HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 144
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 364/08, Beschluss v. 28.10.2008, HRRS 2009 Nr. 144
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 22. Januar 2008 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt; von einem weiteren Vorwurf der schweren Vergewaltigung hat es ihn freigesprochen. Mit seiner gegen die Verurteilung gerichteten Revision beanstandet der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg; das Landgericht hat einen Beweisantrag rechtsfehlerhaft zurückgewiesen (§ 244 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 StPO).
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts konsumierte die im Jahre 1983 geborene Zeugin P. seit ihrer frühen Jugend Kokain und Heroin und war zum Tatzeitpunkt im Herbst 2001 betäubungsmittelabhängig. Der Angeklagte und zwei oder drei Begleiter besorgten ihr Heroin. Sie nahm das Rauschgift ein, war hierdurch berauscht und fiel in einen betäubungsähnlichen Zustand. Der Angeklagte und seine Begleiter vollzogen nunmehr nacheinander mit der regungslos auf einem Sofa liegenden Zeugin den vaginalen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss. Obwohl sie aufgrund ihres Zustands zu einem körperlichen Widerstand nicht in der Lage war, konnte sie ihre Umgebung noch wahrnehmen und sagte zu jedem der Täter: "Nein".
Das Landgericht hat den Angeklagten im Wesentlichen aufgrund der Aussage der Zeugin verurteilt, die es für glaubhaft erachtet hat.
2. Der Angeklagte hat mit Anträgen vom 8. Oktober und 6. November 2007 die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Aussagefähigkeit der Zeugin beantragt. Diese sei nicht aussagetüchtig, da aufgrund ihres langen Drogenabusus ihre Fähigkeit, Wahrnehmungen zu erinnern und zu reproduzieren, erheblich eingeschränkt sei; ihre Aussagen zu dem Tatvorwurf seien unzuverlässig. Zur Begründung hat der Angeklagte unter Hinweis auf zahlreiche aus seiner Sicht bestehende Ungenauigkeiten und Widersprüche in den verschiedenen Vernehmungen der Zeugin ausgeführt, dass diese in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit erheblich eingeschränkt gewesen sei.
Mit Beschluss vom 14. November 2007 hat die Strafkammer den Beweisantrag vom 6. November 2007 zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie auf ihre eigene Sachkunde verwiesen. Besonderheiten, die eine sachverständige Beratung erforderlich machten, seien nicht erkennbar und lägen auch nicht darin, dass die Zeugin zur Tatzeit und möglicherweise noch zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung drogenabhängig gewesen sei. Im Übrigen dürfte - so das Landgericht - das Beweismittel ungeeignet sein, weil die Zeugin es ablehne, sich der für ein Glaubwürdigkeitsgutachten erforderlichen Exploration zu unterziehen.
3. Diese Ablehnung hält in der Sache rechtlicher Nachprüfung nicht stand; deshalb kann dahinstehen, ob mit dem Beschluss vom 14. November 2007 auch der Antrag vom 8. Oktober 2007 beschieden worden ist oder insoweit ein von der Revision ebenfalls gerügter Verstoß gegen § 244 Abs. 6 StPO vorliegt.
a) Soweit die Strafkammer eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat, reicht die Begründung ihrer Entscheidung aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Sachverhalts nicht aus. Die Anforderungen, die an den Ausweis der richterlichen Sachkunde in dem den Beweisantrag ablehnenden Beschluss oder den Urteilsgründen zu stellen sind, richten sich nach dem Maß der Schwierigkeit der Beweisfrage (vgl. BGHSt 12, 18, 20). Anders als in gewöhnlichen Fällen der Glaubwürdigkeitsbeurteilung, in denen sich die eigene Sachkunde des Tatrichters regelmäßig schon aus seiner Berufserfahrung ergibt (vgl. BVerfG NJW 2004, 209, 211), bestand hier ausnahmsweise mit Blick auf die konkrete Fallgestaltung ein erhöhter Begründungsbedarf.
Das Beweisbegehren zielte erkennbar nicht auf allgemeine Fragen der Glaubwürdigkeit der Zeugin im Hinblick auf ihre Drogenabhängigkeit, sondern darauf ab, dass aufgrund der konkreten Gegebenheiten ihre kognitiven Fähigkeiten erheblich beeinträchtigt waren. Die Beurteilung der Auswirkungen ihres langjährigen Drogenmissbrauchs in Kombination mit der akuten Intoxination zur Tatzeit, die so stark war, dass sie sich - zu jeglichem Widerstand unfähig - in einem "betäubungsähnlichen Zustand" befand, auf ihre Fähigkeit zur Wahrnehmung und späteren Wiedergabe des konkreten Geschehens nimmt jedoch mehr als Allgemeinwissen in Anspruch. Unter diesen Umständen versteht sich die Sachkunde der Strafkammer nicht von selbst; sie hätte vielmehr in dem Zurückweisungsbeschluss oder den Urteilsgründen näher dargelegt werden müssen (vgl. BGH NStZ 1991, 47; Fischer in KK 6. Aufl. § 244 Rdn. 198 m. zahlr. w. N.).
b) Der - nicht näher begründete - Hinweis der Strafkammer auf die mögliche Ungeeignetheit des Beweismittels vermag die Zurückweisung des Beweisbegehrens ebenfalls nicht zu tragen. Zwar kann ein Beweisantrag, der sich auf ein - nach dem Gesetzeswortlaut allerdings "völlig" - ungeeignetes Beweismittel stützt, aus diesem Grund nach § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO abgelehnt werden. Dabei muss es sich aber um ein Beweismittel handeln, dessen Inanspruchnahme von vornherein gänzlich aussichtslos wäre, so dass sich die Erhebung des Beweises in einer reinen Förmlichkeit erschöpfen würde (vgl. BGH StV 1997, 338). Nach diesen Maßstäben kann die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann abgelehnt werden, wenn auszuschließen ist, dass es sich zu der vorgelegten Beweisfrage sachlich überhaupt äußern kann (vgl. BGH NStZ 2008, 116), z. B. weil es nicht möglich ist, dem Sachverständigen die tatsächlichen Grundlagen zu verschaffen, derer er für sein Gutachten bedarf (vgl. Fischer in KK aaO § 244 Rdn. 154). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Zeugin konnte zwar ohne ihre Einwilligung nicht psychiatrisch untersucht werden (§ 81c StPO). Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass der Sachverständige auf andere Weise, etwa durch das Studium der Akten und die Beobachtung der Zeugin in der Hauptverhandlung ausreichende Anknüpfungstatsachen hätte ermitteln und auf deren Basis zumindest Wahrscheinlichkeitsaussagen zu der Beweisbehauptung machen können.
4. Der Schuldspruch beruht auf der rechtsfehlerhaft unterlassenen Beweiserhebung. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht zu einer anderen Überzeugung gekommen wäre, wenn es das beantragte Gutachten eingeholt und der Sachverständige die Beweisbehauptung bestätigt hätte.
HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 144
Externe Fundstellen: NStZ 2009, 346; StV 2009, 116
Bearbeiter: Ulf Buermeyer