach Deutschland anders bewertet, in der Folge dann auch anders entschieden und den Angeklagten B. einer Betäubungsmittelstraftat für schuldig befunden hätte.
Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Zuerkennung von Haftentschädigung ist damit gegenstandslos.
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 344
Externe Fundstellen: NStZ 2011, 302
Bearbeiter: Karsten Gaede