HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 993
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 90/23, Beschluss v. 30.04.2024, HRRS 2024 Nr. 993
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 27. Oktober 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt und Einziehungsentscheidungen getroffen. Die hiergegen gerichtete, auf mehrere Verfahrensbeanstandungen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Rüge eines Verstoßes gegen § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 6 StPO Erfolg.
Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen suchte der Angeklagte die Nebenklägerin am Tattag in dem festen Entschluss auf, sie zu töten.
Nachdem er die Tür zu ihrer Wohnung eingetreten hatte, wo sie gerade den gemeinsamen Sohn im Badezimmer versorgte, lief er zügig auf sie zu und hielt dabei die mitgeführte Schusswaffe samt Schalldämpfer mit ausgestrecktem Arm in der rechten Hand. Etwa eine Armlänge von ihr entfernt blieb der Angeklagte stehen, zielte mit der Waffe auf „Kopf-/Brusthöhe“ der Nebenklägerin und drückte unvermittelt ab, um sie zu töten. Der Schuss verfehlte die Nebenklägerin knapp. Im Anschluss an die Schussabgabe wirkte der Angeklagte in fortbestehender Tötungsabsicht durch Schläge mit der Waffe auf den Kopf der Nebenklägerin ein, bis ein hinzueilender Nachbar ihn von der Fortsetzung der Tat abhielt.
Die Strafkammer hat ihre Überzeugung von einer gezielten Schussabgabe des Angeklagten auf Kopf-/Brusthöhe der Nebenklägerin maßgeblich auf deren Angaben und ein waffentechnisches Gutachten gestützt. Die Nebenklägerin habe bekundet, der Angeklagte habe die Waffe auf Höhe ihrer Brust oder ihres Kopfes gerichtet und sodann geschossen. Auf Grundlage der waffengutachterlichen Feststellungen ist das Landgericht zu der Annahme gelangt, das Fehlgehen des Schusses sei auf die ungenaue Anvisierungsmöglichkeit der verwendeten Waffe und die Instabilität der Fluglage des Geschosses zurückzuführen, welches mit der in dem verwendeten Schalldämpfer verbauten Gummi-Lochscheibe in Kontakt gekommen sei.
1. Die Revision beanstandet mit Recht, das Landgericht habe sich im Rahmen der Beweiswürdigung zu einer gemäß § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 6 StPO als wahr unterstellten Beweistatsache in Widerspruch gesetzt.
a) Dieser Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
In der Hauptverhandlung vom 16. September 2022 beantragte die Verteidigung die Vernehmung der Zeugin KOK’in K. zum Beweis der Tatsache, dass die Nebenklägerin im Rahmen ihrer Vernehmung vom 12. Januar 2022 befragt dazu, wie der Angeklagte die Waffe zum Zeitpunkt der Schussabgabe gehalten habe, antwortete: „Er stand tatsächlich dann mit der Waffe vor mir, hatte dann geschossen, aber ich weiß nicht, wohin er geschossen hat. Ob es jetzt an meinem Kopf war, daneben oder in die Richtung, ich kann es nicht sagen.“ Die Schwurgerichtskammer wies den Antrag in der Hauptverhandlung vom 30. September 2022 zurück, da die behauptete Beweistatsache so behandelt werden könne, als wäre sie wahr.
In den Urteilsgründen hat das Landgericht im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, die Angaben der Nebenklägerin stünden einem bewussten Danebenhalten und Zielen in Richtung des Badezimmers entgegen. Sie habe in der Hauptverhandlung als Zeugin bekundet, der Angeklagte sei bis auf Armeslänge schnell an sie herangelaufen. Zu dieser Zeit habe er die Schusswaffe in der rechten Hand etwa in Brust-/Bauchhöhe gehalten. Dann habe er die Waffe mit ausgestrecktem Arm „auf Höhe ihrer Brust oder ihres Kopfes gerichtet und sogleich abgedrückt“. Aus welchem Grund die Kugel sie nicht getroffen habe, könne sie nicht sagen. „Diese Angaben stimmten mit ihrer Aussage im Rahmen der polizeilichen Vernehmung überein.“ b) Im Falle der Ablehnung eines Beweisantrags wegen Wahrunterstellung gilt Folgendes:
Das Tatgericht muss bei der Urteilsfindung die Zusage einlösen, eine bestimmte Behauptung zugunsten des Angeklagten als wahr zu behandeln. Die Urteilsgründe dürfen sich mit einer - bis zum Schluss der Hauptverhandlung unwiderrufen gebliebenen - Wahrunterstellung nicht in Widerspruch setzen. Denn der Angeklagte kann grundsätzlich auf die Einhaltung einer solchen Zusage vertrauen und danach seine Verteidigung einrichten. In diesem berechtigten Vertrauen wird er enttäuscht, wenn das Gericht von der Wahrunterstellung abrückt (BGH, Beschluss vom 4. Februar 2020 - 3 StR 313/19, NStZ 2020, 690 Rn. 6 mwN; Urteil vom 6. Juli 1983 - 2 StR 222/83, BGHSt 32, 44, 46 f.; s. zum Ganzen auch LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 288 ff., zu den Urteilsgründen Rn. 315 ff.). Die als wahr unterstellte Beweistatsache ist in ihrer Bedeutung, wie sie sich nach dem Sinn und Zweck des Beweisantrags ergibt, ohne Verkürzung, Umdeutung oder sonstige inhaltliche Änderung als wahr - d.h. als erwiesen (so schon BGH, Urteile vom 14. Juli 1961 - 4 StR 191/61, NJW 1961, 2069; vom 4. Mai 1951 - 4 StR 216/51, BGHSt 1, 137, 139) - zu behandeln und dem Urteil zugrunde zu legen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 28. August 2002 - 1 StR 277/02, NStZ 2003, 101 Rn. 3; vom 13. Oktober 2021 - 2 StR 477/19, NStZ 2022, 501 Rn. 10 mwN; Urteile vom 8. November 1999 - 5 StR 632/98, NJW 2000, 443, 445; vom 13. Dezember 1967 - 2 StR 619/67, NJW 1968, 1293; s. hierzu auch MüKoStPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 244 Rn. 344 mwN).
c) Gemessen an diesen Maßstäben liegt ein Verstoß gegen das Kongruenzgebot des § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 6 StPO vor.
Die Strafkammer hat sich mit ihren die Konstanz der Angaben der Nebenklägerin betreffenden Ausführungen in den Urteilsgründen zu der von ihr als wahr unterstellten Beweistatsache in Widerspruch gesetzt.
Der als wahr unterstellten Beweisbehauptung zufolge hat die Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren angegeben, nicht sagen zu können, wohin der Angeklagte geschossen habe, und hierbei auch die Variante, er habe „daneben“ geschossen, ausdrücklich genannt. Demgegenüber besteht bei den in den Urteilsgründen genannten Angaben der Nebenklägerin zu der Schussabgabe die Varianz lediglich in Bezug auf die Körperregion (Brust oder Kopf). Die explizite Nennung der Variante „daneben“ stellt sich vorliegend als erhebliche Abweichung zu den in den Urteilsgründen genannten Angaben der Nebenklägerin dar, so dass entgegen den Ausführungen der Strafkammer diese gerade nicht mit ihrer als wahr unterstellten Aussage im Rahmen der polizeilichen Vernehmung übereinstimmen.
Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts sind die divergierenden Angaben insoweit auch nicht lediglich als unterschiedliche Formulierungen einer Unsicherheit der Nebenklägerin in Bezug auf die Frage zu verstehen, wohin der Angeklagte die Waffe vor der Schussabgabe richtete. Bei einer Schussabgabe in Höhe der Brust oder des Kopfes der Nebenklägerin oder aber eines „daneben“ Schießens handelt es sich nach dem maßgeblichen Sinngehalt der Angaben um zwei unterschiedliche Sachverhaltsvarianten, da einzig die letztgenannte Alternative die Möglichkeit einer das Tatopfer intentional verfehlenden Schussabgabe eröffnet.
d) Das Urteil beruht auch auf dem dargelegten Verfahrensfehler, § 337 Abs. 1 StPO. Es ist nicht auszuschließen, dass die Strafkammer hinsichtlich der für die Annahme des Tötungsvorsatzes des Angeklagten relevanten Beurteilung der gezielten Schussabgabe auf Kopf-/Brusthöhe der Nebenklägerin zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn die als wahr unterstellte Tatsache widerspruchsfrei Berücksichtigung gefunden hätte.
2. Da bereits diese Verfahrensbeanstandung durchdringt und die Aufhebung des Urteils im Ganzen zur Folge hat, kommt es auf die revisionsrechtliche Beurteilung der von dem Beschwerdeführer behaupteten weiteren Mängel formell- und sachlichrechtlicher Art nicht mehr an. Allerdings bemerkt der Senat:
Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird im Falle der erneuten Befassung mit dem waffentechnischen Gutachten zu erwägen haben, ob es sich bei den gutachterlichen Feststellungen, wonach bei den durchgeführten Schussversuchen mit der Tatwaffe mit und ohne Schalldämpfer aus einer Entfernung von sechs Metern ein Schussbild mit einer Breite von - lediglich - circa 35 Zentimetern erzeugt worden sei, um einen erörterungspflichtigen Umstand handelt (vgl. insoweit zu den Anforderungen an die Eröterungspflicht BGH, Urteile vom 13. Juli 2017 - 3 StR 148/17, NStZ 2018, 158 mwN; vom 4. August 2011 - 3 StR 120/11, NStZ 2012, 49).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 993
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede