HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 830
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 454/23, Urteil v. 24.04.2024, HRRS 2024 Nr. 830
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 21. März 2023, soweit es den Angeklagten B. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht - Jugendkammer - hat den Angeklagten von dem Vorwurf des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen und eine Entschädigungsentscheidung wegen erlittener Untersuchungshaft getroffen. Die gegen den Freispruch gerichtete, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten zur Last, am 18. Oktober 2021 gemeinschaftlich mit den Mitangeklagten H. und D. versucht zu haben, eine andere Person zu töten, ohne Mörder zu sein, und ihn dabei mittels eines gefährlichen Werkzeugs und einer das Leben gefährdenden Behandlung körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben.
Absprachegemäß habe der Angeklagte die beiden Mitangeklagten H. und D. am 18. Oktober 2021 gegen 23.30 Uhr telefonisch von seiner Beobachtung informiert, dass der Nebenkläger A. soeben eine Gaststätte verlassen habe. Daraufhin hätten die Mitangeklagten den Nebenkläger im Bereich eines Kinderspielplatzes, der sich in der Nähe der Gaststätte befindet, abgepasst. Nach einer verbalen Auseinandersetzung hätten die beiden Mitangeklagten aufgrund eines zuvor mit dem Angeklagten gefassten Tatplans auf A. mit einer Machete eingewirkt und ihm dabei mehrere schwere Schnittverletzungen an Hand, Arm, Rücken und Oberschenkel zugefügt. Der Angeklagte habe sich zunächst in Sichtweite aufgehalten und nicht aktiv in den Ablauf eingegriffen, sei sodann aber zu dem Geschehen hinzugetreten. Obwohl er und die Mitangeklagten erkannt hätten, dass der Geschädigte, der zu fliehen versuchte, stark blutete und erheblich verletzt gewesen sei, hätten sie A. mit den Fäusten ins Gesicht geschlagen, woraufhin er auf den Boden gestürzt sei.
Der Angeklagte habe sodann mit einer Machete mehrfach gegen den linken Oberschenkel des am Boden liegenden Geschädigten geschlagen, wodurch dieser tiefe und stark blutende Schnitte und Muskelverletzungen erlitten habe. In der weiteren Folge habe einer der Angeklagten mit dem beschuhten Fuß wuchtig gegen den ungeschützten Kopf des Nebenklägers getreten. Die Mitangeklagten hätten sodann den schwerstverletzten Geschädigten an den Armen und Beinen hochgehoben, um dem Angeklagten weitere Faustschläge gegen den Kopf zu ermöglichen. Während der Tatbegehung hätten sich die Mitangeklagten und der Angeklagte mit Rufen wie „Bring ihn um!“ gegenseitig zur Tatbegehung angespornt. Als eine Anwohnerin durch das geöffnete Fenster gerufen habe, sie werde die Polizei alarmieren, hätten die ihre Entdeckung fürchtenden Mitangeklagten und der Angeklagte den Geschädigten auf den Gehweg fallen lassen und seien vom Tatort geflüchtet.
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Nachdem der Nebenkläger am Abend des 18. Oktober 2021 in zwei Lokalen mehrere Flaschen Bier getrunken hatte, begab er sich gegen 23.35 Uhr auf ein nahegelegenes Schulhofgelände. Der Angeklagte hatte währenddessen mit den beiden Mitangeklagten in der Wohnung des Zeugen N. Alkohol und Betäubungsmittel konsumiert.
Gegen 23.35 Uhr verließen die beiden Mitangeklagten H. und D. die Wohnung, begaben sich ins Freie und trafen dort auf den ihnen bekannten Nebenkläger; die Jugendkammer konnte nicht aufklären, „wie es zu diesem Treffen kam“. Zwischen den drei Männern entwickelte sich ein lautstarker Streit. Der Mitangeklagte D., der eine Machete mit sich führte, lief auf den Nebenkläger zu und schlug mit ihr in Richtung A. s Kopf. Dessen Tod nahm er dabei billigend in Kauf. Mit einer Armbewegung konnte der Geschädigte zwar seinen Kopf vor dem Schlag schützen; er wurde jedoch an der rechten Hand getroffen, was zu einer schweren Verletzung führte. Der Mitangeklagte H. beobachtete diesen Vorgang aus der Nähe, griff jedoch noch nicht selbst aktiv in das Geschehen ein.
Um weiteren Einwirkungen zu entkommen, floh der Geschädigte vom Schulhofgelände. Der Mitangeklagte H. holte ihn in einer Stichstraße ein und schlug ihm entweder mit der Machete des Mitangeklagten D. oder mit einer weiteren Machete auf den Rücken und verletzte ihn ebenfalls schwer. Spätestens jetzt bestand zwischen den beiden Mitangeklagten Einvernehmen darüber, gemeinsam auf A. einzuwirken. Der Geschädigte ging erstmals zu Boden. Die beiden Mitangeklagten schlugen nun gemeinsam mit einer Machete und Fäusten auf ihn ein.
Trotz weiterer Schläge gelang es A., sich aufzurichten und sich zunächst wenige Schritte zu entfernen. Nunmehr trat „eine weitere männliche Person hinzu, deren Identität“ die Jugendkammer nicht aufzuklären vermochte. „Dass es sich bei dieser Person um den Angeklagten B. handelte“, erschien dem Landgericht „zwar möglich“, sei aber „nicht hinreichend sicher feststellbar“. Nach weiteren verbalen Auseinandersetzungen schlugen „alle drei Männer in gewolltem Einvernehmen auf den Geschädigten ein“, der hierdurch zu Boden fiel. „Entweder jetzt oder bereits als er zuvor erstmals am Boden gelegen hatte, trat ihm einer der drei bzw. zuvor zwei Männer mit dem beschuhten Fuß ins Gesicht“, wobei die Jugendkammer nicht feststellen konnte, von wem der Tritt stammte. „Der dritte Angreifer fügte dem Geschädigten nun entweder mit einem selbst mitgeführten scharfen Messer oder einem sehr ähnlichen Gegenstand oder mit der von H. geführten Machete drei tiefe Schnittwunden am linken Oberschenkel zu“. Als eine Anwohnerin durch das geöffnete Fenster wiederholt rief, sie werde die Polizei alarmieren, flüchteten die Mitangeklagten vom Tatort, wobei ihnen bewusst gewesen war, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht alles getan hatten, um A. zu töten; dieses wäre ihnen indes in kurzer Zeit möglich gewesen. Ein Tatmotiv hat das Landgericht nicht aufzuklären vermocht.
Der Geschädigte erlitt mehrere schwere, potentiell lebensgefährdende Schnittverletzungen im Bereich der rechten Hand und des linken Arms, am Rücken und am Oberschenkel, die mit Frakturen, Sehnendurchtrennungen und Muskelverletzungen einhergingen; an den Folgen der Verletzungen leidet er weiterhin physisch und psychisch.
2. Das Landgericht hat den heranwachsenden Mitangeklagten D. und den erwachsenen Mitangeklagten H. wegen gefährlicher Körperverletzung zu Freiheitstrafen von vier Jahren (D.) sowie vier Jahren und sechs Monaten ( H.) verurteilt; von einem versuchten Totschlag seien sie strafbefreiend zurückgetreten. Den Angeklagten hat es aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit feststehe, dass der - die Tatbegehung bestreitende - Angeklagte an dem Angriff auf den Nebenkläger beteiligt gewesen sei.
1. Die ausschließlich gegen den Freispruch des Angeklagten B. erhobene Revision der Staatsanwaltschaft (vgl. Nr. 156 Abs. 2 RiStBV) ist begründet. Die Beweiswürdigung der Jugendkammer hält - auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfungsmaßstabes - revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO); die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Rechtsfehlerhaft ist eine Beweiswürdigung bei einem Freispruch insbesondere auch, wenn der Tatrichter an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt und nicht beachtet hat, dass eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemandem anzweifelbare Gewissheit nicht erforderlich ist; denn für eine Verurteilung genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 16. Februar 2022 - 2 StR 399/21, NStZ-RR 2022, 146, 147 mwN). Die Anforderungen an eine umfassende Würdigung der festgestellten Tatsachen sind bei einem Freispruch nicht geringer als im Fall einer Verurteilung (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 2018 - 2 StR 431/17, NStZ-RR 2018, 151, 152). Dabei ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 16. Februar 2022 - 2 StR 399/21, NStZ-RR 2022, 146, 147 mwN).
b) Gemessen daran lassen die Urteilsgründe besorgen (vgl. § 337 Abs. 1 StPO), dass das Landgericht von einem rechtsfehlerhaften Beurteilungsmaßstab ausgegangen ist, insbesondere die Reichweite des Zweifelssatzes verkannt und dadurch überspannte Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung gestellt hat. Überdies ist die Beweiswürdigung widersprüchlich und lückenhaft; sie lässt ferner die gebotene Gesamtwürdigung aller wesentlichen be- und entlastenden Indizien vermissen.
aa) Die Revision rügt zu Recht die fehlerhafte Anwendung des Zweifelssatzes bei der Beweiswürdigung des Landgerichts.
Der Grundsatz „in dubio pro reo“ ist keine Beweisregel, sondern eine Entscheidungsregel; auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung ist er grundsätzlich nicht anwendbar (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 12. Oktober 2011 - 2 StR 202/11, NStZ-RR 2012, 18, 19 mwN). Er besagt nichts darüber, wie der Tatrichter die Beweise zu würdigen hat, sondern kommt erst bei der abschließenden Gesamtwürdigung zum Tragen (vgl. BGH, aaO, mwN).
Dies hat das Landgericht verkannt. Der Geschädigte hat den Angeklagten, den er seit drei oder vier Jahren kennt, hinsichtlich dessen Tatbeteiligung im Sinne der Anklage erheblich belastet. Nach Auffassung der Jugendkammer sei es zwar „möglich“, dass der Angeklagte der dritte Täter war, der zu dem Tatort hinzukam und dem Geschädigten Schnittwunden zufügte. Aufgrund „einige(r) Zweifel“ an der Glaubhaftigkeit der Angaben des geschädigten Hauptbelastungszeugen hat das Landgericht in seine Feststellungen indes ausdrücklich solche Umstände nicht aufgenommen, „die ausschließlich von ihm bekundet worden sind, sonst aber keine weitere Bestätigung durch die Beweisaufnahme gefunden haben“, es sei denn, es habe sich um einen sich ausschließlich zu Gunsten des Angeklagten auswirkenden Umstand gehandelt. Infolgedessen hat sich die Jugendkammer nicht von der Täterschaft des Angeklagten als des dritten Angreifers mit der erforderlichen Sicherheit überzeugen können. Damit hat das Landgericht den Grundsatz „in dubio pro reo“ rechtsfehlerhaft auf ein einzelnes Element der Beweiswürdigung - die Aussage des Geschädigten - angewandt, obwohl es diesen Grundsatz erst dann zu befolgen hatte, wenn es nach abgeschlossener Würdigung sämtlicher Beweise nicht die volle Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten zu gewinnen vermochte (vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 2008 - 1 StR 292/08, NStZ-RR 2009, 90, 91).
bb) Die Vorgehensweise des Landgerichts steht auch mit seinen weiteren Ausführungen im Rahmen der Beweiswürdigung in Widerspruch. Denn nicht nur der Geschädigte hat den Angeklagten als am Tatort mitwirkenden Täter benannt, sondern auch der Angeklagte und die Mitangeklagten haben seine Anwesenheit am Tatort eingeräumt, teilweise darüberhinausgehend sogar sein Bemühen, den Streit zwischen den Beteiligten aktiv zu schlichten, wenngleich sie einen strafrechtlich relevanten Tatbeitrag bestritten haben. Die Mitwirkung eines dritten, später hinzukommenden Angreifers bei der Tat zum Nachteil des Geschädigten stützt die Jugendkammer zudem auf verschiedene Zeugenaussagen, wobei weder der Angeklagte noch der Mitangeklagte D. eine weitere Person am Tatort erwähnt haben, die als dritter (unbekannter) Täter in Betracht kommen könnte.
cc) Lückenhaft ist die Beweiswürdigung, weil das Landgericht nicht erörtert hat, weshalb der Geschädigte den Angeklagten zu Unrecht als dritten Täter hätte belasten sollen, zumal der Angeklagte eingeräumt hat, unmittelbar am Tatort gewesen zu sein und sogar versucht zu haben, den von ihm wahrgenommenen Streit zu schlichten, indem er „sich zwischen die beiden stellte, dem […] A. hoch half […], H. von ihm wegzog und dafür Sorge trug, dass er nicht zurückging“. Zudem hat das Landgericht nicht erkennbar erwogen, dass das mehrfache aggressive Verhalten des Geschädigten gegenüber dem Angeklagten im Rahmen der Hauptverhandlung naheliegenderweise im Zusammenhang mit der Tatbeteiligung des Angeklagten stehen könnte.
dd) Schließlich fehlt es an der erforderlichen Gesamtwürdigung aller wesentlichen be- und entlastenden Indizien. Die Jugendkammer hat lediglich einen einseitigen Abgleich von einzelnen Indizien ausschließlich anhand der Aussage des Geschädigten vorgenommen. Eine Gesamtschau setzt aber voraus, dass sämtliche vorhandenen Beweisanzeichen erkennbar zueinander in Beziehung gesetzt und gegeneinander abgewogen werden (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 7. November 2018 - 2 StR 361/18, juris Rn. 19 mwN). Dies hat die Jugendkammer unterlassen.
2. Von der Aufhebung des Urteils sind, soweit es den Angeklagten betrifft, auch die vom Landgericht getroffenen Feststellungen betroffen (§ 353 Abs. 2 StPO). Bei Aufhebung eines freisprechenden Urteils durch das Revisionsgericht können Feststellungen, deren rechtsfehlerfreies Zustandekommen der Angeklagte vom Revisionsgericht mangels Beschwer nicht überprüfen lassen konnte, jedenfalls bei einem bestreitenden Angeklagten nicht als Grundlage einer möglichen Verurteilung bestehen bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 27. Januar 1998 ? 1 StR 727/97, NStZ-RR 1998, 204).
3. Da das Verfahren sich nur noch gegen den erwachsenen Angeklagten richtet, verweist der Senat die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurück (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 1988 - 4 StR 33/88, BGHSt 35, 267, 268 f.). Mit der Aufhebung des Urteils, soweit es den Angeklagten betrifft, ist auch die Entscheidung des Landgerichts über die Zuerkennung von Haftentschädigung gegenstandslos (vgl. BGH, Urteil vom 27. Januar 1998 - 1 StR 727/97, NStZ-RR 1998, 204).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 830
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede