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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 649

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 474/24, Beschluss v. 24.10.2024, HRRS 2025 Nr. 649


BGH 2 StR 474/24 - Beschluss vom 24. Oktober 2024 (LG Aachen)

Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (fehlende Mitteilung des Führungsaufsichtsbeschlusses im Urteil); Schuldfähigkeit (Steuerungsfähigkeit); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose: nicht erhebliche Anlasstaten, besondere Umstände, Verstoß gegen Führungsaufsichtsweisungen, serielle Anlasstaten).

§ 145a StGB; § 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Sind die Anlasstaten für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB, müssen besondere Umstände vorliegen, die die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustands erhebliche Taten begehen wird (§ 63 Satz 2 StGB). Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind. Die zu stellende Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln und in den Urteilsgründen nachvollziehbar darzulegen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 29. Mai 2024 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich die mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision des Beschuldigten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts stand der Beschuldigte nach Vollverbüßung einer Haftstrafe von zwei Jahren unter Führungsaufsicht. Mit Beschluss des Landgerichts Würzburg vom 2. Mai 2022 wurde er - unter Hinweis auf die Strafbarkeit nach § 145a StGB - unter anderem angewiesen, „weder Alkohol noch Betäubungsmittel zu konsumieren“. Mit Beschluss vom 9. März 2023 änderte das Landgericht die Weisungen dahin, dass sie „konkreter (unter jeweiliger Zeit- und Ortsangabe) ausgestaltet“ wurden.

Am 17. und 24. April 2023, am 27. Juni 2023 und am 9. September 2023 wurde der Beschuldigte (teilweise geringfügig) alkoholisiert oder nach vorangegangenem Marihuanakonsum berauscht angetroffen, in einem Teil der Fälle war er auch im Besitz von Alkohol bzw. Marihuana (Fälle 4 bis 6 und 9 der Antragsschrift).

Am 1., 2. und 13. September 2023 nahm er jeweils exhibitionistische Handlungen vor, indem er in zwei Fällen gegenüber der Pförtnerin im Eingangsbereich eines Krankenhauses seine Hose herunterzog und ihr seinen erigierten Penis zeigte; in einem weiteren Fall zog er gegenüber der Reinigungskraft auf der geschlossenen Station der Psychiatrie, in der er eingewiesen war, seine Hose herunter, so dass sie seinen nicht erigierten Penis sah (Fälle 7, 8 und 12 der Antragsschrift).

Am 9. September 2023 beleidigte der Beschuldigte in zwei Fällen mehrere Polizeibeamte (Fälle 10 und 11 der Antragsschrift).

Das sachverständig beratene Landgericht ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Beschuldigte während des gesamten Tatzeitraums unter einer psychotisch verlaufenden paranoiden Schizophrenie mit einer schizoaffektiven Psychose mit nicht ausschließbarem Wahnerleben litt, weswegen in allen Fällen bei Begehung der Taten seine Steuerungsfähigkeit zumindest erheblich eingeschränkt (§ 21 StGB) und nicht ausschließbar vollständig aufgehoben (§ 20 StGB) war.

2. Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Überprüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand.

a) Die Feststellungen in den Fällen 4 bis 6 und 9 der Antragsschrift tragen nicht die Annahme von Verstößen gegen Weisungen während der Führungsaufsicht gemäß § 145a Satz 1 StGB. Zum hier allein maßgebenden Führungsaufsichtsbeschluss des Landgerichts Würzburg vom 9. März 2023 stellt das Landgericht lediglich fest, dass die „oben genannten Weisungen konkreter (unter jeweiliger Zeit- und Ortsangabe) ausgestaltet“ wurden, ohne dieses näher zu beschreiben. Der Führungsaufsichtsbeschluss wird im Urteil, anders als es sich empfiehlt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Juni 2023 - 3 StR 151/23, NStZ-RR 2023, 369, und vom 18. September 2024 - 3 StR 250/24, StV 2025, 10), nicht im Wortlaut mitgeteilt, sodass sich weder der konkrete Inhalt der Weisung, mit dem die Strafbarkeit eines Weisungsverstoßes begründet wird, noch deren Rechtmäßigkeit erschließt (vgl. auch BGH, aaO, zu Abstinenzweisungen bei einem suchtkranken Angeklagten).

b) Darüber hinaus halten auch die Schuldfähigkeitsprüfung und die Ausführungen zur Gefährlichkeitsprognose im Sinne des § 63 Satz 2 StGB rechtlicher Überprüfung nicht in jeder Hinsicht stand.

aa) Das Vorliegen eines Eingangsmerkmals im Sinne der §§ 20, 21 StGB ist nicht durchweg tragfähig belegt. Jedenfalls in den Fällen 8 und 12 der Antragsschrift war der Beschuldigte in der Lage, umgehend auf überraschende Entwicklungen des Geschehens, die geeignet waren, seine Taten zu stören oder ihn als Täter zu überführen, adäquat zu reagieren. Die Urteilsgründe verhalten sich nicht zu der Frage, ob seine situationsangemessenen Reaktionen gegen die Annahme erheblich eingeschränkter bzw. nicht ausschließbar vollständig aufgehobener Steuerungsfähigkeit sprechen.

bb) Die Begründung der Gefährlichkeitsprognose ist ebenfalls rechtsfehlerhaft.

Im rechtlichen Ausgangspunkt ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die verfahrensgegenständlichen Anlasstaten nicht erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB sind.

Waren die Anlasstaten aber nicht erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB, müssen besondere Umstände vorliegen, die die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustands erhebliche Taten begehen wird (§ 63 Satz 2 StGB). Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 18. September 2024 - 6 StR 154/24, Rn. 5 mwN). Die zu stellende Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln und in den Urteilsgründen nachvollziehbar darzulegen (vgl. BGH, Urteile vom 11. Oktober 2018 - 4 StR 195/18, NStZ-RR 2019, 41, 42, und vom 12. Dezember 2023 - 6 StR 326/23, NStZ-RR 2024, 44).

Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Soweit das Landgericht im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose auf die Serie von (lediglich) vier Verstößen gegen die Führungsaufsichtsweisung abstellt (vgl. auch BGH, Beschluss vom 15. März 2018 - 4 StR 579/17, mit Blick auf serielle Anlasstaten mit quantitativ und qualitativ deutlich anderem Gewicht), fehlt es - ungeachtet dessen, dass die bisherigen Feststellungen deren Annahme nicht tragen (s.o. 2. a)) - an einem ausreichenden fallbezogenen Beleg für über den bloßen Seriencharakter hinausgehende besondere Umstände im Sinne des § 63 Satz 2 StGB von zu erwartenden Taten mittlerer Kriminalität, die den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen geeignet erscheinen.

3. Das Urteil beruht auf diesen Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat hebt das Urteil insgesamt mit den zugehörigen Feststellungen auf, um dem Tatgericht insbesondere auf der Grundlage neu getroffener gutachterlicher Erwägungen zur Schuldfähigkeit eine in sich stimmige Prüfung zu ermöglichen.

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 649

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede