hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 132

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 103/10, Beschluss v. 29.04.2010, HRRS 2011 Nr. 132


BGH 3 StR 103/10 - Beschluss vom 29. April 2010 (LG Mönchengladbach)

Mord; Überzeugungsbildung; Beweiswürdigung (Umfang der revisionsrechtlichen Kontrolle); Urteilsgründe (notwendige Mitteilung und Erörterung der Einlassung des Angeklagten).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 3 StPO; § 211 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Würdigung der Beweise ist vom Gesetz dem Tatrichter übertragen (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden.

2. Das Revisionsgericht ist hinsichtlich der Beweiswürdigung des Tatrichters auf die Prüfung beschränkt, ob sie mit Rechtsfehlern behaftet ist, etwa weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht.

3. Im Rahmen der Beweiswürdigung ist die Einlassung des Angeklagten mitzuteilen und unter Berücksichtigung der erhobenen Beweise zu bewerten; seine bestreitende Einlassung und ihre Widerlegung bestimmen Umfang und Inhalt der Darlegung im Urteil.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 19. November 2009 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten durch Urteil vom 9. Dezember 2008 wegen Mordes in Tateinheit mit Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hatte der Senat das Urteil durch Beschluss vom 7. Juli 2009 mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen; denn durch die Feststellungen des Landgerichts, das von einer Unterlassungstat ausgegangen war, war die auf die Verwirklichung allein des Mordmerkmals "mit gemeingefährlichen Mitteln" gestützte Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes zum Nachteil von dessen Nachbarn nicht belegt gewesen (BGH NStZ 2010, 87).

Das Landgericht hat den Angeklagten nunmehr wegen Mordes in Tateinheit mit versuchtem Mord, Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und gefährlicher Körperverletzung - nach den neuen Feststellungen begangen durch aktives Tun - zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat erneut Erfolg.

Nach den Feststellungen öffnete der Angeklagte die Gasleitung in seiner Wohnung mit dem Vorsatz, einen anderen Menschen zu töten. Er stellte sodann den Käfig mit einem Chinchilla aus seiner Wohnung in den Hausflur. Nach dem Eintreffen der Nebenklägerin ließ es der Angeklagte mit fortbestehendem Fremdtötungsvorsatz geschehen, dass sie sich in seiner Wohnung eine Zigarette anzünden wollte. Durch die Flamme des Feuerzeugs kam es zu einer Explosion, bei der das gesamte Haus zerstört wurde. Der Nachbar des Angeklagten wurde von den Trümmern erschlagen; die Nebenklägerin und der Angeklagte überlebten schwer verletzt.

Der Angeklagte hat sich u. a. dahin eingelassen, er habe den Gashahn aufgedreht, weil er nicht mehr habe leben wollen. Er habe den Chinchilla in den Flur gesetzt, damit das Tier dort in Sicherheit sei; die Wohnungstür habe er mit Tüchern abgedichtet. Nachdem zehn bis fünfzehn Minuten lang nichts passiert sei, habe er den Gashahn wieder zugedreht. Später habe er die Zeugin J. angerufen; während dieses Telefonats habe er die Absicht aufgegeben, sich selbst umzubringen. Nach dem Eintreffen der Nebenklägerin habe er nicht gesehen, dass sie sich eine Zigarette angezündet habe und nicht damit gerechnet, dass sie rauchen werde.

Das Landgericht hat es als widerlegt angesehen, dass der Angeklagte die Gasleitung zunächst nur in der Absicht geöffnet habe, sich selbst zu töten. Hierfür sei auch der Umstand, dass der Angeklagte den Käfig mit dem Chinchilla in den Flur gestellt habe, kein "zwingendes" Indiz. Bei der Verbringung des Chinchillas aus der Wohnung könne der Angeklagte ebenso gut aus der Überlegung heraus gehandelt haben, die Nebenklägerin werde möglicherweise sonst auf einen durch Gaseinwirkung hervorgerufenen Zustand des Tieres aufmerksam.

Diese Ausführungen des Landgerichts halten materiellrechtlicher Nachprüfung nicht stand; sie enthalten eine wesentliche Lücke und genügen den Anforderungen an eine ausreichende Darlegung der Beweiswürdigung in den schriftlichen Urteilsgründen nicht.

Die Würdigung der Beweise ist vom Gesetz dem Tatrichter übertragen (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Das Revisionsgericht ist demgegenüber auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters mit Rechtsfehlern behaftet ist, etwa weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht (BGH NJW 2005, 2322, 2326). Im Rahmen der Beweiswürdigung ist die Einlassung des Angeklagten mitzuteilen und unter Berücksichtigung der erhobenen Beweise zu bewerten; seine bestreitende Einlassung und ihre Widerlegung bestimmen Umfang und Inhalt der Darlegung im Urteil (Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 267 Rdn. 12).

Nach diesen Maßstäben liegt bereits darin eine revisionsrechtlich relevante Lücke und damit ein durchgreifender Rechtsfehler, dass die Strafkammer sich nicht mit der Einlassung des Angeklagten auseinandergesetzt hat, er habe die Tür zu seiner Wohnung mit Tüchern abgedichtet. Die Urteilsgründe enthalten hierzu keine ausdrücklichen Feststellungen. Dieser Umstand könnte - wenn er zuträfe - ein Beleg dafür sein, dass er - jedenfalls bis zum Eintreffen der Nebenklägerin - nur den Vorsatz der Selbst-, nicht aber der Fremdtötung hatte. In diesem Fall hätte die Verurteilung wegen eines mit Fremdtötungsvorsatz ausgeführten aktiven Tuns - dem Öffnen der Gasleitung - keine hinreichende tatsächliche Grundlage. Zwar ist in den Urteilsgründen nicht stets in allen Einzelheiten darzulegen, auf welche Weise der Tatrichter zu bestimmten Feststellungen gelangt ist. Aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Falles sind jedoch Feststellungen zur subjektiven Tatseite nur auf der Grundlage einer sorgfältigen Bewertung aller erheblichen Beweistatsachen sowie einer umfassenden Würdigung der Einlassung des Angeklagten rechtsfehlerfrei möglich. Diese Würdigung wird für das Revisionsgericht nur dann in ausreichendem Maße nachvollziehbar, wenn sich die schriftlichen Urteilsgründe auch mit dem wesentlichen Inhalt der bestreitenden, jedenfalls teilweise nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisenden Einlassung des Angeklagten befassen. Daran fehlt es hier insbesondere auch deswegen, weil der Umstand, dass der Angeklagte den Käfig mit dem Chinchilla in den Flur stellte, in noch stärkerem Maße gegen seinen anfänglichen Fremdtötungsvorsatz spricht, wenn er daneben auch noch die Wohnungstür abdichtete.

Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StPO Gebrauch und verweist die Sache nunmehr an das Landgericht Düsseldorf zurück.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 132

Bearbeiter: Ulf Buermeyer