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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 430

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 399/21, Urteil v. 16.02.2022, HRRS 2022 Nr. 430


BGH 2 StR 399/21 - Urteil vom 16. Februar 2022 (LG Frankfurt am Main)

Beweiswürdigung (eingeschränkte Revisibilität; Zweifel: Zweifelssatz, keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Annahme zu Gunsten des Angeklagten, Zweifel theoretischer Natur, vernünftige Zweifel).

§ 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat. Zweifel, welche sich als bloße Vermutungen ohne gesicherte Tatsachengrundlagen erweisen, sind theoretischer Natur in diesem Sinn. Was völlig abseits liegt, darf und muss außer Betracht bleiben. Daraus folgt, dass nur solche Gründe, die zu vernünftigen Zweifeln in einer für den Schuldspruch relevanten Frage Anlass geben, einer Verurteilung entgegenstehen; nur dann ist „in dubio pro reo“ zu entscheiden.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 3. Februar 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Sachbeschwerde gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Mit der zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift vom 29. Januar 2020 wirft die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten vor, am 5. Juli 2019 aus Verärgerung über anhaltende Lärmbelästigungen den Geschädigten N. an dessen Wohnungstür aufgesucht und diesem mit einem mitgeführten Küchenmesser einen tödlichen Messerstich versetzt zu haben. Das Landgericht hat dazu folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Angeklagte war zur Tatzeit 64 Jahre alt, litt an der Lungenkrankheit COPD sowie einem Leberkarzinom und war alkoholabhängig. Als Rentner bewohnte er eine vom Sozialamt finanzierte Mietwohnung im dritten Obergeschoss eines Hochhauses in F. Der 70-jährige Geschädigte N. bewohnte die darüber gelegene Mietwohnung. Zwischen diesem und dem Angeklagten bestand seit Jahren ein Konflikt wegen ruhestörenden Lärms, wobei sich beide gegenseitig der Belästigung bezichtigten. In der Vergangenheit war die Beschilderung der Briefkästen des Angeklagten und des Geschädigten entfernt worden. Zudem hatte es Schmierereien an der Aufzugtür und in der Aufzugkabine gegeben, die sich gegen den Geschädigten gerichtet hatten. Auch hatte der Hausmeister in den Jahren 2017 und 2018 anonyme Drohschreiben erhalten, die sich gegen den Geschädigten gerichtet hatten. Der Geschädigte wiederum hatte seit 2016 „Lärmprotokolle“ geführt und darin vielfach ein Aufwecken durch Vibrationen und Motorgeräusche notiert; dabei mochte es sich um Fehlwahrnehmungen aufgrund von psychischen Problemen des Geschädigten gehandelt haben.

Der Angeklagte hielt sich in den letzten Jahren vor der Tat meist bei seiner Lebensgefährtin in O. auf, kam aber sporadisch wieder in seine Wohnung und übernachtete dann dort. Auch hatte er die Wohnung an die Zeugen S. und B. untervermietet. Die Untermieter hatten ebenfalls unter nächtlichen Ruhestörungen gelitten, worüber sie sich aber nicht beklagt hatten, zumal die Untervermietung nicht der Hausverwaltung gemeldet worden war. Der Angeklagte hatte dagegen mehrfach beim Hausmeister und bei der Hausverwaltung Ruhestörungen aus der Wohnung des Geschädigten durch laute Klopfgeräusche in der Nacht geltend gemacht und wiederholt die Polizei gerufen. In einzelnen Fällen war er zur Wohnung des Geschädigten gegangen, der ihm aber nie geöffnet hatte.

Am Abend des 5. Juli 2019 hielt sich der Angeklagte allein in seiner Wohnung auf, nachdem die Untermieter diese gegen 19.00 Uhr oder 19.30 Uhr verlassen hatten. Der Angeklagte fühlte sich erneut durch Klopfgeräusche aus der Wohnung des Geschädigten gestört. Um 21.33 Uhr wählte er den polizeilichen Notruf und wurde von der Zentrale darauf verwiesen, dass er sich an das örtlich zuständige 6. Polizeirevier wenden müsse. Darauf kündigte der Angeklagte an, den Geschädigten umzubringen; er werde ihm „das Messer in den Rücken“ hauen. Der Angeklagte war wütend, nahm ein schwarzes Küchenmesser mit einer Klingenlänge von etwa 20 cm und fuhr mit dem Aufzug in den vierten Stock. Dort trat und klopfte er gegen die Wohnungstür des Geschädigten. Deshalb rechnete dieser mit einem Konflikt und bewaffnete sich mit einem Hammer. Der Geschädigte öffnete die Tür und stieß den Angeklagten von sich, der zu Boden fiel. Dann schloss der Geschädigte wieder die Wohnungstür. Der Angeklagte stand auf, begab sich in seine Wohnung und legte das Messer in der Küche ab. Er nahm den Zettel mit der ihm bei dem vorangegangenen Notruf mitgeteilten Telefonnummer des 6. Polizeireviers, begab sich zu seinen Nachbarn, erklärte diesen, dass der Geschädigte wieder Krach mache und bat die Nachbarn darum, die Polizei anzurufen. Die Zeugin K. wählte die Nummer des 6. Polizeireviers und übergab dem Angeklagten den Hörer. Dem so erreichten Polizeioberkommissar teilte der Angeklagte mit, dass der Geschädigte wieder Lärm mache und er bereits mit diesem gesprochen habe; der Geschädigte trage einen Kapuzenpulli und habe einen Hammer in der Hand gehabt. Außerdem erwähnte der Angeklagte zusammenhanglos ein Messer. Nach diesem Telefonat begab er sich wieder in seine Wohnung. Von dort aus rief er gegen 22.00 Uhr erneut das 6. Polizeirevier an, behauptete, dass es ihm schlecht gehe, und fragte, wann die Streife komme. Er sagte, dass er unverletzt sei, sich aber gern untersuchen lassen würde und bereits einen Rettungswagen bestellt habe. Um 22.15 Uhr traf eine Polizeistreife ein, welcher der Angeklagte von der Ruhestörung durch den Geschädigten berichtete, und erläuterte, dass dieser wie ein IS-Kämpfer mit Kapuzenpulli und Hammer aussehe. Er verlangte, dass die Beamten mit dem Geschädigten sprechen sollten. Nachdem der Geschädigte diesen nicht öffnete, aber Radio oder Fernsehgeräusche aus seiner Wohnung zu hören waren, verließen die Beamten unverrichteter Dinge das Wohnhaus, teilten jedoch dem Angeklagten mit, sie hätten mit dem Geschädigten gesprochen und diesen zur Ruhe ermahnt.

Nachdem der Geschädigte am Folgetag den Sicherheitsknopf des Hausnotrufs nicht gedrückt hatte, wurde gegen 14.00 Uhr seine Wohnungstür von der Feuerwehr geöffnet. Der Geschädigte wurde tot in seinem Badezimmer gefunden. Er war an einem Stich in die rechte Brusthöhle durch Verbluten verstorben.

2. Die Schwurgerichtskammer hat sich aus tatsächlichen Gründen gehindert gesehen, den Angeklagten wegen Totschlags zu verurteilen.

Zwar sei aufgrund von DNA-Spuren des Geschädigten an dem in seiner Wohnung aufgefundenen Messer davon auszugehen, dass es sich dabei um das Tatmesser gehandelt habe. Auch sei anzunehmen, dass der Angeklagte am Abend des 5. Juli 2019 an der Wohnungstür des Geschädigten gewesen sei und dieser ihm mit einem Hammer in der Hand geöffnet habe. Nicht zu übersehen sei ferner die telefonische Ankündigung des Angeklagten, er werde den Geschädigten erstechen.

Gleichwohl habe sich die Schwurgerichtskammer nach einer Gesamtwürdigung der Indizien nicht die erforderliche Gewissheit davon verschaffen können, dass der Angeklagte den Geschädigten erstochen habe. Sie sei trotz der für die Tatbegehung sprechenden Indizien „nicht zweifelsfrei davon überzeugt, dass der Angeklagte den Geschädigten erstochen hat, weil die theoretische Möglichkeit besteht, dass dies ein anderer getan hat.“ Im Haus habe es auch andere Personen gegeben, die sich durch den Geschädigten gestört gefühlt hätten und ein Tatmotiv gehabt haben könnten, worauf die sich gegen den Geschädigten richtenden Schmierereien, Sachbeschädigungen und anonymen Drohschreiben hindeuteten, deren Urheberschaft nicht aufgeklärt werden konnte.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist mit der Sachrüge begründet. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

1. Das Revisionsgericht muss es zwar grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO); die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind. Rechtsfehlerhaft ist eine Beweiswürdigung bei einem Freispruch aber auch, wenn der Tatrichter an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt und nicht beachtet hat, dass eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemandem anzweifelbare Gewissheit nicht erforderlich ist; denn für eine Verurteilung genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 12. Juli 2017 - 1 StR 535/16; Urteil vom 12. Januar 2017 - 1 StR 360/16; Urteil vom 11. Mai 2017 - 4 StR 554/16; Urteil vom 21. November 2017 - 1 StR 261/17; s.a. Gerson, StraFo 2022, 2, 7; LR/Sander, StPO, 27. Aufl., § 261 Rn. 8). Dabei ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 27. September 2017 - 2 StR 146/17, NStZ-RR 2017, 383; Urteil vom 22. September 2016 - 2 StR 27/16; BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 - 4 StR 603/19, NStZ 2021, 116; Urteil vom 10. November 2021 - 5 StR 127/21). Zweifel, welche sich als bloße Vermutungen ohne gesicherte Tatsachengrundlagen erweisen, sind theoretischer Natur in diesem Sinn. Was völlig abseits liegt, darf und muss außer Betracht bleiben (KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 261 Rn. 12). Daraus folgt, dass nur solche Gründe, die zu vernünftigen Zweifeln in einer für den Schuldspruch relevanten Frage Anlass geben, einer Verurteilung entgegenstehen; nur dann ist „in dubio pro reo“ zu entscheiden.

2. Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass die Schwurgerichtskammer diese Voraussetzungen der richterlichen Überzeugungsbildung nicht berücksichtigt hat.

a) Die Anforderungen an eine Verurteilung dürfen nicht überspannt werden. Demgegenüber hat das Landgericht nur auf „die theoretische Möglichkeit“ verwiesen, dass eine unbekannte andere Person den tödlichen Stich ausgeführt haben könnte. Wie dies angesichts des festgestellten Geschehensablaufs einer Konfrontation des mit dem Tatmesser bewaffneten Angeklagten mit dem Geschädigten, der Vorgeschichte der gegenseitigen Streitereien, dem Verhalten des Angeklagten gegenüber der Polizei und dem Auffinden des Tatmessers in der Wohnung des Angeklagten mit seinen DNA-Spuren vorstellbar sein soll, erschließt sich nach den Urteilsgründen nicht.

b) Das Landgericht hat im Übrigen rechtsfehlerfrei ausgeschlossen, dass die Untermieter des Angeklagten als Täter in Betracht kommen. Für eine Täterschaft eines sonstigen Dritten fehlt jeder Anhaltspunkt. Danach bleiben nur auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten. Aus der Überlegung, dass auch andere Hausbewohner sich über Lärmbelästigungen des Geschädigten geärgert hatten und ein Tatmotiv gehabt haben könnten, folgt nichts anderes, denn sie geht über die festgestellte Konfrontation des Angeklagten mit dem Geschädigten, dessen Tatankündigung und das weitere Verhalten gegenüber der Polizei hinweg. Auch die Tatsache, dass frühere Schmierereien, Sachbeschädigungen und anonyme Drohschreiben, die sich gegen den Geschädigten gerichtet hatten, zu verzeichnen waren, rechtfertigt keine andere Entscheidung. Dies deutet schon nicht konkret auf die Verursachung jener Umstände durch einen Dritten hin; auch ergibt sich daraus kein belastbarer Anhalt für ein Tötungsmotiv.

III.

Die Sache muss daher von einer anderen Schwurgerichtskammer neu verhandelt werden. Mit der Aufhebung des Urteils erledigt sich zugleich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Entscheidung über Entschädigung des Angeklagten wegen erlittener Untersuchungshaft; dieses Rechtsmittel ist gegenstandslos geworden (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 2001 - 1 StR 185/01, NJW 2002, 1211, 1216; MüKo-StPO/Kunz, StrEG § 8 Rn. 71 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 430

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß