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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1375

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, AK 76/24, Beschluss v. 02.10.2024, HRRS 2024 Nr. 1375


BGH AK 76/24 - Beschluss vom 2. Oktober 2024 (OLG Stuttgart)

Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate (dringender Tatverdacht; Fluchtgefahr; besondere Schwierigkeit und besonderer Umfang der Ermittlungen).

§ 112 StPO; § 121 StPO

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Stuttgart übertragen.

Gründe

I.

Der Angeklagte ist am 12. Dezember 2023 festgenommen worden und befindet sich seit dem Folgetag ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 27. November 2023 (4 BGs 87/23). Gegenstand dieses Haftbefehls war der Vorwurf, der Beschuldigte habe im Zeitraum von August 2012 bis April 2013 in der syrischen Stadt B. jeweils gemeinschaftlich mit Mitgliedern der örtlichen Hisbollah-Miliz durch drei selbständige Handlungen (§ 53 Abs. 1 StGB) - im Zusammenhang mit einem internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konflikt geplündert oder, ohne dass dies durch die Erfordernisse des bewaffneten Konflikts geboten gewesen sei, sonst in erheblichem Umfang völkerrechtswidrig Sachen der gegnerischen Partei, die der Gewalt der eigenen Partei unterlegen hätten, zerstört, sich angeeignet oder beschlagnahmt, während er noch Heranwachsender gewesen sei (Fall 1; strafbar gemäß § 9 Abs. 1 VStGB, §§ 1, 105 JGG), - im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung einen Menschen, der sich in seinem Gewahrsam oder in sonstiger Weise unter seiner Kontrolle befunden habe, gefoltert, indem er ihm erhebliche körperliche oder seelische Schäden oder Leiden zugefügt habe, die nicht lediglich Folge völkerrechtlich zulässiger Sanktionen gewesen seien, und tateinheitlich hierzu im Zusammenhang mit einem internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konflikt eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person grausam oder unmenschlich behandelt, indem er ihr erhebliche körperliche oder seelische Schäden oder Leiden zugefügt, insbesondere sie gefoltert oder verstümmelt habe (Fall 2; strafbar gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 5, § 8 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 6 Nr. 2 VStGB, § 52 Abs. 1 StGB), - einem anderen zu dessen Tat - einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Folter und Freiheitsberaubung in Tateinheit mit einem Kriegsverbrechen gegen Personen durch Folter - Hilfe geleistet (Fall 3; strafbar gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 5 und 9, § 8 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 6 Nr. 2 VStGB, § 27 Abs. 1, § 52 Abs. 1 StGB).

Auf der Grundlage dieses Haftbefehls hat der Senat am 27. Juni 2024 die Fortdauer der Haft über sechs Monate hinaus beschlossen (AK 56/24). Am 1. Juli 2024 hat der Generalbundesanwalt Anklage beim Oberlandesgericht Stuttgart erhoben. Alle drei dem Angeklagten zur Last gelegten Tatvorwürfe hat er darin in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erweitert und beantragt, den Haftbefehl nach Maßgabe der Anklage neu zu fassen. Dem ist das Oberlandesgericht nachgekommen. Sein dem Angeklagten am 13. August 2024 eröffneter und in Vollzug gesetzter Haftbefehl vom 6. August 2024 (6 St 3 BJs 47/20) - enthält in „Fall 1“ den Vorwurf des Kriegsverbrechens gegen Eigentum durch Plünderung aus dem ursprünglichen Haftbefehl und erweitert ihn tateinheitlich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Tötung, ein Kriegsverbrechen gegen Personen durch Tötung, Mord und besonders schweren Raub, strafbar gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1, § 8 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 6 Nr. 2, § 9 Abs. 1 VStGB, §§ 211, 249 Abs. 1, § 250 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 und 2, § 25 Abs. 2, § 52 Abs. 1 StGB; - enthält unter „Fall 2“ die Vorwürfe aus dem ursprünglichen Haftbefehl zu den vormaligen Fällen 2 und 3; diese sind in tatsächlicher Hinsicht ergänzt und jetzt insgesamt als tateinheitliches Geschehen gewürdigt, nämlich als je drei idealkonkurrierende Fälle des Verbrechens gegen die Menschlichkeit durch Folter und des Kriegsverbrechens gegen Personen durch Folter sowie als Beihilfe zu je drei Fällen des Verbrechens gegen die Menschlichkeit durch Folter und Freiheitsberaubung und des Kriegsverbrechens gegen Personen durch Folter, strafbar gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 5 und 9, § 8 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 6 Nr. 2 VStGB, § 27 Abs. 1, § 52 Abs. 1 StGB; - erweitert den ursprünglichen Haftbefehl in einem neuen „Fall 3“ um den Vorwurf des Verbrechens gegen die Menschlichkeit durch Folter und Freiheitsberaubung in Tateinheit mit einem Kriegsverbrechen gegen Personen durch Folter, einem Kriegsverbrechen gegen Eigentum durch Plünderung sowie mit schwerem Raub, strafbar gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 5 und 9, § 8 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 6 Nr. 2, § 9 Abs. 1 VStGB, § 250 Abs. 1 Nr. 2, § 27 Abs. 1, § 52 Abs. 1 StGB.

Im Kern gehen die Vorwürfe in tatsächlicher Hinsicht dahin, der Angeklagte habe im Rahmen des syrischen Bürgerkriegs von August 2012 bis Dezember 2014 in der Stadt B. eine bewaffnete Einheit der Hisbollah angeführt und in dieser Funktion eine Tötung, Misshandlungen, Freiheitsberaubungen, Folter und Plünderungen zu verantworten.

Am 15. August 2024 hat das Oberlandesgericht das Hauptverfahren eröffnet und die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen. Der Beginn der Hauptverhandlung ist für den 15. Oktober 2024 terminiert.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus liegen vor.

1. Es kann dahinstehen, ob der Angeklagte der ihm im Haftbefehl des Oberlandesgerichts vom 6. August 2024 zur Last gelegten Taten vollen Umfangs dringend verdächtig ist (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO). Dieser aktuelle Haftbefehl ist zwar nunmehr Grundlage der Inhaftierung des Angeklagten und damit für die Fortdauer der Untersuchungshaft maßgeblich (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2023 - AK 91/23 u.a., juris Rn. 6 f.); er ersetzt den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 27. November 2023, den das Oberlandesgericht mit der Verkündung des neuen Haftbefehls auch ausdrücklich aufgehoben hat. Er beinhaltet jedoch - wie aufgezeigt - vollständig die dem Angeklagten ursprünglich zur Last gelegten Taten und erweitert diese in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht um zusätzliche Vorwürfe. Bereits das dem Angeklagten im Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 27. November 2023 vorgeworfene Verhalten rechtfertigt die Inhaftierung des Angeklagten über neun Monate hinaus.

Hinsichtlich der Einzelheiten nimmt der Senat zum einen auf seine Haftfortdauerentscheidung vom 27. Juni 2024 Bezug, deren Gründe unverändert fortgelten, zum anderen auf die Anklageschrift des Generalbundesanwalts sowie den Haftbefehl vom 6. August 2024 und die darin jeweils näher dargestellten Beweismittel. Seither durchgeführte Ermittlungen haben den dringenden Tatverdacht zusätzlich erhärtet. Er ist nicht dadurch beseitigt, dass sich der Angeklagte in seiner polizeilichen Vernehmung vom 11. Juli 2024 erstmals eingelassen, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestritten und auf ein Komplott sunnitischer Verwandter zurückgeführt hat. Eine nähere Glaubhaftigkeitsanalyse seiner Angaben bleibt der Hauptverhandlung vorbehalten.

2. Es besteht weiterhin aus den im Haftbefehl des Oberlandesgerichts und im Beschluss des Senats vom 27. Juni 2024 dargelegten Erwägungen der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Die Straferwartung ist erheblich, zumal nun zusätzlich der Vorwurf des Menschlichkeits- und des Kriegsverbrechens durch Tötung sowie des tateinheitlichen Mordes erhoben ist, der gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1, § 8 Abs. 1 Nr. 1 VStGB, § 211 StGB im Fall einer entsprechenden Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht mit lebenslanger Freiheitsstrafe und nach Jugendstrafrecht mit Jugendstrafe bis zu 15 Jahren zu ahnden wäre (§ 105 Abs. 3 Satz 2 JGG).

Danach ist nun erst recht zu erwarten, dass sich der Angeklagte, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen wird. Eine solche würde ihm durch Familienangehörige in Syrien und im Libanon sowie durch seine hochwahrscheinlich jedenfalls ehemalige Zugehörigkeit zur Hisbollah erleichtert. Tragfähige Bindungen in Deutschland besitzt der Angeklagte nicht. Der Zweck der Untersuchungshaft kann unter den gegebenen Umständen weiterhin nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO erreicht werden.

3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus (§ 121 Abs. 1, § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die weitere Haftfortdauer. Hierzu wird zunächst auf den Beschluss des Senats vom 27. Juni 2024 verwiesen. Auch danach ist das Verfahren mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Das Oberlandesgericht Stuttgart hat der Sache nach Eingang der Anklage durchgängig zügig Fortgang gegeben. Wie im Vorlageschreiben des dortigen Vorsitzenden vom 9. September 2024 nachvollziehbar dargelegt, ist ein früherer Beginn der Hauptverhandlung nicht möglich gewesen. Beginnend mit dem 15. Oktober 2024 sind bisher 30 Verhandlungstermine bis Ende Februar 2025 bestimmt; danach ist jeweils für dienstags und donnerstags terminiert. Vor diesem Hintergrund ist damit zu rechnen, dass das Verfahren weiterhin eine intensive Förderung erfahren wird.

4. Die Untersuchungshaft steht nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits noch immer nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1375

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede