hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1115

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 242/15, Urteil v. 03.09.2015, HRRS 2015 Nr. 1115


BGH 3 StR 242/15 - Urteil vom 3. September 2015 (LG Kleve)

Heimtücke trotz offen feindseliger Vorgehensweise (Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und Angriff; erste mit Tötungsvorsatz geführte Handlung; keine Verteidigungsmöglichkeit; Abwehrversuche im letzten Moment).

§ 211 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Heimtückisches Handeln erfordert kein „heimliches“ Vorgehen. Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Abwehrversuche, die das durch einen überraschenden Angriff in seinen Verteidigungsmöglichkeiten behinderte Opfer im letzten Moment unternommen hat, stehen der Heimtücke daher nicht ohne Weiteres entgegen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Nebenklägers I. B. wird das Urteil des Landgerichts Kleve vom 12. Dezember 2014 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die Revisionen der Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil werden verworfen.

Jeder dieser Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Nebenkläger I. B. hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten wegen Totschlags jeweils zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Hiergegen richten sich die Revisionen der Angeklagten sowie die Revision des Nebenklägers I.B., mit denen sachlich-rechtliche Beanstandungen erhoben werden. Der Nebenkläger hat mit seinem Rechtsmittel Erfolg. Die Revisionen der Angeklagten erweisen sich demgegenüber als unbegründet.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Der später getötete H. B. war mit der Schwester der Angeklagten verheiratet. Im Verlauf dieser Ehe kam es zu erheblichen Streitigkeiten mit teilweise gewaltsamen Übergriffen des H. B. auf seine Ehefrau. Zweimal wurde er deshalb verurteilt. Schließlich erfolgte im Jahr 2004 die Scheidung. 2008 lauerte H. B., der die Trennung von seiner Familie nicht akzeptieren konnte, dem älteren Bruder der Angeklagten auf und versuchte, ihn mit Messerstichen gegen den Oberkörper und mit einem Pflasterstein gegen den Kopf geführten Schlägen zu töten. Das Vorhaben scheiterte, weil der Bruder sich wehrte. Er trug allerdings erhebliche Verletzungen davon. H. B. verbüßte wegen dieser Tat eine mehrjährige Freiheitsstrafe, während deren Vollstreckung er in der Haft einen Verwandten der Angeklagten angriff, weshalb er ebenfalls verurteilt wurde. In der Folge wurde der später Getötete - insbesondere nach seiner Haftentlassung - von der gesamten Familie der Angeklagten als Bedrohung empfunden. Auch die Angeklagten lebten in beträchtlicher Angst vor ihm.

Am Tattag bemerkten die Angeklagten den später Getöteten, der auf dem Weg zu einem Supermarkt war. Jetzt beschlossen sie, H. B., in dem sie eine dauernde Bedrohung der Familie sahen, zu beseitigen. Sie folgten ihm zum Geschäft, wo der Angeklagte A. O. ihn zunächst durch die Scheiben der Glasfront beobachtete. Dann postierten sich die Angeklagten an der äußeren Schiebetür des Marktes, so dass H. B. nicht passieren konnte. Als dieser dem Ausgang zustrebte, kam es im Bereich dieser Außentür zu einem kurzen und heftigen Wortwechsel zwischen ihm und den Angeklagten, die spätestens jetzt entschlossen waren, H. B. zu töten. Sie griffen diesen an und drängten ihn in Richtung des Kassenbereichs zurück. Bereits im Bereich der inneren Schiebetür, die unmittelbar in die Räumlichkeiten des Supermarkts führt und 3,5 m von der äußeren Tür entfernt ist, versetzten sie H. B. einen oder mehrere Messerstiche. Dieser versuchte, die Angeklagten von weiteren Angriffen abzuhalten, was ihm kurzzeitig auch mit Hilfe eines Einkaufswagens gelang, den ihm ein anderer Kunde zugeschoben hatte und den er zwischen sich und die Angeklagten zu bringen versuchte. Da die Angeklagten weiter auf ihn eindrangen, floh er zurück in den Kassenbereich. Dort stolperte er über eine Absperrung und kam zu Fall. Jetzt erreichten ihn die Angeklagten und stachen auf den Oberkörper des am Boden Liegenden ein, bis dieser sich nicht mehr regte. H. B., der insgesamt 44 Stiche erhalten hatte, verstarb alsbald an Verbluten und einem Pneumothorax.

2. Die Revision des Nebenklägers

Die Revision des Nebenklägers I. B., die eine Verurteilung der Angeklagten wegen Mordes erstrebt, hat Erfolg.

a) Allerdings hat das Landgericht auf der Grundlage seiner Feststellungen rechtsfehlerfrei das Vorliegen niedriger Beweggründe ausgeschlossen. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts verwiesen.

b) Dagegen hält die Begründung, mit der das Landgericht eine heimtückische Begehungsweise verneint hat, der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

Das Landgericht hat das Mordmerkmal der Heimtücke deshalb nicht als gegeben angesehen, weil die Angeklagten die Überraschung des später Getöteten jedenfalls nicht ausgenutzt hätten. Sie hätten ihr Opfer zunächst durch die Scheibe des Supermarktes beobachtet und keine Anstalten unternommen, sich zu verbergen. Schließlich seien sie ihm offen in feindlicher Absicht entgegengetreten. Diese Ausführungen lassen besorgen, dass die Strafkammer von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen ist.

Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 4. Juli 1984 - 3 StR 199/84, BGHSt 32, 382, 383 f.; vom 20. Oktober 1993 - 5 StR 473/93, BGHSt 39, 353, 368; Beschluss vom 30. Oktober 1996 - 2 StR 405/96, StV 1998, 544). Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (BGH, Beschlüsse vom 13. Juli 2005 - 2 StR 236/05, NStZ-RR 2005, 309; vom 27. Juni 2006 - 1 StR 113/06, NStZ 2006, 502, 503; vom 16. Februar 2012 - 3 StR 346/11, NStZ 2012, 245 nur <LS>). Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Abwehrversuche, die das durch einen überraschenden Angriff in seinen Verteidigungsmöglichkeiten behinderte Opfer im letzten Moment unternommen hat, stehen der Heimtücke daher nicht entgegen (BGH, Urteile vom 3. September 2002 - 5 StR 139/02, NStZ 2003, 146, 147; vom 22. August 1995 - 1 StR 393/95, NJW 1996, 471; vom 21. Januar 1970 - 3 StR 182/69, juris Rn. 6).

Nach diesen Maßstäben durfte das Landgericht zur Verneinung der Heimtücke nicht allein darauf abstellen, dass die Angeklagten dem später Getöteten offen und feindselig gegenübergetreten sind. Vielmehr hätte es prüfen müssen, ob der später Getötete, als er auf die Angeklagten zuging und danach mit ihnen zusammentraf, die Gefahr so rechtzeitig erkannte, dass er noch Zeit gehabt hätte, sie abzuwehren oder sich ihrer zu entziehen. Hierzu verhalten sich die Urteilsgründe indes nicht. Soweit die Strafkammer darüber hinaus das Fehlen des Ausnutzungsbewusstseins verneint hat, weil die Angeklagten jedenfalls nicht davon ausgegangen seien, mit ihrem von Tötungsvorsatz getragenen Angriff einen arglosen Menschen zu überraschen, ist dies durch die Urteilsgründe nicht belegt. Das Landgericht hat zwar angeführt, dass die Angeklagten dem später Getöteten offen gegenübertraten. Um ein Ausnutzungsbewusstsein zu verneinen, hätte es jedoch der weiteren Feststellung bedurft, dass sie eine mögliche hilflose Lage ihres Opfers nicht erkannten.

3. Die Revisionen der Angeklagten Die Überprüfung des Urteils hat weder zum Schuldspruch noch zum Rechtsfolgenausspruch Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Näherer Ausführungen bedarf nur Folgendes:

a) Der Senat vermag widersprüchliche Feststellungen zum Zeitpunkt des Tötungsentschlusses, wie sie die Revision des Angeklagten A. O. geltend macht, nicht zu erkennen. Das Landgericht hat zunächst festgestellt, dass die Angeklagten bereits beschlossen, H. B. zu beseitigen, als sie diesen auf dem Weg zum Supermarkt erblickten. Spätestens als sie ihn nach dem kurzen Wortgefecht angriffen, seien sie entschlossen gewesen, H. B. zu töten. Damit hat das Landgericht lediglich zum Ausdruck gebracht, dass sich der Entschluss, den später Getöteten zu beseitigen, verfestigt hatte und sie bereits zu diesem Zeitpunkt nicht nur Körperverletzungs-, sondern Tötungsvorsatz hatten. Auch die Ausführungen zur Beweiswürdigung weisen keinen Rechtsfehler auf. Dies gilt insbesondere auch zu den Fragen, wann der Tatentschluss gefasst wurde und ob die Angeklagten zunächst nur vorhatten, mit dem später Getöteten zu reden.

b) Die von der Revision des M. O. vorgebrachten Einwendungen gegen das angefochtene Urteil greifen ebenfalls nicht durch. Das Landgericht hat der Bemessung der Strafe alle relevanten Strafzumessungskriterien zugrunde gelegt. Dass es straferschwerend berücksichtigt hat, der Angeklagte habe sich zum Vollstrecker eines von ihm selbst gefällten Unwerturteils über H. B. gemacht, verstößt nicht gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB. Die Strafkammer hat insoweit das Motiv des Angeklagten zu der Gewalttat als unrechtserhöhend bewertet. Hiergegen gibt es nichts zu erinnern. Mit ihren Einwendungen gegen die Nichtannahme eines minder schweren Falles des Totschlags nimmt die Revision eine eigene Wertung der festgestellten Umstände der Tat vor.

Eine Erstattung der notwendigen Auslagen der Nebenklägerin B. B. im Revisionsverfahren findet wegen der gleichfalls erfolglosen Revision der Nebenklägerin nicht statt.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1115

Bearbeiter: Christian Becker