HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 290
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 386/10, Beschluss v. 23.11.2010, HRRS 2011 Nr. 290
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 11. Mai 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit "sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger", Vergewaltigung und mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung von drei früheren Urteilen zur Jugendstrafe von acht Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge Erfolg. Auf die Beanstandungen des Verfahrens kommt es daher nicht mehr an.
Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Allerdings ist die Würdigung der Beweise vom Gesetz dem Tatrichter übertragen (§ 261 StPO). Allein ihm obliegt es, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Das Revisionsgericht ist demgegenüber auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters mit Rechtsfehlern behaftet ist, etwa weil sie Lücken aufweist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2010 - 3 StR 103/10; Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 StR 269/04, NJW 2005, 2322, 2326). So ist es hier.
Nach den Feststellungen veranlassten der Angeklagte und sein anderweitig verfolgter, in der Hauptverhandlung als Zeuge vernommener Tatgenosse, die 13jährige Geschädigte plangemäß dazu, mit Wodka zubereitete Mixgetränke in einem Maße zu konsumieren, dass sie sich gegen die von vornherein beabsichtigten sexuellen Handlungen beider Täter nicht mehr (erfolgreich) wehren konnte. Nachdem die Nebenklägerin angefangen hatte, verwaschen zu reden, ihre Koordination verlangsamt wirkte und sich ihr Kopf schwankend drehte, begann der Angeklagte sie - zunächst mit ihrem Einverständnis - zu streicheln und zu küssen. Im weiteren Verlauf der anschließend vom Angeklagten gegen den erklärten Willen und den Widerstand der Geschädigten unter Anwendung von körperlicher Gewalt ausgeführten sexuellen Handlungen nahm die alkoholische Beeinflussung der Nebenklägerin weiter zu, so dass sie kaum noch stehen konnte und immer wieder umfiel. Außerdem konnte sie sich alkoholbedingt nur noch unzureichend gegen die Handlungen des Angeklagten wehren. Nachdem der Angeklagte von seinem Opfer abgelassen hatte, stürzte dieses bei dem Versuch, sich dem Festhalten durch den anderen Täter zu entwinden, erneut zu Boden und konnte infolge dessen sowie auf Grund ihrer Alkoholisierung keine Gegenwehr mehr gegen die nunmehr folgenden sexuellen Handlungen des Tatgenossen des Angeklagten entfalten. Schließlich ließen die beiden Täter die bewegungsunfähige Nebenklägerin am Boden liegend zurück. Die bei der nicht trinkgewohnten Geschädigten vorhandene Blutalkoholkonzentration betrug nach den Feststellungen der sachverständig beratenen Strafkammer 1,94 Promille.
Bei dieser Sachlage hätte das Landgericht erörtern müssen, ob die Zeugin in Folge der fortschreitenden alkoholischen Beeinträchtigung ihrer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit, die schon vor den sexuellen Handlungen des Mittäters des Angeklagten zur völligen Handlungsunfähigkeit führte, hinreichend in der Lage war, das Tatgeschehen in den entscheidenden Einzelheiten, insbesondere hinsichtlich der einzelnen Tatbeiträge des Angeklagten einerseits und der seines Tatgenossen andererseits, wahrzunehmen und sich später an diese auch im Detail zu erinnern. Die vor diesem Hintergrund nahe liegenden Zweifel an der Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin hätten sich der Strafkammer zusätzlich deshalb aufdrängen müssen, weil sie nach den Urteilsgründen auf Nachfragen erklärte, sich an das gesamte Geschehen "nicht mehr so genau" erinnern zu können.
Diese Erörterungen waren nicht deshalb entbehrlich, weil die Angaben der Geschädigten mit der Aussage des als Zeugen vernommenen zweiten Täters übereinstimmten. Worin diese Übereinstimmungen im Einzelnen bestanden, ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht. Der Zeuge hat danach jedenfalls keine Angaben dazu gemacht, dass der Angeklagte sexuelle Handlungen an der Nebenklägerin durch Gewalt erzwungen und dass dieser die erheblichen Verletzungen der Geschädigten, insbesondere im Genital- und Analbereich, verursacht hat. Zu seiner eigenen Beteiligung an der Entstehung der festgestellten vielfachen Verletzungen der Zeugin am gesamten Körper hat er lediglich angegeben, dass diese bei dem Versuch, vor ihm wegzulaufen, gegen eine Wand gestürzt sei. Unter diesen Umständen hätte die Strafkammer erwägen und erörtern müssen, ob der Mittäter wahrheitswidrig seinen eigenen Tatbeitrag heruntergespielt und damit den Angeklagten zugleich über Gebühr belastet hat; denn dies hätte die Bedeutung der Aussage des Zeugen als Indiz für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten zur Tatbeteiligung des Angeklagten maßgeblich in Frage gestellt.
Diese Erörterungs- und Darstellungsmängel begründen die Rechtsfehlerhaftigkeit der landgerichtlichen Beweiswürdigung. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer ohne die aufgezeigten Rechtsfehler vor dem Hintergrund der Einlassung des Angeklagten, die Nebenklägerin sei mit (allen) seinen sexuellen Handlungen einverstanden gewesen, zu einem anderen Beweisergebnis zur Täterschaft des Angeklagten bzw. zum Umfang seiner Tatbeteiligung gelangt wäre.
Dies führt zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung.
Der neue Tatrichter wird die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin erwägen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 18. August 2009 - 1 StR 155/09, NStZ 2010, 51 sowie Beschlüsse vom 28. Oktober 2008 - 3 StR 364/08, NStZ 2009, 346 und vom 11. Januar 2005 - 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519). Er wird gegebenenfalls die Verwirklichung der Voraussetzungen des § 176a Abs. 5 1. Alt. StGB und des § 177 Abs. 4 Nr. 2 Buchst. a StGB durch den Angeklagten zu prüfen haben (vgl. Fischer, StGB, 57. Aufl., § 176a Rn. 18 f., § 177 Rn. 86, jew. mwN). Gleiches gilt für das Konkurrenzverhältnis zwischen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch einer Widerstandsunfähigen (vgl. S/S - Lenckner/Perron/Eisele, StGB, 28. Aufl., § 179 Rn. 10). Nach den bisher getroffenen Feststellungen ist nicht erkennbar, wodurch der Angeklagte eine gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB begangen haben soll. Im Rahmen der Strafzumessung wird in den Blick zu nehmen sein, dass der Angeklagte nur eine der Taten aus den einbezogenen Urteilen - allerdings eine schwerwiegende - nach der gegenständlichen Tat begangen hat und alle einbezogenen Urteile nach dieser ergangen sind. Schließlich erscheint es mit Blick auf die bisherige Entwicklung des Angeklagten nicht unbedenklich, die Bemessung der Höhe der Jugendstrafe ohne weiteres (auch) damit zu begründen, dass er eine Schul- und Berufausbildung anstreben kann (vgl. Brunner/Dölling, JGG, 11. Aufl., § 18 Rn. 7b).
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 290
Externe Fundstellen: NStZ 2011, 473
Bearbeiter: Ulf Buermeyer